Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel

III. Gemeindearbeit an Urlaubsorten in der Spannung von Kontinuität und Kasus

In Gemeinden an Urlaubsorten begegnen sich Residenten [19] und Urlauber. Somit treffen Menschen, die sich für längere Zeit im Süden aufhalten und regelmäßig auf unterschiedliche Weise am Gemeindeleben teilhaben, mit solchen zusammen, die einmalig – geradezu kasuell – eine kirchliche Veranstaltung besuchen. Daraus entsteht eine Spannung zwischen Kontinuität und Kasus, die nun näher zu betrachten ist.

1. Die Residenten an Urlaubsorten

Das Lebensgefühl des Urlaubs mit Sonne, Strand und Lebenslust nicht nur während des Urlaubs für ein oder zwei Wochen im Jahr, sondern für längere Zeit – wenn nicht gar für immer – zu genießen, ist ein Wunsch Vieler, den sich immer mehr Menschen erfüllen und Hauptgrund, sich für längere Zeit im Süden niederzulassen.

Die genauen Zahlen der Menschen, die sich längere Zeit im Süden Europas aufhalten, sind schwierig zu ermitteln, weil viele Deutsche sich nicht in den Gastländern melden, sondern offiziell in Deutschland gemeldet bleiben. Auf Mallorca schätzt man rund 30.000 Residenten, an der Costa Blanca werden 150.000-300.000 (!) Deutsche geschätzt. Allein für den Süden Gran Canarias werden 10.000-15.000 Residenten angenommen, auf Teneriffa sind ca. 10.000 Deutsche als dort dauerhaft wohnend beim Konsulat registriert, die tatsächliche Zahl dürfte aber zwischen 20.000 und 50.000 Deutsche liegen. Auf Fuerteventura sind 1.200 Deutsche beim Konsulat gemeldet, das Konsulat geht aber von 6.000-7.500 Deutschen aus, die permanent auf der Insel leben, hinzu kommen einige tausend Überwinterer. In der Türkei werden allein für den Ort Alanya 8.000 deutsche Residenten angenommen. Insgesamt wurde im Jahr 2001 die Zahl der zwischen Algarve und Ägäis lebenden Deutschen auf eine Million geschätzt [20].

a) Die Gründe für einen längeren Aufenthalt in Südeuropa

Es gibt verschiedene Gründe für Menschen sich dauerhaft im Süden niederzulassen. Manche Menschen verbringen dort ihren Lebensabend. Diese Gruppe wächst, wie u.a. die steigende Anzahl an Seniorenresidenzen in Spanien zeigt. Für den Wunsch, seinen Ruhestand im Süden zu verbringen, spielen verschiedene Motive eine Rolle. Oft sind es gesundheitliche Ursachen: Das milde trockene Klima und die salzhaltige Luft lindern Gelenkerkrankungen oder Asthma. Manchmal sind es aber auch finanzielle Gründe, die den Umzug in den Süden attraktiv erscheinen lassen. Das Leben in den Ländern des Mittelmeerraumes galt bzw. gilt im Vergleich zu Deutschland als vergleichsweise günstig [21]. Es ist in den touristisch gut erschlossenen Orten und Inseln sehr gut möglich, als Deutscher im Ausland und zugleich in einem deutschen Umfeld zu leben: Die Einheimischen sprechen (zumindest ein wenig) deutsch, es sind deutsche Tageszeitungen erhältlich und das deutsche Fernsehen ist über Satellit problemlos zu empfangen. Es gibt deutsche Ärzte und Handwerker, manche Regionen verfügen sogar über Straßenschilder mit deutscher Aufschrift. Auf diese Weise ist man mit der Heimat eng verbunden, obwohl einen doch mehrere tausend Kilometer von ihr trennen. Bemerkenswert ist das hohe Maß an Mobilität und Beweglichkeit. In den Gemeinden im Süden herrscht oft ein reges Kommen und Gehen. Manche fahren „nur mal eben“ für zwei Wochen nach Deutschland zum Geburtstag der Tochter, andere für drei oder vier Monate zurück. Wichtig ist es auch, auf dem Rückweg in den Süden für sich und seine Freunde die Dinge mitzubringen, die dort nicht ohne weiteres erhältlich sind: Schwarzbrot, Quark, Marzipan und manches liebgewonnene Haushaltsprodukt.

