Die Versöhnungslitanei von Coventry

Predigt des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Martin Dutzmann, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum 75. Jahrestag der Bombardierung von Coventry

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…

Liebe Schwestern und Brüder,

„Father forgive. Vater, vergib.“ Richard Howard hätte auch andere Worte in die Chorwand der Kirchenruine von Coventry meißeln lassen können. 568 Menschen waren am 14. November 1940 in der mittelenglischen Stadt gestorben; die verletzten Männer, Frauen und Kinder hat wohl keiner gezählt.

Der Kirchenmann hätte Worte der Klage an die Wand schreiben können. Er hätte sie in der Bibel gefunden. Im Buch Hiob etwa oder in den Klageliedern Jeremias. Die beginnen so: „Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war! (…) Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Backen laufen.“

Der Dompropst hätte auch den Ruf nach Vergeltung aus Psalm 94 zitieren können: „Herr, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!“ Die vielen Toten und Verletzten waren ja nicht Opfer eines Unglücksfalls sondern eines Bombenangriffs. Deutsche Bomben hatten weite Teile der Stadt, darunter die mittelalterliche Kathedrale St. Michael, zerstört…

Doch als die Ruinen des Gotteshauses vom Schutt befreit waren, ließ Richard Howard in der erhalten gebliebenen Apsis nicht Worte der Klage und nicht Worte der Rache sondern Worte der Versöhnung anbringen. Er fand sie im Lukasevangelium. Im vorletzten Kapitel erzählt der Evangelist die Kreuzigung Jesu: „Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.’“ „Father forgive“ ist nun an der Stirnwand der Ruine der Kathedrale von Coventry zu lesen: „Vater, vergib.“

„Vater, vergib.“ steht da. Nicht: „Vater, vergib ihnen“ wie es im Evangelium heißt. Schon das wäre eine großartige Geste gewesen. Eine Geste im Sinne Jesu: „Vater, vergib ihnen. Vergib denen, die uns das angetan haben, Vergib den deutschen Kriegsgegnern, die unsere Stadt zerstörten und uns unsere Lieben nahmen. Vergib denen, die den tödlichen Befehl erteilten und vergib denen, die ihn ausführten.“ Aber der Dompropst lässt es bei den beiden Worten: „Vater, vergib.“ Das lässt den Blick weiter werden: „Vater, vergib. Vergib uns allen, was wir dir und anderen Menschen schuldig blieben und was wir ihnen antaten. Vergib uns allen unsere Schuld – gleich welchem Volk oder welcher Kriegspartei wir angehören mögen. Der Pfarrer macht ernst mit dem, was der Apostel Pauls in seinem Brief an die Römer schreibt: „Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ (Römer 3, 23). Staunend und dankbar denken wir heute – genau 75 Jahre nach dem verheerenden Luftangriff auf Coventry – an jene Geistes- und Glaubensgröße zurück, die mitten im Krieg Worte der Versöhnung fand und dabei die Augen vor eigener Schuld nicht verschloss…

„Vater, vergib.“ Im Jahr 1958, achtzehn Jahre nach dem schrecklichen Bombenangriff auf Coventry und der Zerstörung von St. Michael’s Cathedral geht ein Gebet um die Welt, das diese Bitte aufnimmt und konkretisiert: die Versöhnungslitanei von Coventry. Bereits in den Jahren zuvor hat die Versöhnungsarbeit an der Kathedrale größere Kreise gezogen: Menschen und Gemeinden sind mit dem Nagelkreuz, dem Symbol dieser Versöhnungsarbeit, beschenkt worden und zur Nagelkreuzgemeinschaft zusammengewachsen. Schon 1947, nur zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ist das erste Nagelkreuz in das Land des ehemaligen Feindes gelangt, in die St. Nicolai-Gemeinde zu Kiel. Und nun also, 1958, das Gebet…

„Vater, vergib.“ Sieben Mal wird diese Bitte in der Versöhnungslitanei von Coventry wiederholt. Sieben Mal, weil die Zahl sieben eine symbolische Zahl ist. Sie steht für eine unfassbar große Menge: Unfassbar groß ist die Schuld, die Menschen auf sich geladen haben und noch täglich auf sich laden. Unfassbar groß sind Leid und Unrecht, das von uns ausgeht und unter dem andere Menschen leiden. Unfassbar groß ist der Abstand zwischen uns und unserem Verhalten auf der einen und Gott und seinen Geboten auf der anderen Seite. Lassen Sie uns die Versöhnungslitanei jetzt miteinander so beten, dass Herr Pfarrer Germer liest, wofür wir Gott um Vergebung bitten und wir als Gemeinde jeweils die Wort „Vater, vergib.“ sprechen:

„Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib.

Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist: Vater, vergib.

Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet: Vater, vergib.

Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der anderen: Vater, vergib.

Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge: Vater, vergib.

Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern durch sexuellen Missbrauch: Vater, vergib.

Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott: Vater, vergib.

Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebe einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“
In dieser Weise, liebe Gemeinde, wird die Versöhnungslitanei von Coventry jeden Freitag zur Mittagszeit im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale und in vielen Nagelkreuzzentren auf der ganzen Welt – auch hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnislirche – gebetet. Die regelmäßige Wiederholung erlaubt es den Betenden, mal der einen und mal einer anderen Vergebungsbitte intensiver nachzusinnen…

Meine Gedanken sind heute besonders bei der ersten Bitte: „Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib.“ Wie hasserfüllt müssen Menschen sein, die andere Menschen vorsätzlich verletzen oder töten. Menschen, die ihnen nichts zuleide getan haben. Menschen, die sie nicht einmal kennen. Menschen, die nichts weiter wollten, als ein Konzert hören oder in einem Restaurant zu Abend essen. Die Terroranschläge von Paris werden das Leben vieler verändern. Das der Angehörigen der Toten und das der Verletzten zuerst. An sie denken wir und mit ihnen fühlen wir. Wir anderen, die wir nicht unmittelbar Opfer der Gewalt geworden sind, wir sollen uns nach dem Willen der Terroristen in unserer Stadt und in unserem Land nicht mehr sicher fühlen. Hoffen wir, dass dies den Mördern nicht gelingen wird. Und schließlich gebiert der Hass von Paris neuen Hass: Wer dem Islam skeptisch oder ablehnend gegenüber stand, wird sich darin bestätigt fühlen. Was mag das bedeuten angesichts der großen Zahl von Muslimen, die als Flüchtlinge bei uns Schutz suchen? Wir sind erschüttert und voller Sorge und beten: Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib.

Die dritte Bitte der Versöhnungslitanei ist kaum weniger aktuell als die erste: „Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet: Vater, vergib.“ Haben Sie noch die schrecklichen Bilder vor Augen, die das Fernsehen am 24. April 2013 ausstrahlte? Es waren Bilder einer eingestürzten Textilfabrik in Sabhar/Bangla Desh. 1127 Arbeiterinnen und Arbeiter kamen unter den Trümmern ums Leben und 2438 von ihnen wurden verletzt. Es war nicht für ihre Sicherheit gesorgt. Entsprechende Vorkehrungen, wie sie in deutschen Fabriken selbstverständlich sind, hätten Geld gekostet. Die Hosen und T-Shirts, die dort genäht und gefärbt werden und die wir hier zu Tiefstpreisen erwerben, wären ein paar Cent teurer geworden. Die Bilder der eingestürzten Textilfabrik stehen für ungezählte Fabriken, Steinbrüche und Plantagen in Entwicklungsländern. Menschen schuften dort unter Gefahr für Leib und Leben und für Hungerlöhne, damit wir billig Textilien und Kaffee, Schokolade, ja sogar Grabsteine, einkaufen können.

Bedrängend nah kommt uns in diesen Tagen und Wochen auch die fünfte Bitte: “Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge: Vater, vergib.“ Gewiss, es gab und gibt auch ermutigende Bilder: Bilder von Menschen, die am Münchner Hauptbahnhof ankommende Flüchtlinge freundlich empfangen und versorgen. Bilder von Ehrenamtlichen, die seit Wochen unter Aufbietung aller Kräfte die viele beschworene Willkommenskultur anschaulich und spürbar werden lassen. Bilder einer Bundeskanzlerin, die es im Interview strikt ablehnt, Flüchtlingen unfreundlich zu begegnen, nur damit weniger von ihnen nach Deutschland kommen. Aber leider stimmt auch das andere: dass wir nämlich jahrzehntelang die Not von Menschen in anderen Teilen der Welt ignorieren konnten und ignoriert haben. Als diese Menschen dann notgedrungen zu Flüchtlingen wurden, haben wir auch das lange nicht wissen wollen: Wir sahen und hörten zwar, dass viele von ihnen im Mittelmeer ertranken, aber das Mittelmeer war weit weg. Jetzt sind sie bei uns in Deutschland angekommen, die Schutzsuchenden, aber manches Gebäude, das ihnen den ersehnten Schutz bieten sollte, ist abgebrannt. Die Brandstifter sind gewiss Einzelpersonen. Sie dürften sich in ihrem kriminellen Tun aber dadurch bestärkt fühlen, dass Flüchtlinge in der öffentlichen Diskussion zunehmend weniger als Menschen in Not denn als abzuwehrende Katastrophe wahrgenommen werden…

Vater, vergib. Liebe Gemeinde, wir haben Grund zur Dankbarkeit. Zur Dankbarkeit dafür, dass Christen in Coventry, unmittelbar nachdem sie am 14. November 1940 angegriffen worden waren, Signale der Versöhnung aussandten. Dass sie nach dem Krieg die Versöhnungsarbeit fortsetzten, indem sie die Nagelkreuzgemeinschaft gründeten und der Welt die Versöhnungslitanei schenkten. Vor allem aber haben wir Grund zur Dankbarkeit gegen Gott. Er hört uns, wenn wir zu ihm rufen: Vater, vergib. Und er vergibt uns unsere unfassbar große Schuld um Jesu Christi willen.

Unsere Dankbarkeit wird sich nicht in Worten und Liedern erschöpfen. Wir werden Gott und den Geschwistern in Coventry danken, indem wir unsererseits Schritte auf dem Weg zur Versöhnung gehen. Es werden konkrete Schritte sein:

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, werden wir bekämpfen, indem wir öffentlich zu Versöhnung und Frieden aufrufen und unsere Kinder die Nächstenliebe lehren.

Der Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet, werden wir entgegentreten, indem wir für weltweite Gerechtigkeit eintreten und, wo immer es uns möglich ist, fair gehandelte Waren erwerben.

Der mangelnden Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge werden wir abzuhelfen versuchen, indem wir daran erinnern, dass, wer einen Flüchtling aufnimmt, es mit unserem Herrn Jesus Christus selbst zu tun bekommt.

Bei all unseren Bemühungen um Versöhnung werden wir die Quelle im Blick behalten, aus der wir täglich Kraft schöpfen können und sollen. Von ihr ist ganz am Ende der Versöhnungslitanei von Coventry die Rede, wo aus dem Brief an die Epheser zitiert wird: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebe einer dem anderen wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“

Und der Friede Gottes…