Verbindlich leben

Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, EKD-Texte 88, 2007

1. Evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in Geschichte und Gegenwart

a) Zum Sprachgebrauch

Der aus dem Französischen und Englischen stammende Begriff „Kommunität“ wird in einem engeren und einem weiteren Sinn verwendet. Im engeren Sinn bezeichnet er evangelische Gemeinschaften, die auf Dauer nach der – häufig modifizierten – Regel der drei monastischen Gelübde zusammenleben: des Gehorsams gegen eine Leitungsinstanz, des Verzichts auf Privatbesitz und auf die Ehe (z.B. die „Communauté de Taizé“ oder die „Communität Christusbruderschaft Selbitz“). Im weiteren Sinn findet er für Schwesternschaften, Bruderschaften und Gemeinschaften von Frauen und Männern Verwendung, deren Mitglieder zwar nach einer verbindlichen Regel ihr Christsein gestalten und auch regelmäßig zu Tagungen und Einkehrzeiten zusammenkommen, ohne sich aber aus Familie und Beruf zu lösen (z.B. die „Evangelische Michaelsbruderschaft“). Es gibt auch Gemeinschaften, die beide Formen umfassen (z.B. die „JesusBruderschaft Gnadenthal“). Die Selbstbezeichnungen der Gemeinschaften lassen eine bunte Vielfalt erkennen, die sich meist aus ihrer Eigenart und Entstehungszeit ergibt, aber nicht unbedingt ihre innere Struktur zum Ausdruck bringt (Kommunität, Bruder und Schwesternschaft, Familie, Ring, Kreis, Gilde, Foyer, Oratorium, Kloster, Konvent, Cella, Priorat, Orden u.a.).

Mittlerweile gibt es in fast allen evangelischen Kirchen und den meisten europäischen und amerikanischen Ländern Kommunitäten, so dass man von einem weltweiten ökumenischen Phänomen sprechen kann. Dabei wurden die evangelischen Landeskirchen von der Entstehung zahlreicher Kommunitäten im 20. Jahrhundert mehr oder weniger überrascht. Erst 1979 vollzog die EKD mit ihrer Denkschrift „Evangelische Spiritualität“ einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel. Sie brach mit der aus der Reformationszeit herrührenden Ablehnung monastischer Lebensformen im Raum der evangelischen Kirchen. Die Studie geht davon aus, dass Kommunitäten eine legitime Ausprägung biblischreformatorischen Christseins darstellen und würdigt sie als Orte spiritueller Übung und Erfahrung: „In neuerer Zeit sind Kommunitäten und Einkehrhäuser für viele zu ‚Gnadenorten‘ geworden. Diese Entwicklung sollte gefördert werden.“

Tatsächlich ist vor allem der Besucherzustrom zur Communauté von Taizé im französischen Burgund beachtlich. Tausende von Jugendlichen unterschiedlichster kirchlicher Herkunft und Nationalität bevölkern in den Sommermonaten das Gelände, um an den gemeinsamen Gebetszeiten, Gottesdiensten und Bibelarbeiten teilzunehmen. Auch deutsche Kommunitäten entfalten eine überregionale Ausstrahlungskraft und erfreuen sich bei vielen Menschen großer Beliebtheit. In das Licht einer breiteren kirchlichen Öffentlichkeit sind sie durch ihre Mitarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag getreten. Seit fast 20 Jahren wird dort von ihnen gemeinsam das „Evangelische Kloster“ verantwortet: mit Seelsorge und Segnungsangeboten, Vorträgen und Möglichkeiten zum persönlichen Kennenlernen. Um den kommunitären Aufbruch verstehen und richtig einordnen zu können, ist es unerlässlich, einen Blick in die Geschichte der Kirche zu werfen.

