Der Gottesdienst

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche, Im Auftrag des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05910-5

Vorwort

Der Gottesdienst bildet für jede christliche Gemeinde das Kernstück ihrer Existenz. Für Menschen, die regelmäßig an ihm teilnehmen, gehört er zum tragenden Gerüst ihres Lebens. Aber auch für diejenigen, die nur unregelmäßig oder in größeren Abständen Gottesdienste mitfeiern, haben der verlässliche Gottesdienst und das Vertrauen in seine Qualität hohe Bedeutung. Nichts ist für eine Kirche belastender, als wenn über ihre Gottesdienste abschätzig geredet wird; und nichts weckt mehr Freude und Dankbarkeit, als wenn Gottesdienste eine ausstrahlende und aufbauende, eine beflügelnde und klärende Wirkung entfalten. Wenn Gottesdienste Glauben wecken und stärken, bekennen wir uns dankbar dazu, dass Gottes Geist in ihnen wirkt. Aber gerade deshalb wissen sich alle, die für die Gestaltung von Gottesdiensten verantwortlich sind, dazu verpflichtet, das ihnen Mögliche dazu beizutragen, dass Gottesdienste ansprechend und einladend gestaltet sind.

Für den Reformprozess in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) kommt dem Umgang mit dem Gottesdienst eine zentrale Bedeutung zu. Dass evangelische Gottesdienste oft nicht die Resonanz finden, die ihrer Bedeutung für das Leben der Gemeinde gemäß wäre, ist ein Befund, mit dem wir uns als Kirche nicht abfinden wollen. Ausdrücklich haben wir vielmehr schon im Impulspapier "Kirche der Freiheit" im Jahr 2006 das Ziel formuliert, die Gottesdienstbeteiligung zu stärken und auf diesem Weg ein gemeinsames Qualitätsbewusstsein im Blick auf den Gottesdienst zu entwickeln. Dafür wurden Liturgie und Kirchenmusik einerseits, die Kultur der Predigt andererseits als besonders wichtige Aufgabenfelder herausgehoben; Kompetenzzentren in Hildesheim und Wittenberg sollen der Beschäftigung mit diesen Aufgabenfeldern neue Impulse verleihen. In vielen Reforminitiativen wird auf die besonderen Möglichkeiten von Kasualgottesdiensten und anlassbezogenen Gottesdiensten geachtet. Aber bei allen Veränderungen im Lebensrhythmus vieler Menschen bleibt der verlässlich gefeierte Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen von großer Bedeutung.

In den Kirchen der Reformation wurde die zentrale Stellung des Gottesdienstes für das Leben der Kirche stets hervorgehoben. So heißt es programmatisch zu Beginn einer von Johannes Calvin im Jahr 1542 verfassten Gottesdienstordnung: "Es ist in der ganzen Christenheit erforderlich, ja, etwas vom Nötigsten, dass jeder Gläubige die Gemeinschaft der Kirche an seinem Ort beachtet und pflegt und die Versammlungen besucht, die am Sonntag und an den anderen Tage stattfinden, um Gott zu ehren und ihm zu dienen." Im Jahr 2009 haben wir den fünfhundertsten Jahrestag der Geburt des Genfer Reformators gefeiert. Im gleichen Jahr legt der Rat der EKD diese Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche vor. Mit diesem Text knüpfen wir an die Orientierungshilfen an, die in den vergangenen Jahren den beiden Sakramenten Taufe und Abendmahl gewidmet wurden. Die erfreuliche Resonanz auf diese beiden - 2003 und 2008 veröffentlichten - Texte hat den Rat der EKD dazu ermutigt, ihnen eine Orientierungshilfe zum evangelischen Verständnis des Gottesdienstes zur Seite zu stellen. In knapper, allgemein verständlicher Form verbindet sie eine Information über die Geschichte des christlichen Gottesdienstes mit theologischen Grundlinien seines evangelischen Verständnisses und seiner liturgischen Grundstruktur sowie mit praktischen Hinweisen zu seiner Gestaltung. Für Pfarrer und Pfarrerinnen, Prädikanten und Prädikantinnen, Lektoren und Lektorinnen, Kirchenmusiker und Kirchenmusikerinnen und alle anderen an der Vorbereitung und Gestaltung von Gottesdiensten unmittelbar Beteiligten soll dieser Text genauso eine Hilfe sein wie für Kirchenvorstände und Gesprächsgruppen sowie für Einzelne, die sich mit diesem Thema beschäftigen wollen.