Manche Menschen ziehen berufsbedingt in die Ferienregionen des Südens. Dabei handelt es sich meist um Menschen in Berufen, die direkt oder indirekt mit dem Tourismus bzw. den Residenten verbunden sind: Reiseleiter, Hotelbranche – Leitung, Rezeption, Animation –, Ärzte, Gastronomen, aber auch Handwerker und Angehörige anderer Berufe lassen sich dort nieder und werben mit deutschsprachigen Anzeigen gezielt bei deutschen Touristen und Residenten. Auf diese Weise entsteht in den Urlaubsregionen im Ausland eine Infrastruktur mit deutscher Prägung, in der es sich auch ohne Kenntnisse der Landessprache gut leben lässt.

Schließlich gibt es das Phänomen der Heiratsmigration. Oft folgen deutsche Frauen [22] ihrem Ehemann in dessen Heimatland. Anders als viele Residenten beherrschen sie die Landessprache fließend und sind durch ihre Familie fest in die Gesellschaft des Landes eingebunden.

b) Seelsorge unter Residenten

Neben den eben geschilderten „äußeren“ Gründen für einen längeren Aufenthalt, wie Ehe und Familie, Ruhestand oder Beruf gibt es auch „innere“ Ursachen, welche die Menschen zu einem längeren Aufenthalt im Süden veranlassen. Denn des öfteren spielen Probleme im persönlichen Umfeld eine wichtige Rolle bei der Entscheidung in den Süden zu ziehen. Diese sind weit gefächert: physische und psychische Krankheiten, Suchtprobleme (v.a. Alkohol), Scheidungen und Trennungen sowie berufliche Misserfolge. Recht häufig waren die geschilderten Erlebnisse mit ein Grund dafür, Deutschland und das persönliche Umfeld zu verlassen und im Süden einen Neustart zu wagen.

Viele Menschen erleben – Dank der Sonne, der üppigen Natur und dem malerischen Meer – ihre Nöte als weniger dramatisch und weniger existenziell. Ihre Hoffnung und erste Wahrnehmung sind, die Sorgen in Deutschland gelassen zu haben. Tatsächlich kann der durch den Ortswechsel entstandene Perspektivenwechsel zu einer neuen Sichtweise des eigenen Lebens führen. Doch die Probleme brechen auch im neuen Umfeld wieder auf. Sie sind bloß verdrängt oder von neuen Eindrücken überlagert, aber nicht gelöst.

Auch diejenigen Menschen, die aufgrund ihrer Heirat in den Süden gezogen sind, sind für seelsorgerliche Begleitung ebenso dankbar wie für die Möglichkeit, sich innerhalb der Gemeinde auszutauschen aber auch mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache zu beten. Die Heirat erfolgt in ein fremdes und ungewohntes Umfeld hinein: eine andere Sprache, eine andere Kultur, eine andere Religion oder Konfession, in eine andere Geschichte, ein anderes Verständnis von Familie. Auf all diesen Feldern kann es zu Konflikten kommen. In solchen Konfliktsituationen stehen die Betroffenen sehr oft allein, weil der einzige Anknüpfungspunkt, nämlich die Familie des Ehepartners, oft gerade der Konfliktpartner ist.