b) Die vierfache Sozialgestalt der Kirche

Der evangelische Kirchenrechtler Hans Dombois hat die Auffassung vertreten, dass vier Sozialgestalten für die Kirche essenziell seien [1]. Sie bildeten sich in den ersten vier Jahrhunderten des Christentums heraus: universale Kirche, partikulare Kirche, Gemeinde und Orden bzw. Kloster. Ortsgemeinde und universale Kirche sind dabei gleich ursprünglich, was bereits an der Doppelbedeutung des neutestamentlichen Begriffs der Ekklesia im Sinne von Gesamtgemeinde (1. Kor 15,9) und Einzelgemeinden (1. Kor 1,2) sichtbar wird. Beide Gestalten von Kirche besitzen die gleiche Dignität. Sehr bald entwickelte sich auch die dritte Gestalt von Kirche, die Partikularkirche, die begrifflich neben und sachlich innerhalb der universalen Kirche steht. Ansätze zur Entwicklung von Partikularkirchen finden sich wiederum schon im Neuen Testament. Hier ist z.B. die durch die paulinische Mission entstandene griechisch geprägte Kirche zu nennen (vgl. auch 1. Kor 16,1, wo Paulus von „den Gemeinden in Galatien“ spricht). An der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert entstand schließlich eine vierte Sozialgestalt von Kirche, die später unter der Bezeichnung Orden bzw. Kloster begrifflich zusammengefasst wurde. Unter Orden sind alle selbstständigen Gruppen zu verstehen, „die aufgrund besonderer Berufung und freier Wahl ihrer Glieder in bewusster Korrelation zu der grundsätzlich jedem Christen zugänglichen ‚Kirche‘ und ‚Gemeinde‘ stehen, aber eben darum selbst nicht Kirche oder Gemeinde zu sein beanspruchen […]. Aus dieser bewussten Begrenzung und bejahten Bezogenheit ergibt sich über den präzisen und engeren Begriff des Ordens hinaus der hier gemeinte, für die Struktur der Kirche charakteristische Verbandstypus, dessen weiteste, schon etwas blasse Umschreibung man im Begriff der ‚besonderen Dienstgemeinschaft‘ versuchen könnte.“ Neutestamentliche Analogien zum späteren christlichen Ordenswesen lassen sich durchaus im Zusammenleben der Jünger und Jüngerinnen des irdischen Jesus finden (Lk 8,1–3). Orden bzw. Klöster sind darum eine legitime Sozialgestalt auch der evangelischen Kirche, sie sollten nicht allein durch den Verweis auf außergewöhnliche Entstehungsbedingungen, wie z.B. eine verweltlichte oder reich gewordene Kirche und darauf reagierende besondere asketische Bestrebungen, erklärt werden. Vielmehr kommt den Orden eine für die drei anderen Gestalten der Kirche wertvolle spirituelle Prägekraft zu. Die vier Sozialformen der Kirche stellen nämlich keine isolierten Größen dar, sondern verweisen aufeinander, sie ergänzen und relativieren einander und sind so untereinander verbunden. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften eine legitime Sozialgestalt auch der evangelischen Kirche sind.

c) Konzentration auf Ortsgemeinde und Landeskirche in der Reformationszeit

Die Reformation setzt gegenüber dem Mittelalter in ekklesiologischer Hinsicht neu ein. Ihre Konzentration auf Ortsgemeinde und Partikularkirche stellte eine notwendige Gegenbewegung zu deren Vernachlässigung und Abwertung durch die mittelalterliche Kirche dar. Universalkirche und Orden bzw. Kloster waren im Mittelalter mehr und mehr ekklesiologisch ins Zentrum gerückt. Für den reformatorischen Neueinsatz in der Ekklesiologie waren sowohl theologische als auch soziologische Begründungszusammenhänge maßgeblich. Zunächst zu den theologischen Gründen: Im Rekurs auf das Neue Testament entdeckte die reformatorische Theologie die Ortsgemeinde neu. Sie trat fortan in das Zentrum der reformatorischen Überlegungen zur Ekklesiologie. Die – parochial verfasste – Ortsgemeinde wurde zum ekklesiologischen Modell. Die Konzentration auf die Ortsgemeinde wird sichtbar in Artikel 7 des Ausgsburger Bekenntnisses: „Es wird auch gelehrt, dass alle Zeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Diese Definition beinhaltet, dass Kirche im eigentlichen Sinn nur dort zu finden ist, wo Christen sich konkret um Wort und Sakrament versammeln. Es war konsequent, dass dadurch die überragende Bedeutung der Universalkirche in Frage gestellt wurde. Die Wiederentdeckung des allgemeinen Priestertums (1. Petr 2,9) durch die Reformatoren trug zusätzlich zur Konzentration auf die Ortsgemeinde bei. Martin Luthers Schrift „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift“ (1523) zeigt exemplarisch die Aufwertung der Ortsgemeinde aufgrund des Gedankens vom allgemeinen Priestertum.

