Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel

IV. Gastfreundschaft als Merkmal für Gemeinden an Urlaubsorten

Die Gemeinden in den Urlaubsregionen Südeuropas stehen in der Spannung von Kontinuität und Kasus, von Betreuungs- und Angebotskirche, von Volkskirche und freier Gemeindearbeit. Grundhaltung für alles kirchliche Handeln an Urlaubsorten ist deshalb die Gastfreundschaft, die ihren Ausgangsort in der Bibel besitzt.

1. Gastfreundschaft in der Bibel

Gastfreundschaft ist in der Bibel von grundlegender Bedeutung. Die Geschichten des Alten Testamentes preisen die Gastfreundschaft von Abraham, Lot, Rebekka, Hiob etc. In den Evangelien spielt die Gastfreundschaft (gr. philoxenia) eine ganz außerordentliche Rolle, u.a. Lukas zeigt dafür ein besonderes Interesse (Lk 7,36 Die Salbung durch die Sünderin; 10,38 Der barmherzige Samariter u.a.). Aber auch bei Matthäus gilt die Gastfreundschaft als Ausdruck des Glaubens der Menschen (Mt 25,42ff). Jesu selbst nahm vielfach Gastfreundschaft in Anspruch und in seinen Gleichnissen spielt Gastfreundschaft eine gewichtige Rolle (Lk 11,5 Der bittende Freund; 14,12 Auswahl der Gäste). In der Verkündigung Jesu findet sich ebenso wesentlich die Gastfreundschaft als eines der Grundbilder für Gottes sich den Menschen zuneigende Güte (Lk 13,19; 14,16). Ihren plastischsten und zugleich deutlichsten Ausdruck findet die Gastfreundschaft Jesu in der Mahlgemeinschaft. Was der Psalmist (Ps 23,5) in kühner Prophetie schaut, dass Gott selbst einen Tisch bereitet und das Haupt salbt, das erfüllt Jesus als demütiger Gastherr, der selber bei Tische dient (Lk 12,37; 22,27) und den Gästen eigenhändig die Füße wäscht (Joh 13,1ff). Gerade die Gastfreundschaft Jesu ist von großer Bedeutung: Jesus lädt die Menschen ein, aber er lässt auch wieder los. Die Menschen durchströmt nicht nur ein Sättigungsgefühl, sondern auch ein Glücksgefühl der gemeinsamen Feier in der Nähe und Wahrhaftigkeit Gottes.

Auch in den Briefen des Neuen Testamentes spielt Gastfreundschaft eine wichtige Rolle, wenn es bei Paulus heißt: Nehmt euch der Nöte der Heiligen an, übt Gastfreundschaft (Röm 12,13) oder im Hebräerbrief: Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt (Hebr 13,14 unter Anspielung auf Abraham, Gen 18,1-5 und Lot, Gen 19,1-3). Ohne Gastfreundschaft wäre die Ausbreitung des Evangeliums undenkbar gewesen, wie 3. Joh 5-8 und die frühchristliche Missionspraxis belegen.

2. Die Bedeutung der Gastfreundschaft

Es ist von grundlegender Bedeutung für alle Gemeinden im In- und Ausland, sich als gastfreundliche Gemeinden zu verstehen. Menschen, die nur punktuell teilnehmen, sollen sich selbstverständlich dazugehörig fühlen. Dabei kann das Bild einer Oase helfen, denn es ist plastischer und differenzierter als die Wendung „gastfreundliche Gemeinde“. Für die Gemeinde am Urlaubsort ist es wichtig, dass sie offen und gastfreundlich ist und sich als „Kirche für andere“ (Bonhoeffer [40]) versteht. Somit ist der zentrale Begriff der ekklesiologischen Identitätskonzeption einer solchen Gemeinde die Gastfreundschaft. Sie ist nicht nur ein Element des Gemeindelebens, sondern eine Grundhaltung, ein roter Faden, der jede Lebensäußerung einer Gemeinde durchwebt. Die Bedeutung der Gastfreundschaft bringt der griechische Begriff „philoxenia“ zum Ausdruck, wörtlich übersetzt: Liebe zu Fremden. Gastfreundschaft bedeutet, dass Fremde willkommen geheißen werden. Eine gastfreundliche Gemeinde öffnet nicht nur ihre Türen, sondern öffnet sich selbst für ihre Gäste. Die Frage, unter der alle Formen von Zusammenkünften betrachtet werden müssen, lautet, ob Gäste und Menschen an der Schwelle – Zweifler oder Passanten – die Möglichkeit der Teilnahme erhalten.