Sehr viele Berufstätige sind im Tourismus beschäftigt. Diese Berufe bringen in der Saison sehr hohe Wochenarbeitszeiten mit sich (durchaus bis zu 100 oder gar 120 Stunden pro Woche) mit den damit verknüpften Folgen wie Stress, Burn-Out-Syndrom, dem Gefühl der Überforderung. Es ist darüber hinaus nicht unüblich für Angestellte im Tourismus, dass sie Saison-Verträge erhalten und in den Zeiten, in denen keine Touristen da sind, arbeitslos sind – gepaart mit der Angst zu Beginn der neuen Saison nicht wieder eingestellt zu werden. So besteht auch bei manchen Berufstätigen durchaus ein gewisses Maß an berechtigten Existenzsorgen.

Festzustellen ist, dass der Seelsorgebedarf unter Residenten höher ist als es der erste Blick vermuten lässt. So verwundert es nicht, dass mancher Pfarrer im Süden sich ganz in dieser Aufgabe verliert. Deshalb ist es ratsam, ein informelles soziales Netz zu schaffen, das die Menschen in Krisenzeiten trägt. Andererseits sind Menschen aus den geschilderten Gruppen in einem hohen Maße krisenerprobt und haben schon manche Hürde erfolgreich gemeistert. Auf diese Weise verfügen die Gemeinden am Urlaubsort über einen großen Schatz an Lebenserfahrung, von dem Residenten und Urlauber profitieren. Dies gilt es fruchtbar zu machen.

2. Residentengemeinde und Urlauberarbeit: eine Verhältnisbestimmung

Alle Orte, die Touristen anziehen, sind auch Anziehungspunkte für Menschen, die sich dort länger aufhalten wollen. So existieren an vielen touristisch geprägten Orten christliche Gruppen deutscher Residenten, die ein Interesse an kirchlicher Begleitung haben. Die Verfasstheit ist von Ort zu Ort und von Insel zu Insel unterschiedlich. Mal ist eine Auslandsgemeinde deutscher Sprache entstanden (Mallorca, Las Palmas de Gran Canaria). Andere Residenten halten Kontakt zu einem Tourismuspfarrer und nehmen an den Gottesdiensten und Veranstaltungen teil, ohne Mitglied in einer verfassten Gemeinde zu sein. In den evangelischen Gemeinden sind es Menschen aus den in Kap. III. 1 beschriebenen Gruppen, die die Ortsgemeinde bilden und ihr Gesicht prägen. Die geschilderten Hintergründe bleiben nicht ohne vielfältige Rückwirkungen auf das Gemeindeleben. So mag das Bewusstsein der Residenten in einem deutsch-geprägten Umfeld zu leben und die (emotionale, wenn auch nicht geographische) Nähe zu Deutschland auch das Bild der Gemeinde prägen. Kirche bietet hier eine Heimat in der Fremde, mit den vertrauten Riten, mit den bekannten Liedern und Gebeten in der Muttersprache.

Daneben gibt es eine große – wenn auch jahreszeitlich bedingt schwankende – Zahl von Touristen, die an den kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen. In der Regel kommt es bei einem ein- bis zweiwöchigen Urlaub zu einem bis maximal zwei Kontakten. So kommt es v.a. im Gottesdienst und anderen Veranstaltungen zu einem Miteinander von Residenten und Urlaubern.

Das Verhältnis von Residenten und Urlaubern ist durch mehrere Problemebenen gekennzeichnet:

a) die soziopsychologische Ebene

Das Verhältnis von Residenten und Urlaubern ist nicht einfach zu bestimmen und von mancher Ambivalenz geprägt. So gibt es einen bemerkenswerten Interessengegensatz von Touristen und Residenten: Residenten haben nur ein begrenztes Interesse an den Touristen. Sie möchten sich abgrenzen gegenüber den Menschen aus dem Land, dem sie aus unterschiedlichen Gründen den Rücken gekehrt haben. „Nichts muss schlimmer sein für den Entdecker des Paradieses, als wenn dann in seinem Gefolge Horden von paradieshungrigen Massentouristen einfallen“ [23].