Auch die reformatorische Spiritualität orientierte sich ausschließlich an der Ortsgemeinde und trug so ihrerseits maßgeblich zu deren Zentralstellung bei. War im Mittelalter das Kloster das herausragende spirituelle Handlungsfeld, wies Martin Luther der reformatorischen Spiritualität die Familie und den Beruf als primäre Verwirklichungsfelder zu. Er verlegte damit das Zentrum der christlichen Frömmigkeit vom Kloster in die Familie und schuf auf diese Weise die Hauskirche. Gleichzeitig machte er den weltlichen Beruf und damit die Gesellschaft zum Bewährungsfeld des Glaubens. In der Folge büßte das ganze mittelalterliche Ordenswesen in der protestantischen Welt seine dominierende Rolle ein. Bildete im Mittelalter das Mönchsein, also die Einhaltung der evangelischen Räte, den Weg, um mit Sicherheit in den Himmel zu kommen, traten nun an deren Stelle die Familie und der weltliche Beruf, die jedem Christen offen standen. Reformatorische Spiritualität stellte gegenüber der mittelalterlichen Frömmigkeit einen qualitativen Fortschritt dar: Sie war eine Spiritualität für jedermann und zeichnete sich durch Alltagsverträglichkeit aus. Familie und Beruf haben sich in den folgenden Jahrhunderten als bevorzugter Raum reformatorischer Spiritualität bewährt. Luthers eigene Ehe und Familie wurde zum Prototyp der neuzeitlichen protestantischen Familie. Im evangelischen Pfarrhaus als Abbild von Luthers Haus lag auch im kleinsten Dorf die dafür nötige Veranschaulichung vor. Im Rahmen der Familie gelang durch den Katechismus mit Unterstützung der parochialen Kirchengemeinde die Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation. Indem der weltliche Beruf von Luther zum Bewährungsfeld des Glaubens gemacht wurde, erhielt die weltliche Arbeit religiöse Orientierung. Jeder Christ war dazu bereit, in seinem weltlichen „Beruf“ zur Ehre Gottes und zum Wohl der Mitmenschen zu wirken. Dadurch wurden im neuzeitlichen Europa ungeahnte schöpferische Kräfte im Menschen freigesetzt.

Verantwortlich für die reformatorische Konzentration auf die Ortsgemeinde war aber nicht nur die Entdeckung des allgemeinen Priestertums und die Befreiung der Spiritualität aus der Usurpation durch religiöse Eliten, sondern auch die Tatsache, dass theologische Forderungen und spirituelle Neuentdeckungen mit soziologischen Bestrebungen zusammentrafen. Die Reformation bereitete sich zunächst primär im Rahmen der Städte aus. Das hier ansässige emanzipierte Bürgertum aber drängte bereits vor der Reformation nach mehr Partizipation und Mitsprache in den Kirchengemeinden. Z.B. hatte es sich schon längere Zeit um Einfluss auf die Besetzung der Pfarrstellen bemüht. Diese Bestrebungen korrelierten mit den reformatorischen Überzeugungen. Die Konsequenz war eine „Kommunalisierung von Kirche“ als Integration von Kirche in die politische Gemeinde. In der Folge siegte im Protestantismus das Ortsgemeindeprinzip. Andere Strukturprinzipien als das der territorialen Zugehörigkeit fielen weg. Das hatte ekklesiologische und soziologische Folgen für die evangelische Kirche. Es sei hier nur auf das Ende der Ordenstheologie und die damit einhergehende Monopolstellung der theologischen Fakultäten und auf die einsetzende Verbürgerlichung protestantischen Christseins hingewiesen. Eine weitere Folge der evangelischen Konzentration auf die Ortsgemeinde zeigte sich in der Spiritualisierung der Vorstellung von der Universalkirche. Mit dem Wegfall des Papsttums im Protestantismus erhielt die jeweilige Landeskirche als Partikularkirche maßgebliche Bedeutung. Die sichtbare Universalkirche wurde zur unsichtbaren Kirche, zu der allein im Modus des Glaubens existierenden Kirche des dritten Glaubensartikels. Mit der machtvollen päpstlichen Universalkirche fehlte den Orden der Fürsprecher, der ihnen in den unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Ortsgemeinde und Partikularkirche hätte beistehen können.

