Pro und Contra Mindestlöhne - Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor

Eine Argumentationshilfe der Kammer der EKD für soziale Ordnung, EKD-Texte 102, 2009

Zur Ausweitung des Niedriglohnsektors

  1. In den letzten Jahren ist das System der tariflichen Lohnfestsetzung allerdings auch durch die Entwicklung eines mittlerweile verfestigten Sektors mit ausgeprägten Niedriglöhnen herausgefordert. Diese Löhne sind dadurch definiert, dass sie weniger als 2/3 des Medianlohns [2] (Medianlohn im Jahr 2005 = 1.779 Euro im Westen und 1.323 Euro im Osten) ausmachen; sie werden nach Vereinbarung der ILO als Niedriglöhne bezeichnet. Das Problem dieser Definition liegt auf der Hand: Wenn insgesamt alle Löhne wachsen, kann bereits ein leicht unterproportionales Wachstum der unteren Segmente zu erheblichen rechnerischen Ausweitungen des Niedriglohnsektor führen – obwohl sich dort die Verhältnisse verbessern. Es werden auch noch niedrigere Löhne, die selbst für einen Alleinstehenden bei Vollzeitbeschäftigung netto weniger Lohn ergeben als es dem Sozialgeldanspruch entspricht, gezahlt. Freilich gilt auch: Viele Niedriglöhne werden von Erwerbstätigen erzielt, die nur teilzeitbeschäftigt sind, und über weitere Einkommen, die sie selbst erzielen (z.B. Renten) oder die in ihrem Haushalt noch verdient werden (z.B. Einkommen von Eltern oder Ehepartnern) verfügen.

    In diesem Kontext ist nicht ohne Bedeutung, dass 70% der Betroffenen im Niedriglohnsektor Frauen sind. 30,5% der erwerbstätigen Frauen arbeiten zu Niedriglöhnen. Ohnehin verdienen Frauen in Deutschland im Schnitt 25% weniger pro Stunde als Männer. Sie arbeiten besonders häufig in der Dienstleistungsbranche, deren typische Frauenberufe zum Beispiel in Reinigung und Gastgewerbe traditionell unterdurchschnittlich bezahlt sind. Auch die Pflegebranche ist in diesem Sinne eine typische Frauenbranche – Pflegeberufe werden im Verhältnis zu technischen Berufen gesellschaftlich deutlich weniger wertgeschätzt. Darüberhinaus arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit (25% gegenüber 10% der Männer, dabei 21% in Minijobs gegenüber 5% der Männer), insbesondere, wenn ihre Partner Vollzeit arbeiten und Kinder zu versorgen sind. Aber auch die Arbeitgeber ermöglichen und fordern zum Teil Teilzeitbeschäftigungen – etwa um Vertretungen besser sicherstellen zu können. Auch bei vollzeitbeschäftigten Frauen liegt aber nach Berechnungen des Instituts für Arbeit und Beschäftigung der Niedriglohnanteil mit 22% etwa doppelt so hoch wie unter teilzeitbeschäftigten Männern. Von einer Teilzeitbeschäftigung in diesen typischen Frauenberufen lässt sich der eigene Lebensunterhalt vielleicht noch bestreiten. Diese Situation ist dann aber besonders problematisch, wenn – wie bei alleinerziehenden Müttern – über das Einkommen der Frauen Kinder mit versorgt werden müssen. In solchen Fällen greift in der Regel das Angebot, mit Transferleistungen aus dem SGB II (dem so genannten Hartz 4) „aufzustocken“:

    Freilich sind staatlich aufgebesserte Löhne nicht notwendig Niedriglöhne. Ein vollzeitbeschäftigter „Aufstocker“ verdient im Durchschnitt 10,40 Euro. Es finden sich sogar Bruttolöhne von bis zu 15 Euro, die auf Grund der Familiensituation aufgestockt werden müssen. Die Bedingungen sind im Einzelnen unterschiedlich. Eine exakte Zahl derjenigen Erwerbstätigen, die von dem von ihnen erwirtschafteten Lohn nicht in angemessener Teilhabe an der Gesellschaft leben können, ist nicht zu ermitteln. Es handelt sich jedoch um mindestens 1, 3 Millionen.