Dabei ist zu bedenken, dass die Residenten, die Deutschland den Rücken gekehrt haben, die deutsche Infrastruktur nutzen, zu der sie auch die deutschsprachige Gemeinde zählen. So lässt sich lediglich von einer partiellen Abgrenzung sprechen. Zugleich sind sich viele Residenten bewusst, dass sie in der Regel auch einst als Touristen kamen und dadurch ihren jetzigen Wohnort kennenlernen.

Bei den Touristen ist eine Gemengelage aus Neugier und Abwehr festzustellen. Einerseits sind viele Touristen vor allem an der Kultur und den Menschen des Gastgeberlandes interessiert und nicht an den dort lebenden Deutschen. Andererseits sind viele Touristen neugierig auf das Leben im Süden: „Wie ist das Leben ,unter Palmen’“, „wie lebt es sich im ,Paradies’“, „gibt es auch eine Kehrseite dieses Lebens“. Das sind Fragen, die in Gesprächen zwischen Touristen und Residenten häufig wiederkehren. Zugleich sind die Insider-Informationen der Residenten begehrt: „Wo lässt es sich ruhig baden“, „was ist sehenswert“, „mit welchem Bus komme ich nach..?“

So kann das Verhältnis zwischen Residenten und Touristen durchaus spannungsvoll sein, geprägt durch eine zumindest partielle Ablehnung. Andererseits gibt es auch Kohäsionskräfte und die Neugier, etwas über das Leben der anderen zu erfahren, die die Zusammenkünfte oft auch sehr lebendig und den Austausch fruchtbar werden lassen.

b) Identitätsbildung

Daneben ist zu beachten, dass eine Gruppe sich häufig treffender Menschen immer auch eine vielschichtige Identität bildet: So tragen ein regelmäßiger Zeitpunkt und Ort ebenso dazu bei, ein Gruppenbewusstsein zu bilden, wie das gemeinsame Erleben, das zu einer kollektiven Erinnerung wird. Auf diese Weise entsteht eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsamer gedanklicher Horizont, es wächst ein gemeinsames Soziotop. Das trifft auch auf Residenten zu, die sich regelmäßig und über längere Zeit hinweg innerhalb und auch außerhalb der Gemeinde treffen. Es ist offensichtlich, dass Identitätsbildung nach innen auch zur Abgrenzung nach außen tendiert.

Mit der Frage nach Identität verknüpft sich auch die Frage nach dem Selbstverständnis deutscher Gemeinden im Ausland. Es besteht bei den Residenten die Gewohnheit, im Rahmen der Volkskirche zu denken. Das „Gewicht des Gewohnten“ [24] ist von nicht zu überschätzender Bedeutung. Denn „der Mensch gewinnt seine Identität nicht nur dadurch, daß er in immer neuen Anläufen seine individuelle Biographie in eigener Zuständigkeit ,schreibt’, sondern auch dadurch, daß er sich Gegebenheiten zuordnet, die als solche relativ stabil sein müssen“ [25]. Der volkskirchliche Horizont zeigt sich auch in dem Wunsch, dass der Gottesdienst möglichst nah stattfinden soll, im „Pantoffelbereich“ [26]. Angesichts des bewegten Lebens mancher Residenten wird von der Kirche diese Stabilität eingefordert, indem bisweilen an sie volkskirchliche Ansprüche gestellt werden.

Die Gemeindesituation und -struktur entspricht dagegen eher einer Freikirche, was die Verstreutheit der Mitglieder ebenso betrifft wie das Angewiesensein auf das Engagement der Mitglieder.

