Wandeln und gestalten

Einführung

Kirche auf dem Land und Mission - mit jedem der beiden Begriffe verbinden sich sehr unterschiedliche Erfahrungen, Vorstellungen und Meinungen. Umso mehr erweist sich das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander als äußerst vielschichtig und wird entsprechend kontrovers beurteilt.

Das Land steht in kirchlicher Hinsicht nach verbreiteter Anschauung für den Bereich traditioneller, gefestigter, konservativ geprägter Kirchlichkeit. Im Gegensatz zur Stadt als Inbegriff einer modernen, säkularen Lebensweise gilt das Leben auf dem Land - kirchlich gesehen - oft noch als wohl geordnet, weil kirchlich orientiert: Das Land ist kirchlich, die Stadt säkular. In der Redewendung „die Kirche im Dorf lassen“, in der die Vielfalt ländlicher Räume verkürzend als „Dorf“ bezeichnet wird, kommt diese Auffassung zum Ausdruck. Was die „Kirche im Dorf“ dabei ausmacht, bleibt allerdings häufig offen: das Kirchengebäude als architektonisches Zentrum, die kirchlich geprägte kulturelle Identität des Dorfes oder die vereinsmäßige Kerngemeinde als eine Art dörflicher Dachverband. Ebenso offen bleibt, inwieweit diese Sicht der vielfältigen und sich verändernden Wirklichkeit gelebter Kirchlichkeit in Stadt und Land entspricht.

Mit Land verknüpft sich (besonders in Ost und Mitteldeutschland) aber auch die Erfahrung bzw. Vorstellung von Landflucht, Überalterung und infrastruktureller Ausdünnung. Die Kirche stellt oft die letzte öffentliche Institution am Ort oder in dem ländlichen Raum dar. Als „Trutzburg gegen den Trend“ wird versucht, das gemeindliche Leben in tradierter Form aufrecht zu erhalten und den Gottesdienst mit schrumpfender Besucherzahl und wenigen, vor allem älteren Gemeindegliedern fortzuführen. In diesem Erfahrungskontext stellt sich die Frage, welche Aufgaben und Möglichkeiten kirchliche Arbeit in ländlichen Räumen hat. Wie kann Kirche den Menschen nahe sein und bleiben, ohne sich selbst und vor allem ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei rückläufigen Ressourcen dauerhaft strukturell zu überfordern?

Zum Land gehören schließlich auch Vorstellungen von Landwirtschaft, Natur und heimatlicher Verbundenheit. Unabhängig vom Wandel der Agrarwirtschaft, vom tatsächlichen Umfang natürlicher Lebensräume und vom Phänomen zunehmender Mobilität herrschen diese Assoziationen vor. Mit der „Kirche auf dem Land“ verbinden sich so theologische Themen wie Schöpfung, Erntedank, Beheimatung. Das Land fungiert als lebensweltlicher Erfahrungsraum für verschiedene Aspekte von Religion, Glaube und Kirche, sei es auf Dauer oder auf Zeit. Viele Menschen, die sich in der Kirche engagieren, haben hier ihre geistige Heimat. In der Tat gibt es auf dem Land einen Reichtum an Orten gelebten Glaubens: vor allem (Dorf)Kirchen, aber auch kirchliche Tagungs und Erholungsstätten, diakonische Einrichtungen, Kommunitäten und Klöster. Viele ländliche Räume haben aus historischen Gründen eine besondere religiöse Prägung und kirchliche Traditionen, die für die kulturelle Identität dieser Gegend eine zentrale und bleibende Bedeutung hat. Kirche, Religion und Glauben sind selbst ein wichtiger Faktor für die Verbundenheit von Menschen mit einem ländlichen Raum und werden ihrerseits durch die Erfahrung des ländlichen Lebensraumes mit geprägt.

Die genannten Vorstellungen und Erfahrungen von „Kirche auf dem Land“ ließen sich leicht weiter vermehren und entfalten. In dieser Vielfalt der Vorstellungen drückt sich die starke Verschiedenheit der ländlichen Räume und der entsprechenden kirchlichen Situationen aus: In Ost und West, in Nord und Süd, in der Nähe von Ballungszentren und in der Peripherie, in wirtschaftlich bzw. demographisch wachsenden und schrumpfenden Gegenden, in Regionen mit konfessioneller Minderheit und Mehrheit.