3. Gastfreundschaft als Beziehungsgeschehen

Bei der Gastfreundschaft handelt es sich um ein Beziehungsgeflecht, denn es gibt drei Formen der Gastfreundschaft [41]: Fremde sind zu Gast, die Gemeindeglieder sind beieinander zu Gast und Menschen sind bei Gott zu Gast. Gastfreundschaft hat nicht nur eine Außenseite, sondern bleibt auch für die Menschen in der Gemeinde nicht ohne Folgen. Gastfreundschaft beieinander entsteht, wenn spürbar wird, willkommen zu sein mit allen Freuden und Nöten, die einen bewegen. Dabei verändert sich das Verhältnis zueinander stetig. Gastgeber und Gast wechseln, man wird Gast im Leben des Anderen, man ist Gast beieinander. Die Gemeindeglieder vor Ort wissen es aus eigener persönlicher Erfahrung, was es bedeutet, Gast zu sein. „Vielleicht kann nur jemand Gastfreundschaft bieten, der aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, wenn man keine eigene Wohnung hat.“ [42] Zugleich weiß sich eine christliche Gemeinde immer auch als Gast am Tisch des Herrn. Auch hier wird auch die missionarische Dimension dieses Leitbildes deutlich. Gemeinsam am Tisch des Herren zu sein, zeigt nicht nur die Begegnung der Menschen miteinander, sondern vor allem die Gottesbegegnung auf. Erkennbar ist, dass Gastfreundschaft ein komplexes Kommunikations- und Beziehungsgeschehen ist, dessen Mitte die Gottesbegegnung ist.

4. Die missionarische Chance

Die Gemeinde ist nicht nur organisatorische Trägerin, sondern von grundlegender Bedeutung für das missionarische Handeln der Kirche. Glaube vermittelt sich durch Verkündigung des Wortes, aber auch im Anteil nehmenden Gespräch und durch eine „glaubwürdige Daseinsform/Gemeinschaftsform“ [43]. „Die wichtigste Form missionarischen Handelns ist die Präsenz und das Glaubenszeugnis von Christen in ihren alltäglichen Lebensbezügen.“ [44] Mission ist: zu erzählen, was man liebt (F. Steffensky). R. Zerfaß hat darauf hingewiesen, dass das Aufblühen der frühchristlichen Gemeinden vor allem in ihrer Gastfreundschaft begründet war. Denn wo es echte Begegnungen gibt, gibt es auch Veränderungen. Die Gemeinde am Urlaubsort bietet aufgrund ihrer spezifischen Situation in dieser Hinsicht besondere Chancen: Denn viele Menschen nutzen den Urlaub, um wieder der Kirche eine Chance zu geben, eine Art Schnupper-Erlebnis zu machen und auf diese Art wieder Kontakt mit der Kirche aufzunehmen. Dabei ist es für Kirchenungewohnte wichtig zu merken, dass sie nicht die einzigen sind, die den Kontakt zur Kirche neu suchen. Sie sind eben keine Außenseiter, die in eine bestehende Gemeindegruppe neu hinzukommen (und gar stören), sondern sie sind als Kirchenungeübte willkommen.

Darüber hinaus kann an Urlaubsorten die Kirche als situative Koinonia und gastfreundliche Gemeinde erfahren werden, denn die punktuelle Begegnung eröffnet die besondere Nähe des Gesprächs zwischen Kirchengewohnten und -ungewohnten.

Zugleich sind die Urlaubs-Gemeinden im Idealfall hervorragende Gastgeber, wo die Menschen „miteinander kommunizieren, im doppelten Sinn des Wortes: miteinander sprechen, beten, sich Frieden wünschen und auch ein gemeinsames Mahl einnehmen“ [45] und es zu einer Begegnung mit Gott kommt als Ziel allen missionarischen Handelns.

Es ist die Hoffnung und der Wunsch der EKD, dass die Gemeinden an Urlaubsorten – aufgrund ihrer besonderen Chancen – diesem Auftrag zur Mission in besonderer Weise nachkommen.

5. Die Gemeinde als Oase – ein Vorschlag für ein missionarisches Leitbild

Eine Leitbilddebatte gibt es seit etlichen Jahren in vielen Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen. In dieser Debatte geht es um das Bild, auf das die Gemeinden hinsteuern möchten, oft unter der Bedingung knapper werdender finanzieller Mittel. Leitende Bilder beschreiben nicht nur einen Blick in die Zukunft, sondern sie prägen. Leitbilder sind damit mehr als „Ziele“, sie sind „evangeliumsgemäße Steuerungsinstanz“ [46]. Bilder sind wie Symbole sowohl offen als auch konkret, haben aber auch Grenzen. Sie ermöglichen Spiel-Raum, fordern aber zugleich, diesen Raum auch mit Leben zu füllen.