c) Die liturgische Ebene

Eine praktische Konsequenz aus der Identitätsbildung erfolgt auf liturgischer Ebene. Ein grundsätzliche liturgische Differenz liegt darin, dass eine sich regelmäßig treffende Gemeinde Formen entwickeln kann, die Zeit brauchen, um sich „einzuschleifen“. Geschieht dies, sind die Touristen in solch einem Gottesdienst Fremde, weil es ihnen nicht auf Anhieb möglich ist, jeden Schritt mitzugehen. Ein anderes Problem liegt in der unterschiedlichen Erwartungshaltung von Touristen und Residenten: Die Residenten erwarten aus den geschilderten Gründen den Gottesdienst wie zu Hause, während Touristen aufgeschlossen sind und den Urlaub gern nutzen, Neues kennen zu lernen und auszuprobieren.

d) Die strukturelle Ebene

Diese Konfliktsituation hat in den gegenwärtigen Strukturen zwei Pole: An den Orten, an denen es verfasste Gemeinden gibt, liegt der Schwerpunkt der Arbeit sehr häufig bei den Residenten. In den Funktionspfarrämtern dagegen liegt der Schwerpunkt soweit bei den Touristen, dass Residenten zu der Ansicht gelangen könnten, dass dieser Pfarrer nicht für sie da sei [27]. An den Orten, an denen es eine verfasste Kirchengemeinden gibt, wird dieses Problem durch die Strukturen gestützt: In einem Kirchenvorstand sind keine Kurzzeittouristen, so dass ein Großteil der gemeindlichen Arbeit (die Urlauberarbeit) nicht im Kirchenvorstand repräsentiert werden kann. Dies ist bei allem denkbaren Engagement des Kirchenvorstandes für die Urlaubs-Seelsorge ein – im Rahmen einer verfassten Gemeindestruktur nicht ohne weiteres zu behebendes – strukturelles Ungleichgewicht.

Auf struktureller Ebene befindet sich auch das Problem der Ressourcenknappheit. Dabei spielt die Ressource „Zeit des Pfarrers“ eine wichtige Rolle. Es ist nahezu unwesentlich, wie groß die Zahl der Residenten und der Gemeindeglieder vor Ort ist. Aus den in Kap. III. 1. geschilderten Gründen ist immer genug Potential vorhanden, um die gesamte Arbeitskraft und Aufmerksamkeit des Pfarrers zu binden. Dies stellt den Pfarrer vor die Konfliktsituation, zwischen den Bedürfnissen der Ortsgemeinde (die diese mal lauter, mal leiser artikuliert) und denen der Urlauber wählen zu müssen (wobei die Urlauber ihre Wünsche nicht in gleicher Weise artikulieren können).

e) Die ekklesiologische Spannung

In Urlaubsgemeinden zeigt sich ein Phänomen, das in ähnlicher Weise aus den City-Kirchen [28] bekannt ist: eine relativ kleine Ortsgemeinde steht einer großen Anzahl anderer Menschen gegenüber, die punktuell am Gemeindeleben teilhaben. Die Frage nach dem Verhältnis von Ortsgemeinde und punktueller Teilhabe am kirchlichen Leben ist somit eine ekklesiologische Fragestellung, die nicht nur Urlaubsgemeinden betrifft, sondern Bedeutung hat für andere Gemeinden. Bereits terminologisch wirft diese Konstellation Fragen auf: Mit welchen Begriffen bezeichnen wir die Menschen, die nur punktuell am Gemeindeleben teilhaben? Sind es „Gäste“, oder „Besucher“, „Gemeindeglieder“, „Kirchenferne“, oder nur „Kirchenungewohnte“? In Deutschland ist ein Umdenken zu beobachten im Hinblick auf die Menschen, die ihre Kirchenzugehörigkeit punktuell an den Schwellen des Lebens wahrnehmen. Immer mehr werden die Chancen kirchlicher Arbeit auf diesem Feld gesehen: Zunehmend wird in den letzten Jahren distanzierte Kirchlichkeit [29] nicht mehr nur als ein „devianter, letztlich defizitärer Typ christlichen Lebens“ [30] betrachtet, dessen Maßstab die sog. Kerngemeinde ist, sondern als eigenes Segment und „eigenständige Gestalt von Kirchlichkeit“ [31]. Der bislang durch die Kerngemeinde geprägte Blick auf die punktuelle Wahrnehmung von Kirchlichkeit zeigt sich bis in die Sprache hinein. Denn der Begriff Gemeinde bzw. Kirche wurde und wird oft (auch unbewusst) mit der Kerngemeinde gleichgesetzt, was die Begriffe „Kirchendistanzierte“ oder „Kirchenferne“ (als Beschreibung für Kerngemeindeferne) zeigen.

