Wie ein Riss in einer hohen Mauer

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, EKD-Texte 100 (2., um den Anhang erweiterte Auflage), 2009

II. „So geh nun hin ...“

Wenn die Kirchen öffentlich reden, orientieren sie sich an der Heiligen Schrift. Wir orientieren uns in der gegenwärtigen Krise an einem Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja. Im 30. Kapitel vergleicht der Prophet die Missachtung von Gottes Gebot mit einem Riss in einer hoch aufragenden Mauer: Euch soll „diese Sünde sein wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt“. Das ist ein starkes Bild, auch heute noch. Die Verantwortungslosigkeit, die in die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hineingeführt hat, kann katastrophale Folgen haben – wie der Riss in einer hohen Mauer, der zunächst kaum sichtbar ist, aber immer weiter aufreißt und die Mauer zum Einsturz bringen wird. Aus der prophetischen Perspektive lässt sich das Verhängnis nicht mehr aufhalten. Noch suchen die Menschen nach Halt. Aber die Sicherheiten sind nur Schein, sie brechen ein. Der Prophet spricht aus, warum der Zusammenbruch unausweichlich ist:

„So geh nun hin und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, damit es an einem künftigen Tag Zeuge ist für alle Zeiten. Denn sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen auf die Weisung des Herrn, sondern sagen zu den Sehern: „Ihr sollt nicht sehen!“ und zu den Schauern: „Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist, schauet, was das Herz begehrt! Weicht ab vom Wege, geht aus der rechten Bahn! Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!“ Darum spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlasst euch auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf, so soll euch diese Sünde sein wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt. Denn so spricht der Herr; der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht ...“
(Jesaja 30, 8-15)

Diese Worte aus dem Jesajabuch sind eine Art biblisches Vermächtnis, ganz konzentriert auf einen Gedanken und ein Bild. Der Prophet lässt uns wissen: Es gibt ein „Zu spät“. Auch wenn wir deutlich machen wollen, dass es Wege aus der Krise gibt – diese Gefahr dürfen wir nicht verschweigen. Prophetische Worte erledigen sich nicht. Jesaja hat in seiner Zeit den Zusammenbruch angekündigt. Nachfolgenden Generationen aber wird die Ankündigung zur Warnung: „Wenn ihr dies Wort verwerft und verlasst euch auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf, so soll euch diese Sünde sein wie ein Riss ...“ Wer so die Gründe für die Katastrophe benennt, weist damit zugleich den Weg für die Rettung: Bleibt nicht auf dem falschen Weg! Euch ist gesagt, was gut ist! Beruft euch nicht auf Leute, die euch bloß nach dem Munde reden! Wer das prophetische Wort so hört, spürt seine Aktualität. Denn es gab, auch in der weltweiten Christenheit und hierzulande, seit langem Stimmen, die auf tiefgreifende Änderungen auf den Finanzmärkten und in der Wirtschaftspolitik drängten. Aber die angenehmen und beruhigenden Botschaften wurden vorgezogen. So sind wir Menschen. Es ist schwer, neue Wege zu wagen! Aber wer Verantwortung übernehmen will, muss die Warnungen ernst nehmen und mutig neue Schritte gehen. Wenn die Kirchen sich jetzt in die Politik einmischen, geht es nicht darum, Politik zu machen. Es geht darum, politisches Handeln zu ermöglichen. Auch wenn niemand angesichts einer solchen Krise im voraus übersehen kann, wie weit das eigene Denken und Handeln trägt, gilt es doch, nach bestem Wissen und Gewissen die notwendigen Entscheidungen zu treffen und das Menschen Mögliche zu tun, damit auch die nächsten Generationen Leben und Zukunft haben. Mehr ist von uns Menschen nicht verlangt, aber auch nicht weniger. Die Zukunft liegt in Gottes Hand. Darauf verlassen wir uns.

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