d) Die Entstehung von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften im Protestantismus

Schon die Reformationszeit zeigt, dass Minderheitsbildungen im Raum der Großkirche anscheinend notwendig zu ihrer Existenz dazugehören. Es sieht so aus, als bildeten die freikirchlichen Gemeinschaften – der sog. „linke Flügel“ der Reformation – eine Art Ersatz für das verdrängte Ordenswesen. Entsprechend hatten es im Laufe der weiteren Geschichte des Protestantismus Sondergemeinschaften und alternative Bewegungen schwer in den entstandenen Landeskirchen. Dennoch kam es spätestens seit dem 18. Jahrhundert im Raum der evangelischen Landeskirchen zur Bildung von geistlichen Gemeinschaften, die die Rolle der Orden bzw. Klöster übernahmen.

Dabei hätte es schon während der Reformationszeit nicht zwangsläufig zur Auflösung fast aller Orden und Bruder und Schwesternschaften kommen müssen. Es darf auch nicht aus dem Blick geraten, dass einige Klöster der Auflösung widerstanden und als Evangelische Stifte weiterleben. In ihnen wurde und wird ein geistliches Leben auf reformatorischer Grundlage gepflegt. Es gibt nämlich durchaus positive Aussagen der Reformatoren zum Ordenswesen, aus denen hervorgeht, dass sie nur die Missbräuche abgeschafft wissen wollten, nicht aber die Sache selbst [2]. Bei Martin Luther und dem als Vater der reformierten Theologie geltenden Martin Bucer finden sich darüber hinaus sogar Ansätze zu neuen Formen geistlicher Gemeinschaften. So hat Luther in seiner Schrift über die Deutsche Messe (1526) darauf hingewiesen, dass eine Vereinigung derer wünschenswert sei, „die mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Munde bekennen.“ Sie müssten „mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause alleine sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben.“ In dieser Ordnung könnte man „die, so sich nicht christlich hielten, [er]kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi Mt 18,15 f.“ Hier könnte man auch „ein gemeinsames Almosen den Christen auflegen,“ „auf eine kurze feine Weise“ Gottesdienst gestalten und „einen guten kurzen Katechismus haben.“ Wenn man die Personen dazu hätte, „die Ordnungen und Weisen wären bald gemacht.“ Diese Bedingung sieht Luther jedoch nicht erfüllt. Deshalb kann und mag er „noch nicht eine solche Gemeinde oder Versammlung ordnen und anrichten.“ Er fährt jedoch fort: „Kommt’s aber, dass ich’s tun muss und dazu gedrungen werde, dass ich’s aus gutem Gewissen nicht lassen kann, so will ich das meine gerne dazu tun und auf das beste, so ich vermag, helfen.“ Dazu kam es in Wittenberg jedoch nicht. Anders war es bei Martin Bucer, der in Straßburg solche „christlichen Gemeinschaften“ einrichtete (1546), die allerdings das Interim nicht überlebten.

Erst im Pietismus konnten sich erste Ansätze kommunitären Lebens zum Teil dauerhaft entfalten. Philipp Jacob Spener etwa führte in Frankfurt am Main 1670 unter Berufung auf Luthers Schrift über die „Deutsche Messe“ sog. „collegia pietatis“ ein, die im württembergischen Pietismus bis zum heutigen Tag nachwirken. Gottfried Arnold regte eine „Philadelphische Sozietät“ (1694) an und der reformierte Theologe Gerhard Tersteegen klosterartige „Pilgerhütten“ (1730), die beide jedoch nach kurzer Zeit wieder eingingen. Eine erste dauerhafte Neubildung kommunitärer Lebensgemeinschaft im Raum des Protestantismus stellte die Herrnhuter „Brüdergemeine“ dar (1727), die nach dem Willen ihres Gründers Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf Teil der Landeskirche bleiben sollte.