Wenn Mission im Folgenden als Leitbegriff gebraucht wird, so geschieht dies im Einklang mit der positiven Neuaufnahme, die ein missionarisches Leitbild von Kirche in vielen Landessynoden und in der EKDSynode gefunden hat. Mit Mission wird danach ein unaufgebbares Kernelement christlichen Glaubens bezeichnet. Es geht um das ansprechende und einladende „Reden von Gott in der Welt“, um das Ausrichten der befreienden Botschaft von der Liebe Gottes an alle Menschen. Mission in diesem Sinne bildet eine Grunddimension und -intention allen kirchlichen Redens und Handelns, gleichsam den „Atem“ und „Herzschlag der Kirche“. Mission wird hier verstanden als ein aus innerster Überzeugung stammendes Zeugnisgeben vom Evangelium, das als Christusgeschehen „mit uns über uns hinaus“ will. Mission bezeichnet so die Ausrichtung allen kirchlichen Redens und Handelns „nach außen“, die grundlegende Aufgabe, Kirche für andere, für die Welt zu sein. Sie gehört - recht verstanden - zum unaufgebbaren Auftrag der Kirche, ohne den Kirche aufhört, Kirche in der Nachfolge Jesu Christi zu sein (Mt 28,1820; Joh 17,18; 20,21).

Die vorliegende Schrift versucht der Frage nachzugehen, wie die Kirche heute diesem Missionsauftrag in ländlichen Räumen gerecht werden kann. Welches sind die missionarischen Zukunftsaufgaben und -chancen von „Kirche auf dem Lande“ angesichts der schnellen und tiefgreifenden Veränderungen in verschiedenen ländlichen Räumen? Wie kann eine kirchliche Arbeit aussehen, die sich - bei rückläufigen Finanzen und Ressourcen - nicht selbstgenügsam auf eine bloße Bestandswahrung zurückzieht, sondern bewusst wachsen will? Eine Antwort auf diese Fragen muss der Verschiedenheit ländlicher Räume in Deutschland ebenso gerecht werden wie den unterschiedlichen Konzeptionen von Mission in den evangelischen Landeskirchen. Daher wird im Folgenden bewusst von ländlichen Räumen und missionarischen Zukunftsaufgaben und -chancen im Plural gesprochen.

Ihren Ausgang nimmt die vorliegende Schrift bei der ermutigenden Erinnerung daran, in wessen Auftrag, Kraft und Vollmacht die Kirche sich diesen Aufgaben stellt: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7) Der Geist Gottes wird hier als die Größe beschrieben, welche die furchtsame Selbstfixiertheit der Gemeinschaft der Glaubenden überwindet und dazu verhilft, den kirchlichen Auftrag umzusetzen. Von den vielfältigen Gaben des einen Geistes, die in der Bibel genannt werden (Röm 12; 1. Kor 12; Gal 5; Eph 4 u.a.), werden hier vier genannt. Aufgabe der kirchlichen Verantwortungsträger ist es, als „gute Haushalter“ diese „mancherlei Gnade Gottes“ (vgl. 1. Petr 4,10) im Blick auf die Herausforderungen der jeweiligen Situation zu entfalten. Die folgenden Ausführungen versuchen näher zu entfalten, was Furchtlosigkeit, Kraft, Liebe und Besonnenheit nun konkret für die missionarischen Chancen und Aufgaben von Kirche in ländlichen Räumen bedeuten. Sie versuchen so eine Hilfestellung für ein zukunftsorientiertes Handeln auf den verschiedenen Ebenen kirchenleitender Verantwortung zu geben. Die Zielsetzung des Textes ist es dabei, sehen zu lernen, beurteilen zu können, zu wagen, sich zu entscheiden und mutig zu handeln. Für jeden dieser vier Schritte bedarf es des Zusammenspiels von allen genannten Gaben Gottes. Was damit konkret gemeint ist, soll kurz entfaltet werden.