  2. Deutlich ist, dass die Tarifautonomie in einigen Bereichen nicht mehr in der Lage ist, auskömmliche Löhne zu garantieren: Obwohl es zu Tarifabschlüssen kommt, liegen manche Löhne in Größenordnungen, die staatlicherseits aufgebessert werden müssen, um ein menschenwürdiges Auskommen sicherzustellen. Die genaue Größenordnung dieses Bereichs ist umstritten. Die Situation ist zudem regional unterschiedlich: Der Osten Deutschlands ist nach wie vor deutlich stärker betroffen. Dort ist der Niedriglohnsektor etwa dreimal so groß wie im Westen. Nach Schätzungen des DIW erhielten 2006 210.000 Vollbeschäftigte Löhne unterhalb von 4,50 Euro/Std. Weniger als 7,50 Euro/Std. erhielten 1,4 Mio Arbeitnehmer oder 7% aller Vollzeitbeschäftigten und 540.000 Teilzeitbeschäftigte – und damit jede neunte Teilzeitkraft. Die Ausweitung von Zeitarbeit und Minijobs haben die Verbreitung von Niedriglöhnen besonders vorangetrieben. Unter den Minijobbern verdienten gar 42% weniger als 7,50 Euro.

    Allerdings: kaum ein Mini-Jobber lebt allein und muss von diesem Einkommen leben. Die meisten Mini-Jobber verfügen als Schüler, Studenten, Rentner und Ehepartner über weitere Einkommen in ihrem Haushalt. „Gefühlt“ hat diese Situation aber zum Teil gravierende Folgen. Da neben diesen Löhnen in den jeweiligen Haushalten oft noch weitere Einkünfte erzielt werden, bedeutet die Situation zwar keineswegs automatisch das eigene Abrutschen in Armut – es stellt sich gleichwohl der Eindruck ein, dass Menschen unter Wert beschäftigt werden und ihre Arbeit nicht die verdiente Anerkennung über einen angemessenen Lohn findet.

  3. Auch niedrige Löhne, die für sich gesehen nichts mit Einkommensarmut zu tun haben, können die Arbeitswelt deutlich verändern – zum Beispiel, weil die Zahl der Arbeitnehmer ansteigt, die sich nicht für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen (z. B. Schüler und Studenten, die geringere Probleme mit einer vergleichsweise niedrigen Entlohnung haben, weil sie angesichts ihrer guten Qualifizierung mittelfristig ein besseres Einkommen erwarten). Viele Niedriglöhner sind, da sie ihre Erwerbstätigkeit eher als „Zweitverdienst“ zum Familieneinkommen verstehen, auch nicht gewerkschaftlich organisiert, sie arbeiten in Branchen, in denen der Organisationsgrad gering ist, oder auch in Unternehmen, in denen gewerkschaftliches Engagement untersagt wird. Dennoch haben diese Veränderungen der Arbeitswelt nur zum Teil etwas mit Niedriglöhnen zu tun. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung, die gelegentlich von den Betroffenen – z.B. aus familiären Gründen – erwünscht ist. In Einzelfällen ist zudem der Eindruck entstanden, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf die Zahlung geringer Löhne verständigen, weil die Möglichkeit der Aufstockung gemäß SGB II besteht, die dazu dient, Löhne zu subventionieren, um von Armut Bedrohten Jobs zu verschaffen.


  1. Der Medianlohn stellt diejenige Lohnhöhe dar, die das gesamte Lohngefüge genau in der Mitte teilt: 50% der Löhne liegen unter und 50% oberhalb dieser Zahl.

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