Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel

X. Perspektiven

„Gemäß dem Grundsatz, dass man sich die Extreme anschauen muss, um das Prinzipielle erkennen zu können, werden in den folgenden Überlegungen die massentouristischen Hochburgen als pars pro toto genommen, um Grundprinzipien und allgemeingültige Strukturen einer missionarischen Kirche in Urlaubergebieten zu beschreiben.“ So heißt es im Vorwort des vorliegenden Konzeptes. Deswegen soll anhand von zwei exemplarischen Arbeitsfeldern die Übertragbarkeit der Einsichten auf andere kirchliche Arbeitsfelder skizziert werden: einmal im Blick auf die evangelische Stadtkirchenarbeit im Ausland und zum anderen im Blick auf die Tourismusarbeit in Urlaubsregionen Deutschlands. Trotz der gerade im letzten Bereich schon weit entwickelten Überlegungen und Gestaltungen in den Landeskirchen haben beide Felder noch erhebliches missionarisches Potential, so dass die Einsichten aus der kirchlichen Arbeit in massentouristischen Orten Anregungen beinhalten sowohl für die klassische, auf die großen Städte ferner Länder konzentrierte Auslandsarbeit der EKD wie auch für die Urlaubsregionen in Deutschland. Denn ähnlich wie in den Tourismushochburgen im Ausland und den Auslandsgemeinden in den Städten haben auch viele touristische Gebiete in Deutschland eine doppelte Last zu tragen: sie können einerseits nur eine ausgedünnte kirchliche Infrastruktur voraussetzen und müssen sich andererseits auf eine zumeist nur punktuell und kurzzeitig präsente Klientel einstellen.

Im Kern geht es hier um die Wahrnehmung einer faktisch sich vollziehenden neuen Pluralität des Gemeindebegriffes, die sich auch auf alle kirchlichen Bereiche erstreckt. Dabei sind alle neuen Formen von Gemeinde Variationen der Parochie, nur treten zunehmend die jeweils spezifischen Bedingungen ans Tageslicht, unter denen man Parochialgemeinde ist. Ob man nun die klassische Citykirchendiskussion im Blick hat mit ihren angebotsorientierten Strukturen oder die profilierte Stadtteilgemeinde, die als Jugend-, Gospel-, Charismatiker- oder Kulturkirche wirksam ist, immer geht es darum, die klassische Parochie in zwei Bereichen grundlegend zu modifizieren: einmal wird ihr Generalismus durch Profil ersetzt, und zum anderen wird ihre lokal orientierte Gemeindezusammensetzung durch „Netzwerke“ abgelöst. Ob man diese Veränderung nun wie Uta Pohl-Patalong mit dem Begriff der „kirchlichen Orte“ [80] zu kennzeichnen versucht oder von „Zentren gelingender Kirchlichkeit“ [81] spricht, immer geht es um die Flexibilisierung des Parochiebegriffs. Zwar wird die Parochie mit ihrer territorialen Orientierung die Grundform evangelischen Glaubens- und Kirchenlebens bleiben, aber unsere Kirche braucht zunehmend gelingende „kirchliche Orte“, die profiliert und ausstrahlungsstark sind und die je spezifischen Interessen und Möglichkeiten ihrer lokalen, generativen und konzeptionellen Situation wahrnehmen. Und exemplarisch bzw. gleichsam als „Vorreiter“ gewinnt dieses Modell einer situationsgerechten kirchlichen Arbeit heute nicht nur an den touristisch geprägten kirchlichen Orten Gestalt, sondern auch in der Auslandsarbeit der EKD insgesamt und in den touristisch besonders attraktiven Städten und Landstrichen bei uns.

Entsprechend entdeckten auf der diesjährigen Europäischen Auslandspfarrkonferenz der EKD viele der entsandten Pfarrerinnen und Pfarrer aus allen Teilen Europas, dass ein großer und wichtiger Teil ihrer Arbeit im Tourismus liegt. Bei den Touristen handelt es sich zum einen um Urlauber im klassischen Sinn oder um Reisegruppen, die die deutschen Kirchen im Ausland aufsuchen, aber auch um die vielen Menschen, die in diesen deutschen Auslandskirchen Kasualien erbitten. In Rom oder Bozen, Florenz oder Brüssel kann der Wunsch nach kirchlichen Amtshandlungen ebenso auftauchen wie auf Mallorca und Fuerteventura. Auch hier findet in einer besonderen Situation eine situative Begegnung mit Kirche statt, die für das „Image“ (siehe oben Kap. VI) entscheidende Bedeutung hat.