  1. Sehen lernen: Eine erste Zielsetzung des vorliegenden Textes besteht darin, den kirchlichen Entscheidungsträgern eine Hilfe an die Hand zu geben, um die Situation der Kirche im jeweiligen ländlichen Raum realistisch und zugleich mit offenem Blick für die Zukunft wahrzunehmen. Es geht um eine klare, nüchterne Sicht der gegenwärtigen Lage, welche die Voraussetzung eines zukunftsorientierten Handelns ist. Die verantwortlichen Personen auf den verschiedenen Ebenen (Gemeinde, Region, Kirchenkreis, Landeskirche) benötigen dafür verlässliche Daten. Fehlen solche Informationen, so werden Entscheidungen auf der Basis von „gefühlten Situationen“ und subjektiven Eindrücken getroffen.
  2. Beurteilen können: Der Schritt von der Wahrnehmung zur Beurteilung der Situation fällt mitunter schwer, weil mit ihm eine Einordnung, eine „Bewertung“ vorgenommen wird; er ist jedoch notwendig, um die Wahrnehmungen im Blick auf die zu treffenden Entscheidungen zuzuspitzen. Der Text liefert dazu einen Beitrag, indem er ein Raster für die Beurteilung der jeweiligen Situation bietet. Das geistliche Wissen um die Vorläufigkeit aller menschlichen Urteile ermöglicht es dabei, die hier und jetzt handlungsnotwendigen Beurteilungen zu vollziehen, ohne eine kirchliche Situation damit ein für allemal festzuschreiben.
  3. Entscheidung wagen: Wegen der starken strukturellen Veränderungen in den ländlichen Räumen und in der Kirche sind Entscheidungen zur Zeit vielfältig und mit weit reichenden Folgen zu treffen. Das wird oft als belastend erfahren - gerade wenn die Strukturveränderungen finanzielle Kürzungen, das Aufgeben von Arbeitsfeldern und Gebäuden oder den Abbau von Personal einschließen. Die schnelle Abfolge von immer neuen „Kürzungswellen“ führt vielerorts zu Frustration, Konzept und Perspektivlosigkeit. Der Text verfolgt hier einen anderen Ansatz, indem er in Übereinstimmung mit dem Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ Kirche „von vorne“ her denkt: Wo will die Kirche - angesichts der aktuellen Herausforderungen des jeweiligen Kontextes - in Zukunft hin und was muss sie heute tun, um dort in 20, 30 Jahren anzukommen? Es bedarf der Entwicklung von handlungsleitenden Zielvorstellungen und daraus abgeleiteten Strategien. Der Text versucht durch die Entwicklung kontextbezogener Strategien einen Beitrag zu solch einer missionarischen Zukunftsorientierung von Kirche zu leisten.
  4. Mutig handeln: Eine zentrale Zielsetzung des Textes besteht schließlich darin, einen positiven Mentalitätswandel in der Kirche zu unterstützen: weg von einer ängstlichen Besitzstandswahrung hin zu einem kirchlichen Handeln, das sich an den Entwicklungschancen ausrichtet. Dabei gilt es, sich der missionarischen Aufgabe und Verheißung von Kirche neu bewusst zu werden (Mt 28,1620). Es geht um eine Konzentrierung der kirchlichen Arbeit und eine Flexibilisierung ihrer Strukturen, um das Handeln der Kirche profiliert und offen nach außen zu richten. Mitgliedschaftsverluste und Relevanzeinbußen sind so nicht als Infragestellung, sondern als Herausforderung zum missionarischen Handeln der Kirche zu begreifen. Der Text zielt darauf, kirchliches Wachstum im Dienste ihrer Sache - der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus - bewusst zu bejahen.