Es gibt mittlerweile verschiedene Leitbilder, welche die Gastfreundschaft symbolisieren: die Karawanserei [47], die Herberge [48] oder das Gasthaus. Allen Leitbildern gemeinsam ist die Dimension der Gastfreundschaft sowie die Offenheit für Menschen, die einkehren, um zu rasten und anschließend ihre Reise fortzusetzen.

In besonderer Weise fruchtbar machen lässt sich das Bild der Gemeinde als Oase. Denn gegenüber den anderen genannten Bildern hat das Bild der Oase mehrere Stärken: Es betont das Miteinanderleben und -reden der Menschen vor Ort und den Reisenden, wobei die Reisenden in der Mitte des Ortes – als Zentrum des Lebens – ihren Platz finden. Auch enthalten der kommunikative Aspekt des Erzählens wie die Stärkung der Reisenden einen missionarischen Aspekt, denn eine derartige intensive Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Die Buntheit und Lebendigkeit des Miteinanders der Oase entspricht eher der Situation der Gemeinden in Südeuropa als die anderen genannten Bilder. Es entspricht dem Rhythmus der Zeiten, in denen die Ortsgemeinde unter sich ist und in denen Urlauber das Leben der Gemeinde prägen.

Aus dem Leitbild der Oase lässt sich vieles gewinnen für eine Gemeinde in einem Urlaubsort, die aus Residenten und Urlaubern besteht, in der Kontinuität und Kasus zusammentreffen.

  • Eine Oase liegt an den Wegen der Menschen, ist offen und gastfreundlich.
  • Oase besteht aus Menschen, die vor Ort leben und aus Menschen, die dort rasten.
  • Eine Oase stärkt die Menschen, die einkehren, sie nährt die Hungrigen, gibt den Müden Ruhestätte und tränkt die Durstigen.
  • Oase und Karawane bedürfen einander zum Leben. Ohne die Menschen, die regelmäßig durch den Ort ziehen und Rast machen oder Handel treiben, würde die Oase veröden und schließlich eingehen. Zugleich bringen die Menschen, die in einer Oase rasten, Neues und Neuigkeiten mit. Sie bringen Waren, ohne die das Leben kärglich wäre.
  • Eine Oase hat keine Schwellen. Sie ist offen für die unterschiedlichen Menschen, die aus den verschiedenen Himmelsrichtungen kommen.
  • Der Ort, an dem Karawanen rasten, ist der Dorfplatz, also im Zentrum, nicht am Rand.
  • In einer Oase herrscht Vielfalt in Blick auf die Menschen und auf das, was sie innerlich und äußerlich bewegt.
  • In einer Oase sitzen Gäste und Bewohner zusammen und erzählen. Sie tauschen ihre Erfahrungen aus und ihre Meinungen, sie erzählen von dem, was sie lieben und sie streiten und diskutieren miteinander. Eine Oase bietet die Möglichkeit der Beratung, ebenso wie Geselligkeit, Ruhe oder Entspannung.
  • In einer Oase sitzen die, die am meisten frieren, am dichtesten beim Feuer.
  • In einer Oase wird nicht versucht, Menschen festzuhalten, sondern es wird alles dafür getan, damit sie ihren eigenen Weg gestärkt und mit Freude gehen können.

Möglicherweise kann die Schilderung dieses Leitbildes mit seinen verschiedenen Facetten helfen, die Gastfreundschaft plastisch werden zu lassen. Dabei bleibt festzuhalten, dass das Bild einer Gemeinde als Oase wie alle Bilder Grenzen hat. So reibt sich das Bild der Gemeinde als Oase mit dem biblischen Bild der Kirche als wanderndem Gottesvolk, einer theologischen Dimension, die weder vergessen noch gegen die Notwendigkeit der Gastfreundschaft ausgespielt werden darf. Auch ist die für unseren Kulturkreis ungewohnte Bildebene durchaus fremd und könnte so die Plausibilität dieses Bildes erschweren. Diese Grenzen gilt es sich ebenso bewusst zu machen wie seine geschilderten Stärken, um das Leitbild einer Gemeinde als Oase in sinnvoller Weise fruchtbar zu machen.

EKD-Text 82 (pdf)

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