1. Citykirchenarbeit in den deutschen Auslandsgemeinden

Auf die Analogien zwischen der Citykirchenarbeit in Deutschland und der Tourismusarbeit im Ausland wurde bereits in Kap. III. hingewiesen. Weiterführend ist aber der Hinweis, dass zumeist in großen, auch touristisch interessanten Städten die Auslandsarbeit der EKD zunehmend auch Citykirchenarbeit wird. Denn der Städte-Tourismus in den europäischen Metropolen mit seinen Kurzreisen und mit einem an Kultur interessierten Publikum ist ein wachsender Markt. Viele Menschen besuchen auf Städtereisen die Sehenswürdigkeiten einer Stadt, zu denen in der Regel auch die zentralen deutschen Auslandskirchen gehören. Deshalb ist es wichtig für Gemeinden in diesen Städten, auch diese Form des Tourismus im Blick zu haben. Viele deutsche Kirchen im Ausland stellen sich darauf ein und öffnen ihre Türen für Menschen zum Innehalten, zur Besichtigung, zum Kraftschöpfen und Durchatmen. Welche Bedeutung die Kirche als Ort der Ruhe für Reisende haben, zeigen die Gästebücher, die oft ausliegen und in ihrer Offenheit Klagemauer und Gebetbuch zugleich sind.

Ein weiterer Gewinn für Gemeinden, die ihre Türen öffnen, ist an diversen Orten zu beobachten: Gemeinden, die sich öffnen, werden selbst lebendiger. Es lassen sich ganz neue und unterschiedliche Gruppen ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen, die die Kirchen offen halten oder auch Führungen gestalten. Auf diese Weise begegnen und bereichern sich Kontinuität und Kasus, dauerhafte und punktuelle Teilnahme. Eine neue begrüßenswerte Entwicklung ist dabei in der Kirchenpädagogik, durch die Kirchenführungen zunehmend spirituelle Impulse bieten. „Die Kirchen sind als Spurenhäuser der Geschichte eben auch seelische Erlebnis und Reifungsräume.“ [82] Nicht mehr kunsthistorische Führungen allein sind gefragt, sondern auch der „kleine Gottesdienst im Alltag“, der den Kirchenraum als Ort lebendigen Glaubens den Menschen nahe bringen möchte und so zu einer Gottesbegegnung einlädt. Kirchen sind „Fenster zum Himmel“ [83].

Aber die Kirchen im Ausland sind nicht nur Spurenhäuser der Geschichte, sondern sie schildern auch die Migrationsgeschichte der vergangenen Jahrhunderte. Sie erzählen, wie bereits lange vor unserer durch Mobilität gekennzeichneten Zeit sich Menschen an den verschiedensten Orten der Welt für längere oder kürzere Zeit niederließen. Ebenso brachten sie die im Ausland erworbenen Ideen, Kenntnisse und Fertigkeiten bei ihrer Rückkehr nach Deutschland mit und machten sie hier fruchtbar (das Wirken Theodor Fliedners gibt dafür ein eindrucksvolles Zeugnis). Hier zeigt sich, dass Kirche die Menschen auf ihren Reisen schon immer begleitet hat und die Wurzeln kirchlichen Handelns an Urlaubsorten weit zurück reichen. Zugleich vermitteln die Kirchen im Ausland als Spurenhäuser der Migrationsgeschichte ein Bewusstsein dafür, Teil der weltweiten Kirche zu sein.

Ein besonderes Problem ist es, mit einem kirchlichen Angebot Reisegruppen zu erreichen, die aufgrund eines vollen Tagesprogramms nur kurz verweilen oder die Kirche mitunter ganz außer acht lassen. Auch hier ist es wichtig, Angebote zu machen, die kurz und pointiert sind. Nur wenn in Kirchen etwas geboten wird, das sich außerhalb der Kirchenmauern nicht finden lässt, ist es für Reisegruppen und Individualreisende interessant. Deshalb sollte sich Kirche auch hier auf ihr Kerngeschäft besinnen und elementare geistliche Formen gestalten, die nicht die ganze Geschichte einer Kirche aufschlüsseln, sondern den Menschen einen Impuls bieten, der nachwirkt.