Gemeinden, in denen Menschen regelmäßig am Gemeindeleben teilnehmen und solche, die nur punktuell oder gar einmalig am Gemeindeleben teilhaben, sind anders geprägt als viele Gemeinden in Deutschland. Solche Gemeinden „sind nur immer noch eine ungewohnte Erscheinung in einer Kirche, die in einer langen Tradition auf dem Parochialprinzip aufgebaut wurde“ [32]. Diese Gemeinden an Urlaubsorten sind beweglich und ortsgebunden, situativ und lebensumgreifend, zeitlich begrenzt und lebenslänglich [33]. Bei all dem ist zu beachten, dass es sich bei den geschilderten Gemeinden theologisch und ekklesiologisch um vollgültige Gemeinden handelt. Selbst Beschreibungen wie „Gemeinde auf Zeit“ oder „situative koinonia“ stehen – auch wenn sie nur das Besondere beschreiben wollen – in der Gefahr, diese Gemeinden als defizitäre Form von Gemeinde zu bezeichnen, da im Gegenzug nicht von „Gemeinden auf Dauer“ oder „permanenter koinonia“ gesprochen wird.

Die ekklesiologische Spannung folgt aus dem Auftrag der Kirche, nämlich „das Evangelium zur Welt zu bringen, zu den Menschen in der Nähe und in der Ferne, und das auf eine einladende Weise“ [34] sowie die evangeliumsgemäße Darreichung der Sakramente. „Denn nicht Gemeinschafts- und Gruppenpflege ist Aufgabe der Kirche, sondern Verkündigung des Evangeliums an alle und in allen Situationen,“ [35] Kirche ist damit immer auch missionarische Kirche, also eine Kirche, die ihre Türen öffnet und hinaus geht auf den Marktplatz. Bei der Verwirklichung des kirchlichen Auftrags lässt sich die Spannung von Kontinuität und Kasus ausmachen. „Der Auftrag der Kirche, das Evangelium von Jesus Christus als Heil der Welt zu bezeugen, macht es erforderlich, daß dieser Auftrag – soweit dies möglich ist – in kontinuierlicher Form wahrgenommen wird. [...] Als die gemeinsame öffentliche Feier und Bezeugung des Evangeliums ist dabei der Gottesdienst das Zentrum des regulären kirchlichen Lebens.“ [36] Daneben sind aber auch Formen notwendig, die zu bestimmten Anlässen und Situationen gehören, weil das menschliche Leben nicht kontinuierlich fortschreitet, sondern durch Phasen geprägt ist. „Dabei ist an Einschnitte zu denken, die alters-, geschlechts- oder berufsspezifisch sind oder durch besondere Lebensumstände hervorgebracht werden“ [37]. Zu diesen Einschnitten zählt – wie beschrieben – auch der Urlaub. Daraus lässt sich erkennen, dass die ekklesiologische Spannung von Kontinuität und Kasus durch den Auftrag der Kirche bedingt ist. Gemeinden an Urlaubsorten sind in besonderer Weise betroffen, dem Auftrag in Kontinuität und Kasus genüge zu tun, also das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

