Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel

Vorwort

„Und nähme ich Flügel der Morgenröte,
 und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.“
(Psalm 139, 9.10)

„Reisen ist heute die populärste Form von Glück.“ So formulierte der Schriftsteller Sigismund von Radecki bereits vor über einem halben Jahrhundert. Heute gilt erst recht, dass der Urlaub für viele Menschen in unserem und vergleichbaren Ländern die ‚schönste Zeit des Jahres’ ist. Eine Kirche, die den Menschen in ihrem Leben nahe sein will, kann diese besondere Zeit nicht außer Betracht lassen.

Schon immer gehört es zu den Aufgaben der Kirche, Menschen auf ihren Reisen zu begleiten. Doch das Reisen als eine vielen Menschen zugängliche Urlaubsgestaltung ist eine vergleichs-weise junge Erscheinung. Die angemessene Form des kirchlichen Handelns versteht sich des-halb nicht von selbst. Wenn heute nach ihr gesucht wird, geschieht das in einer missionarischen Situation. Deshalb ist auch der Urlaub als missionarische Gelegenheit zu begreifen. Dazu möchte das hier vorgelegte Konzept beitragen.

Die Tourismus-Forschung hat die Phänomene des Reisens und des Urlaubs in den vergange-nen Jahrzehnten auf unterschiedliche Weisen interpretiert. Die vorliegende Schrift bündelt die in den letzten fünfzig Jahren entstandenen Tourismus-Theorien so, dass eine Anwendung auf das kirchliche Handeln möglich wird. Sie würdigt zugleich die kreative kirchliche Arbeit, die an vielen Urlaubsorten im In- und Ausland mit großem Engagement geleistet wird. Es geht darum, die Bedeutung und den Chancenreichtum dieses Handlungsfeldes aufzuzeigen. Diese Schrift möchte dazu anregen, die in kirchlicher Urlauberarbeit enthaltenen Chancen zu nutzen und fruchtbar zu machen.

Exemplarisch lässt sich das an der Tourismus-Seelsorge in Hochburgen des Massentourismus an Spaniens Küsten oder auf Spaniens Inseln verdeutlichen. Gemäß dem Grundsatz, dass man sich die Extreme anschauen muss, um das Prinzipielle erkennen zu können, werden in den folgenden Überlegungen die massentouristischen Hochburgen als Beispiel  genutzt, um Grund-prinzipien und allgemeingültige Strukturen einer missionarischen Kirche in Urlaubergebieten zu beschreiben. Was auf den Balearen oder Kanaren, an der Costa del Sol oder der Costa Brava gilt, das gilt im Prinzip auch in Keitum auf Sylt oder im Bayerischen Wald, auf Rügen oder in den weit von Europa entfernten Ferienorten wie Bali, Phuket, Kapstadt oder der Karibik.

Urlaub ist der 'Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten Alltäglichkeit', oft aufgela-den mit (über-) großen Erwartungen und stimuliert, organisiert und normiert von einer ganzen ‚Urlaubsindustrie’. Diese hat das Wohlbefinden der Kunden im Blick, ganz sicher aber auch die eigenen Bilanzen. Kirchliches Handeln in diesem Kontext ist ein Angebot unter vielen auf dem Freizeit- bzw. Urlaubsmarkt. Selbst auf dem Markt 'religiöser Anbieter' ist die Kirche keineswegs der einzige Akteur, der Menschen im Urlaub anzusprechen versucht und sie für seine ‚Angebo-te’ interessieren möchte.

Die evangelische Kirche wird daher im Umfeld von Tourismusindustrie, Freizeitangeboten und Urlaubsevents nur dann eine relevante Stimme haben, wenn sie bei ihrem eigenen Auftrag bleibt, nämlich die Barmherzigkeit Gottes verkündigt. Der barmherzige Gott, der in Jesus Chris-tus begegnet und in Schöpfung und Erlösung erfahren wird, ruft den Menschen in eine Freiheit, die er sich niemals selbst kaufen, erarbeiten oder aber auch in Gestalt von Ferien gönnen kann. Die ‚holy days’ sind zwar einkaufbar als Holidays; die wirklich heiligen und darum heilenden Tage ereignen sich jedoch nur dann, wenn es zu einer Begegnung mit dem heiligen Gott kommt. Die Kirche erinnert so in der ‚schönsten Zeit des Jahres’ an die Verheißung des Glau-bens, dass Gott die Sehnsüchte des Menschen aufnimmt und korrigiert, bestätigt und vertieft.

Diese Sehnsucht anzusprechen und als religiöse, geistliche Sehnsucht auf Gott zu beziehen, ist die missionarische Möglichkeit des kirchlichen Handelns an den Urlaubsorten. Es gehört zum Auftrag der Kirche, Räume für Begegnungen mit Gottes Geist zu öffnen. Die tieferen Schichten des Menschen anzurühren und ihm so zu helfen, in diesen besonderen Zeiten nicht nur bei sich selbst anzukommen und Heimat in der eigenen Seele zu finden, sondern gerade dadurch auch innerlich vor Gott zu treten und ihn zu erfahren, ist Verpflichtung der Kirche am Urlaubsort. Aktiv zu sein an touristischen Orten, ist eine missionarische Chance der Kirche, die darauf abzielt, Menschen eine ebenso spezifische wie gute Erfahrung mit der Kirche zu ermöglichen, die bis in ihre kirchliche Heimatsituation hinein nachwirken kann.

Das interessierende, anlassbezogene kirchliche Angebot für Urlauber stellt eine andere Heraus-forderung dar als die Aufgabe, an einem auch massentouristisch interessanten Ort die dort dauerhaft lebenden Deutschen in einer Gemeinde zu beheimaten (Residenten-Gemeinde). A-ber es ist dringend zu wünschen, dass auch die Residentengemeinden – in ihrer eher parochial orientierten Struktur und ihrem entsprechenden Selbstverständnis – die Tourismus-Seelsorge als eine ihrer ureigensten Aufgaben und Chance ansehen lernen.

Eine formale, pfarramtliche oder gar gemeindliche Trennung zwischen Residenten- und Tou-rismusgemeinde ist nämlich keineswegs angemessen. Dies führt nicht nur unvermeidlich zu gegenseitigen Verwerfungen, sondern erschwert auch die Einheitlichkeit kirchlichen Handelns am Ort. Das in dieser Schrift vorgestellte Leitbild trägt dem Rechnung. Hier wird der Vorschlag gemacht, dass durch eine größere Beweglichkeit der parochialen Strukturen auch Urlauber er-reicht werden und dadurch die missionarische Ausstrahlung der Kirche insgesamt gestärkt wird. Es werden in dieser Schrift Überlegungen dazu angestellt, wie die Urlauber-Seelsorge in touris-tischen Zentren im Ausland Angebote entwickeln kann, die der Situation des Urlaubs gerecht werden. Der Titel „Fern der Heimat: Kirche“ weist darauf hin, dass grundlegende Einsichten über die verschiedenen Formen der Zugehörigkeit zur Kirche, wie sie in den Kirchenmitglied-schafts-Untersuchungen der Evangelischen Kirche in Deutschland gewonnen worden sind, auch bei den kirchlichen Angeboten in Urlaubsgebieten zu berücksichtigen sind. Der Weiter-entwicklung dieses wichtigen kirchlichen Handlungsfelds im Ausland wie im Inland soll diese Schrift dienen, der ich deshalb eine breite Resonanz wünsche.


Berlin/Hannover, im Advent 2005


Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

EKD-Text 82 (pdf)

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