2. Urlaubsregionen in Deutschland

Kirchliches Handeln an Urlaubsorten in Deutschland liegt in der Verantwortung der Landeskirchen. Bereits jetzt findet an vielen größeren und kleineren Urlaubsorten, Campingplätzen usw. kirchliche Arbeit für Urlauber statt. Das vorliegende Konzept kann aber auch die ganz „normalen Parochialgemeinden“ in Urlaubsgebieten in Deutschland ermutigen und ermuntern, die im Tourismus liegenden Chancen zu nutzen. Denn es ist immer wieder auffallend, dass in vielen kirchlichen Regionen Deutschlands bei der Verteilung der Ressourcen dem Arbeitsfeld „Tourismus“ noch zu wenig Gewicht beigemessen wird. Nicht selten muss man beobachten, dass in touristischen Gebieten durch die geltenden Urlaubsregelungen das kirchliche Leben auf „Sparflamme“ läuft und sich so kaum Angebote für Touristen finden. Das in dem vorliegenden Konzept in Kap. III. geschilderte Spannungsverhältnis zwischen Touristen und Ortsgemeinde begegnet in Deutschland oft in der Spannung zwischen den Kräften einer Gemeinde, die Angebote für Touristen gestalten möchten, und jenen, die ihr Augenmerk allein auf die Betreuung der Ortsgemeinde richten. Hier wird es eine entscheidende Rolle spielen, dass auch von Seiten der Landeskirchen und der Kirchenkreise die Chancen und der doppelten Gewinn (siehe oben Kap. VI) kirchlicher Urlauberarbeit erkannt und realisiert werden. Es bedarf vielfältiger Ermutigung und professioneller Unterstützung, um Aktionen und Anstrengungen wie den „Dorfkirchensommer“ in Brandenburg oder besondere Musikveranstaltungen zu organisieren.

Manche Landeskirchen unterstützen schon heute kirchliche Urlauberarbeit, indem sie die Anzahl der Urlauber an einem Ort bei der Erstellung des Pfarrstellenschlüssels berücksichtigen. Auf diese Weise wird deutlich, dass ein Teil der Ressource „Zeit des Pfarrers/der Pfarrerin“ für Urlauberarbeit bestimmt ist und Ortsgemeinde und Touristen aufeinander bezogen sind. Aber vielleicht ist es mittelfristig doch wichtiger als das Festschreiben von Stellenprozenten, dass Gemeinden sich als gastfreundlich verstehen und die missionarische Chance einer „Kirche bei Gelegenheit“ als ihre ureigenste Aufgabe erkennen. Auch an Urlaubsorten in Deutschland ist es wichtig, dass auch die klassische Gemeindekirche profilierte Angebote in einem für sie manchmal noch ungewohnten Umfeld bereithält. Der in diesem Konzept geschilderte spirituelle und finanzielle Gewinn für die Gemeinden an Urlaubsorten trifft auch für Ortsgemeinden in Deutschland zu; und viele Orte z.B. an der Nordsee oder in den Alpen zeigen, dass sich dieser Gewinn auch tatsächlich erreichen lässt. Es ist daher letztlich eine gesamtkirchliche Zukunftsinvestition, wenn die Landeskirchen, die Kirchenkreise und Gemeinden in touristisch geprägten Regionen in eine qualifizierte Urlauberarbeit investieren und die „Kirche im Urlaub“ zu einem wichtigen zukünftigen Handlungsfeld der Kirche erklären.

Auch wenn sich diese Arbeit sicher nicht gleich in Kircheneintrittszahlen niederschlagen wird, so ist die situative, anlassbezogene und inhaltlich profilierte Begegnung mit Passanten, Touristen und Gelegenheitsgästen eine derjenigen Berührungspunkte, an denen die Kirche Kontakt aufnehmen kann zu der zunehmenden Zahl von Menschen, die gar keine Erfahrungen mehr mit Kirche haben. Oder anders gesagt: In Zeiten hoher Individualisierung und dem Fehlen selbstverständlicher religiöser Sozialisation kann die situative Tourismusarbeit ein wichtiger Anknüpfungspunkt werden.

EKD-Text 82 (pdf)

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