f) Analogien zwischen Urlaubsgemeinde und City-Kirche

In den vergangenen Kapiteln wurde bereits auf die Nähe von Urlaubsgemeinden zu City-Kirchen hingewiesen. Die auffälligste Nähe besteht in der grundsätzlichen Gemeindestruktur: es gibt eine kleine Ortsgemeinde und eine große Anzahl oft anonym bleibender Menschen, die nur punktuell und selektiv am Gemeindeleben teilnehmen. Auch in der Angebotsstruktur gibt es eine große Nähe zwischen City-Kirche und Urlaubergemeinde, denn Kerngemeindebetreuung und Angebotskirche treffen aufeinander. Hinzu kommt, dass die kirchlichen Veranstaltungen einen immer wechselnden Kreis an Teilnehmenden haben. Beiden Gemeindeformen ist gemeinsam, dass sie ein bewusstes Zeugnis in einem säkularen Umfeld sind. Sie geben den Menschen Gelegenheit zum Durchatmen, zum Innehalten, zum Zurück- und Nach-Vorn-Blicken. Urlaub und Kirchen sind „Orte des heilsamen Unterbrechens“ [38]. Beide Arten von Gemeinde brauchen phantasievollen Einsatz und abwechslungsreiche Ideen, um sich im Bewusstsein der Menschen zu verankern und Heiligkeitserfahrungen zu ermöglichen.

Gemeinsam ist beiden Gemeindeformen auch die soziale Dimension. Diese ist im städtischen Umfeld mit den Obdachlosen vor der Kirchentür besonders offensichtlich, aber auch in Urlaubsgemeinden gibt es am Rande des Urlaubsgeschehens viele Gestrandete.

In beiden Gemeindeformen ist die Gastfreundschaft ein zentrales Element des Gemeindeprofils. Menschen sollen sich auch bei einmaligen Kontakt willkommen fühlen und die Möglichkeit zu Gespräch und Kommunikation haben. Schließlich gibt es eine Nähe bei der Gestaltung der Gottesdienste oder besser: der verschiedenen Verkündigungsformen. Beide nutzen „Inszenierung, Crossover-Angebote, Eventcharakter“ [39] um Angebote jenseits des klassischen Gottesdienstes zu gestalten. Neben dem Sonntagsgottesdienst bieten viele City-Kirchen unter der Woche geistliche Impulse an, die Text und Musik als wesentliche Elemente enthalten: geistliche Impulse und Raum zum Nachdenken, der Stille lauschen und der Seele Raum geben. Diese ganz unterschiedlichen Formen geistlicher Impulse lassen sich an Urlaubsorten gestalten.

g) Fazit der Verhältnisbestimmung

Aus den Schilderungen ist zu entnehmen, dass Gemeinden am Urlaubsort einen ganz eigenen Charakter besitzen. Sie haben eine Nähe zur City-Kirche und lassen sich doch deutlich von ihr unterscheiden, nicht nur durch das andere Umfeld im Ausland. Es gibt die Anbindung an die Kasualien und doch sind im strengen Sinn Gottesdienste an Urlaubsorten keine Kasualien, trotz des biographischen Bezugs und einer gewissen phänomenologischen Nähe. Auffallend ist, dass Gemeinde am Urlaubsort offenbar zu einer Suche nach Analogien herausfordert, aber festgestellt werden muss, dass die Analogien Grenzen haben. Deshalb sind Gemeinden am Urlaubsort Gemeinden eigener Art. Sie nehmen möglicherweise etwas von dem vorweg, was den Gemeinden in Deutschland noch bevorsteht: Ein kleiner Gemeindekern (u.U. zunehmend verstreut lebend) mit einem volkskirchlich geprägten Betreuungsanspruch einerseits und punktuelle Wahrnehmung der Kirchenzugehörigkeit an den biographisch bedingten Schwellen des Lebens oder zu anderen Gelegenheiten, z.B. bei besonderen Gottesdiensten oder Festen andererseits. Gemeinden am Urlaubsort sind deshalb auch mit Blick auf Deutschland exemplarische Gemeinden. Deshalb wird Kap. IV ein Gemeindeverständnis vorgestellt, das in diesem spannungsreichen Feld tragfähig ist.

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