Dass dieser Text vorgelegt werden kann, ist einer ad hoc-Kommission zu danken, die der Rat der EKD im März 2007 berufen hat; die Mitglieder dieser Kommission haben unterschiedliche Erfahrungen, Kompetenzen und Perspektiven in die gemeinsame Arbeit eingebracht. Der Rat der EKD hat sich das Ergebnis dieser Arbeit sehr gern zu eigen gemacht und dankt der Kommission und besonders ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Beintker für das hohe Engagement, mit dem sie ans Werk gegangen sind.

Die nun vorgelegte Orientierungshilfe zum Gottesdienst ist ähnlich aufgebaut wie die vorangehenden Texte zu Abendmahl und Taufe. In ihren gegenwartsbezogenen wie in ihren historischen Überlegungen, in ihren systematischen Klärungen wie in ihren praktischen Vorschlägen entfaltet sie die These, dass der Gottesdienst das Zentrum des kirchlichen Lebens bildet. Das gilt diesem Text zufolge nicht nur von Sakraments-, sondern ebenso auch von Wortgottesdiensten. Wörtlich heißt es dazu: "Nach evangelischem Verständnis ist jeder Gottesdienst, in dem das eine Evangelium, die Botschaft von Jesus Christus, verkündigt und gehört wird, ein Gottesdienst im Vollsinne des Wortes. In der Feier der Sakramente wird diese Botschaft nicht >vollständiger für alle Sinne< verkündigt. So hat der ohne Abendmahl gefeierte Gottesdienst grundsätzlich den gleichen theologischen Status wie der mit Abendmahl gefeierte."

Die "Praktischen Empfehlungen", in die der Text mündet, schließen Hinweise zu häufig vorkommenden Themen ein - zum Beispiel: "Kinder sind willkommen", "Und wenn wir nur Wenige sind?", "Und wenn uns der Kirchenmusiker oder die Kirchenmusikerin fehlt?", "Und wie oft muss ich da nun hingehen?" Die Orientierungshilfe schließt mit einer werbenden Einladung zum regelmäßigen Gottesdienst: "Gottesdienste, so sehr sie Höhepunkte des gelebten Glaubens sind und so >besonders< sie immer sein mögen, sind keine >Events< - keine Einzelveranstaltungen, die für sich stehen und ohne weiteren Zusammenhang ihre Wirkung entfalten. Damit Gottesdienste als Orte der Gottesbegegnung erfahren werden können und lebendig sind, brauchen sie die alltäglich gelebte Spiritualität der Glaubenden. [...] Wovon man täglich lebt, das soll man täglich feiern."

Diesem Plädoyer schließt sich der Rat der EKD deshalb gerne an, weil er der Überzeugung ist, dass der Gottesdienst im Zentrum einer "Kirche der Freiheit" steht, als die sich die evangelische Kirche versteht. Diese kirchliche Kernaufgabe ernst zu nehmen, bedeutet, das missionarische Handeln der Kirche von ihrem Mittelpunkt her zu verstehen. Dem dient auch die starke Betonung des Gottesdienstes im Rahmen der gegenwärtigen kirchlichen Reformbemühungen.

Der Wittenberger Reformator Martin Luther hat im Jahr 1544 bei der Einweihung des ersten reformatorischen Kirchbaus, der Torgauer Schlosskirche, den Gottesdienst zugleich als Dienst Gottes an den Menschen und als menschlichen Dienst an Gott charakterisiert. Mit dieser Orientierungshilfe bekräftigen wir die Überzeugung, dass Luthers Definition des Gottesdienstes auch heute noch zukunftsträchtig ist: "Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dieses neue Haus einsegnen und weihen unserem Herrn Jesus Christus, [...] auf dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang."

Berlin/Hannover, im August 2009

Bischof Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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