10 Thesen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Vorwort

Religion ist ein Großthema des 21. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass religiöse Fragen an Bedeutung verlieren und deshalb auch an der Schule unwichtig werden, hat sich als unzutreffend erwiesen. Der Gedanke, dass gesellschaftliche Modernisierung automatisch eine Säkularisierung der Gesellschaft und damit ein Verschwinden religiöser Fragen zur Folge habe, führt in die Irre. Religion ist und bleibt vielmehr eine wichtige Dimension menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dementsprechend wächst die Bedeutung des Religionsunterrichts an den Schulen.

Die öffentliche Schule ist ein Bildungsort für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher sozialer, kultureller, weltanschaulicher und religiöser Herkunft. Das bedeutet aber nicht, dass sie der geistigen Situation der Zeit indifferent gegenübersteht. Sie muss vielmehr die plurale Wirklichkeit anerkennen und die Schülerinnen und Schüler mit ihr in pädagogisch besonnener Weise vertraut machen. Mehr noch: In einer demokratischen Gesellschaft nimmt die Schule ihren Auftrag nur wahr, wenn sie Schülerinnen und Schüler befähigt, eine eigene Position zu finden, in der geistigen Auseinandersetzung weiterzuentwickeln und im Streit der Meinungen für sie einzutreten. Dem Religionsunterricht kommt hierbei eine besondere Aufgabe zu. Er ist ein unentbehrlicher Beitrag dazu, dass Schülerinnen und Schüler von ihrer Religionsfreiheit einen eigenständigen Gebrauch machen können. Unser Land braucht diesen Raum, der die Beheimatung in der je eigenen Überzeugungwelt stärkt und zum Dialog zwischen unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Positionen befähigt. Dafür sollte sich die Gesellschaft im Ganzen engagieren.

Die evangelische Kirche orientiert ihr Bildungsverständnis am Leitbild einer gottoffenen Humanität. Der Sinn für die unantastbare Würde des Menschen und der Sinn für die Wirklichkeit Gottes gehören in unserem Verständnis zusammen. Verwurzelung in einer geklärten religiösen Identität und Dialogkultur sind uns in gleicher Weise wichtig. Das prägt unser Engagement für den Religionsunterricht wie für das allgemeine pädagogische Klima. Ohne Zweifel ist der Religionsunterricht gegenwärtig besonders gefordert. Ich kenne kein Unterrichtsfach, an das vergleichbar hohe Erwartungen gestellt würden. Das gilt im Blick auf die Identifikation der Lehrenden mit dem Fach und seinen Inhalten, von der stets zu erneuernden Motivation der Schülerinnen und Schüler, das Fach aus freien Stücken zu bejahen, wie von der Bereitschaft der Eltern, den Besuch des Faches durch ihre Kinder zu unterstützen. Gemeinsam mit ihren Gliedkirchen unterstützt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nach Kräften die vielfältigen Bemühungen darum, den Ort des Religionsunterrichts in der Schule zu festigen und ihn in seiner Qualität zu fördern. Dem dient auch diese Veröffentlichung.

Die vorliegenden Thesen wurden von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend erarbeitet; dafür sage ich den Mitgliedern und Mitarbeitern der Kammer herzlichen Dank. Der Rat der EKD hat diese Thesen zustimmend aufgenommen und ihre Veröffentlichung beschlossen. Sie stehen in Kontinuität zu der Denkschrift der EKD "Identität und Verständigung. Grundlagen und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität" von 1994 und zu den Thesen der Synode der EKD "Religiöse Bildung in der Schule" von 1997. Seither hat sich zum einen die Schulentwicklung enorm beschleunigt. Zum anderen wird die Debatte über die Notwendigkeit schulischer Lebensorientierung und Wertevermittlung mit großer Intensität weitergeführt. In dieser Situation will die evangelische Kirche ihre Position knapp und übersichtlich markieren. Ich wünsche unseren Thesen bei allen, die sich in Staat und Kirche, Schule und Gemeinde mit Fragen des Religionsunterrichts und seiner weiteren Entwicklung auseinandersetzen, Verbreitung und Aufmerksamkeit.

Berlin/Hannover, im August 2006

Bischof Dr.Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland

Nächstes Kapitel