Predigt im Eröffnungsgottesdienst der EKD-Zukunftswerkstatt im Kongress Palais Stadthalle.

Martin Hein

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

»Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.« (1. Petrus 5,7) – ein besseres Leitwort als den Wochenspruch kann es für unsere Zukunftswerkstatt gar nicht geben, liebe Schwestern und Brüder. Das ist wie geschaffen für die nächsten Tage, in denen wir über den weiteren Weg unserer Kirche nachdenken.

Wir kennen sie ja, diese elenden Sorgen, und manchmal drohen auch wir – und nicht der ängstliche Melanchthon – in Gefahr zu geraten, »unverbesserliche Sorgen-Blutegel« zu werden: Geradezu gierig nehmen wir eine nach der anderen in uns auf. Das geht uns schon im persönlichen Leben so, aber es betrifft vielleicht noch mehr das Leben in unseren Kirchen. Was uns Sorgen macht, hat ganz konkrete Namen – und es sind nicht wenige, in der Tat: Mitgliederrückgang und damit verbundene finanzielle Einbußen, Bedeutungsverlust in einer pluralen Gesellschaft, die mit der Unterschiedlichkeit verschiedener Antworten lebt und leben will, damit einhergehender Traditionsabbruch und eine beängstigende Sprachlosigkeit in Sachen des Glaubens.

Ich breche hier ab, um nicht auch noch in eine »Sorgenlitanei« zu verfallen, in der wir inzwischen – wie es scheint – gut geübt sind – zumindest, wenn wir unter uns sind. Solch eine Sorgenlitanei hat ja die Tendenz, uns mutlos zu machen. Defizite benennen, das ist das eine. Darin lag noch nie das Problem unserer evangelischen Kirche. Wir neigen wahrlich nicht zum Kaschieren, wir analysieren meist sehr scharf. Aber wir spüren zugleich, dass uns das nicht herausbringt aus dem Teufelskreis, in dem wir gefangen sind.

In unübersichtlichen Zeiten haben die Vereinfacher besondere Konjunktur. Je komplexer die Lage, umso mehr wird uns dann suggeriert, es gäbe simple Lösungen. Gehört das Wort aus dem 1. Petrusbrief auch dazu? Gegen all die scheinbar naturgegebenen Abwärtstrends, gegen alle Szenarien vom sogenannten »worst case« heißt es ganz schlicht und einfach: Weg damit! Weg mit den Sorgen!

Geht das? Wir würden unser Leitwort gründlich missverstehen, als sollte damit die Wirklichkeit unserer Kirche schöngeredet oder schöngefärbt werden. Nein, Realitätssinn ist schon notwendig, wenn wir uns Gedanken um die Zukunft der Kirche machen. Aber wichtiger ist es, aus welcher Perspektive heraus wir die Wirklichkeit wahrnehmen: mit einer sorgenvollen Haltung, die vergangenen Zeiten nachtrauert, die angeblich besser waren, oder mit dem Blick des Glaubens, der mit der Gegenwart Gottes mitten unter uns rechnet.

Wir haben in den vergangenen Jahren oft von einem notwendigen Perspektivwechsel gesprochen. Die entscheidende Veränderung der Perspektive in der Kirche besteht für mich darin: nicht zuerst auf das zu schauen, was uns bedrückt und was unser Handeln lähmt, sondern den Blickwinkel bewusst wenden und zuerst auf Christus sehen, um mit den erleuchteten, klaren Augen des Glaubens neu die Wirklichkeit zu betrachten. So werden wir frei, so werden wir zur Kirche der Freiheit!

Die Sorgen loszuwerden, ist also eine Anfrage an unseren Glauben. Oder umgekehrt ausgedrückt – und zugleich handfester in Luthers Sprache: Dass die vielen Sorgen unsere Herzen regieren, ist nicht der großen Sache, sondern unseres großen Unglaubens Schuld. Und damit sind wir, meine ich, liebe Schwestern und Brüder, bei der eigentlichen Herausforderung, vor der wir heute und in der kommenden Zeit stehen: Wie gelingt es uns, zu glauben und darauf zu vertrauen, dass Christus zu seiner Kirche steht und dass er ihr eine gute Zukunft voller neuer und bahnbrechender Erfahrungen schenkt? Doch wohl zuerst dadurch, dass wir uns begeistern lassen von all den Geschichten, in denen Menschen vor uns erlebt haben, wie Gott seinen Zusagen einhält – auch gegen allen Augenschein. Die beiden Testamente der Bibel sind voll von solchen Begebenheiten – denken wir nur an die Verheißungen, die Gott seinem auserwählten Volk trotz dessen völliger Unscheinbarkeit und Bedeutungslosigkeit gab, und die er stets einlöste; denken wir besonders an sein machtvolles Handeln in der Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Gott setzt stets einen neuen Anfang, wo eigentlich überhauptnichts mehr zu erwarten ist. Luther hat Recht: Wenn Gott die Macht hat, Tote aufzuerwecken, hat er nicht dann umso mehr Macht, das Evangelium in dieser Welt zu erhalten und wirksam sein zu lassen!?

Worum es immer schon, aber jetzt in diesen Tagen in Kassel geht, das ist in erster Linie, mit dem eigenen Glauben ernst zu machen, der Treue Gottes Vertrauen zu schenken und sich überzeugen zu lassen, dass auch die Zukunft der Evangelischen Kirche eine heilvolle ist, ganz gleich, wo wir möglicherweise Einbußen erleiden oder ob wir kleiner werden. Aus der Perspektive des Glaubens an Gottes Macht wandeln sich die Besorgnisse. Sie verlieren die Kraft, die uns nach unten ziehen will. Sie beherrschen unser Denken und Planen nicht mehr. Und, liebe Schwestern und Brüder, es ist auch kein anstrengender, athletischer »Sorgenweitwurf« nötig. Warum die Sorgen weit wegwerfen wollen, wo Gott uns doch ganz nahe ist? Vielleicht müssen wir nicht noch einmal werfen. Es genügt, die Hände zu öffnen und einfach loszulassen. Er wird unsere Sorgen, seien sie angeblich noch so begründet, auffangen! Und wir spüren, wie sie ihr bleiernes Gewicht verlieren. Erleichtert, hoffnungsvoll, ja mutig und beschwingt schauen wir auf die Entscheidungen, die anstehen. Es macht auf einmal Freude, dabei zu sein!

Vor uns liegt eine spannende Zeit, nicht nur hier in Kassel. Ich bin mir ziemlich sicher: Menschen werden wieder vermehrt nach dem Grund und dem Ziel unseres Glauben fragen. Gemeinden gewinnen eine große Attraktivität, weil sie Orte bereithalten, in denen sich Menschen angstfrei und offen begegnen können. Wir suchen als Evangelische Kirche gemeinsam mit anderen nach Antworten auf die brennenden Fragen, denn wir sind nahe bei den Problemen, die unsere Gesellschaft bewegen. Viele Aufgaben warten auf uns, die wir nur entdecken müssen.

Auf all das können wir uns ohne Angst oder Sorge einstellen und vorbereiten. Also bitte kein Lamento mehr, liebe Schwestern und Brüder! Das wäre Kleinglaube, das wäre sogar Unglaube! Wir können die Herausforderungen angehen, weil wir wissen: Das Entscheidende müssen wir nicht tun. Das macht Gott schon. Er sorgt für uns. Auch für die Evangelische Kirche in Deutschland. Und damit an die Arbeit!