Orientiert an dieser vierfachen Zielsetzung nähern sich die folgenden Überlegungen den missionarischen Zukunftschancen und aufgaben der Kirche in ländlichen Räumen in fünf Schritten:

Zunächst werden Lebensgefühle und Erfahrungen von Menschen aus dem kirchlichen Leben in ländlichen Räumen gesammelt. Die persönlichen Äußerungen stammen von Personen aus unterschiedlichen Gegenden und Lebenssituationen und beziehen sich auf vielfältige Aspekte kirchlicher Arbeit. Ähnlich einem Mosaik wird so ein erster Eindruck von der bunten Mannigfaltigkeit kirchlichen Lebens in ländlichen Räumen vermittelt. Im Anschluss daran zielt der zweite Schritt darauf, die Wahrnehmung für die konkrete Situation und die sich abzeichnenden Entwicklungen der Kirche im speziellen ländlichen Raum zu schärfen. Dazu werden drei Arten von Kriterien zusammengestellt: „äußere“ Kriterien zur Beurteilung der allgemeinen Situation des jeweiligen ländlichen Raumes, „innere“ Kriterien für die spezielle Situation der Kirche dort und orientierende „Leitkriterien“, die innerhalb des so gewonnen komplexen Gesamtbildes noch einmal den Blick auf die missionarischen Zukunftsaufgaben und -chancen lenken. Die Kriterien sind so gestaltet, dass sie sich möglichst an messbaren, „objektivierbaren“ Daten orientieren. Ohne die lebensweltliche Wirklichkeit darauf reduzieren zu wollen, bieten sie ein kritisches Korrektiv zu einer subjektiven Beurteilung der Lage durch die Beteiligten. Ziel dieses Abschnittes ist es, ein Instrumentarium für eine nüchterne, ehrliche Bestandsaufnahme zu bieten als Basis zukunftsorientierten Handelns.

Danach werden im dritten Schritt sieben Typen der kirchlichen Entwicklung in den ländlichen Räumen skizziert und anhand von FallBeispielen konkretisiert. Die Typologie lehnt sich an allgemeine raumplanerische Klassifikationen an und kombiniert sie mit dem Differenzmerkmal des Vorhandenseins bzw. Nichtvorhandenseins kirchlicher Wachstumsperspektiven. Vorausgesetzt wird dabei, dass kirchliches Wachstum durch die Rahmenbedingungen nicht einfach determiniert wird, sich aber auch nicht unabhängig von ihnen vollzieht. Mit jedem ländlichen Raum sind missionarische Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten gegeben; das Potential zum Wachstum in den verschiedenen ländlichen Räumen ist jedoch stark unterschiedlich. Nach der Anleitung zur Bestandsaufnahme im ersten Teil geht es hier also um ein VergleichsRaster, mit dessen Hilfe der eigene kirchliche Gestaltungsraum einzuordnen und die jeweilige Entwicklungsaufgabe abzuschätzen ist.

Im vierten Schritt werden zunächst grundlegende theologische Zielsetzungen benannt und sodann aus ihnen Strategien für die Realisierung der missionarischen Chancen und Aufgaben in den ländlichen Räumen entwickelt. Wie die Anzahl der Strategien bereits zeigt, sind die einzelnen Strategien den Typen nicht einlinig zugeordnet. Sie versuchen vielmehr ein Spektrum situationsgemäßer kirchlicher Handlungsmöglichkeiten zu skizzieren. Dennoch bestehen natürlich inhaltliche Beziehungen zwischen einzelnen Typen und bestimmten Strategien, die als solche im Text markiert sind.

Der fünfte Schritt schließlich beinhaltet einzelne wichtige kirchliche Handlungskonsequenzen. D.h.: es werden Maßnahmen benannt, die sich aus den vorherigen Ausführungen für die Umsetzung der Strategien auf den Ebenen von Landeskirche, Kirchenkreis oder Region ergeben. Diese kirchenpolitischen Aussagen bergen auf Grund ihres höheren Konkretionsgrades ein entsprechendes Maß an Konfliktpotential. Die Überlegungen werden jedoch bewusst bis zu diesem Punkt weiterentwickelt, um ihre kirchenpraktischen Implikationen zu markieren und einen entsprechenden innerkirchlichen Diskussionsprozess zu befördern. Die Konsequenzen werden abgerundet durch Überlegungen zum veränderten missionarischen Selbstverständnis der kirchlichen Amtsträger und der Gemeinden sowie durch eine Entfaltung der Rolle von Kirche als Trägerin regionaler Entwicklung.

EKD-Text 87 als PDF-Datei

Nächstes Kapitel