Einen weiteren Ansatzpunkt kommunitären Lebens in der evangelischen Kirche stellten im 19. Jahrhundert die an vorreformatorische Tradition anknüpfenden, ganz auf diakonische Aufgaben ausgerichteten Schwestern und Bruderschaften dar. Die ersten wurden von Johann Hinrich Wichern in Hamburg (1833), Theodor und Friederike Fliedner in Kaiserswerth (1836) und von Wilhelm Löhe in Neuendettelsau (1853), also sowohl in der lutherischen wie in der reformierten Tradition, ins Leben gerufen. Nach ihrem Vorbild sind bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika zahlreiche lutherische und reformierte Diakonissen und Diakonenhäuser entstanden. Ihr diakonisches Engagement erwuchs – auch ohne Ordensgelübde – aus einer Spiritualität, die ihren Wurzelboden in der verbindlichen Gemeinschaft des Diakonissen bzw. Diakonenhauses hatte. Klassisch kommt diese diakonische Spiritualität in Wilhelm Löhes Diakonissenspruch zum Ausdruck: „Was ich will? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, dass ich darf! Und wenn ich dabei umkomme? Komme ich um, so komme ich um, sprach Esther, die doch Ihn nicht kannte, dem zu Liebe ich umkäme, und der mich nicht umkommen lässt. Und wenn ich dabei alt werde? So wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum, und der Herr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe mit Frieden und sorge nichts!“

Im 20. Jahrhundert schließlich gab es drei Entstehungswellen gemeinschaftlichen Lebens sowohl in der lutherischen wie in der reformierten Tradition. Zunächst schlossen sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsbewegung und dem Protest der Jugendbewegung gegen das wilhelminische Deutschland, angesichts der Erschütterungen des Ersten Weltkriegs, der Neuordnung des kirchlichen Lebens in der Weimarer Republik und der Neuorientierung der Theologie in den Zwanzigerjahren einzelne Bruderschaften ohne vita communis zusammen: z.B. die Bahnauer Bruderschaft für Diakonie (1906), die PfarrerGebetsbruderschaft (1913), die Sydower Bruderschaft für Pfarrer (1922), der Freudenstädter Kreis für Pfarrer (1928) und die Hochkirchliche St. JohannesBruderschaft (1929). Am bekanntesten und größten wurde die 1931 gegründete Evangelische Michaelsbruderschaft. Diese Bruderschaften hatten sich meist im Geist erwecklichpietistischen Lebens, hochkirchlichliturgischer Strömungen und mit Impulsen aus der Bruderschaft vom Gemeinsamen Leben in der Nachfolge des spätmittelalterlichen Mystikers Thomas à Kempis (gegründet 1905 in der Schweiz) und der „Gruppenbewegung“ Frank Buchmans gebildet.

Abgesehen von Bonhoeffers Bruderhaus in Finkenwalde (1935) und der Communauté de Taizé (1940) entstanden die ersten Kommunitäten mit gemeinsamem Leben erst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Gründung hing mit dem Zusammenbruch von 1945 und einem Suchen nach neuen Werten und Lebensformen zusammen. Damals bildeten sich evangelische Orden in der Traditionslinie vorreformatorischer Regeln: die Evangelische Marienschwesternschaft (1947), der St. JohannisKonvent vom Gemeinsamen Leben (1947), die Christusbruderschaft Selbitz (1949), die Communität Casteller Ring (1950), die Kommunität Imshausen (1955), die Christusträger (1961), die JesusBruderschaft Gnadenthal (1961) und die Kommunität Adelshofen (1962).

Schließlich formierten sich Ende der 1960erJahre Familiengemeinschaften als Möglichkeiten der Erneuerung in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Eine der ersten Gründungen war der LaurentiusKonvent (1959), zu ihren bedeutendsten zählen die Familienkommunität der JesusBruderschaft Gnadenthal (1968), die Offensive Junger Christen in Reichelsheim i. Odw. (1968) und die Basisgemeinde Wulfshagener Hütten (1973).

e) Gründe für die Entstehung evangelischer Kommunitäten und geistlicher Gemeinschaften im 20. Jahrhundert

Für die verstärkte Entstehung evangelischer Kommunitäten und geistlicher Gemeinschaften im 20. Jahrhundert waren einerseits soziologische Gründe verantwortlich. Seit der industriellen Revolution wandelte sich die mittelalterliche und frühneuzeitliche Großfamilie über die Kleinfamilie zur Kleinstfamilie. Sie wurde zunehmend weniger im reformatorischen Sinn als Hauskirche erlebt. Ihre religiöse Grundierung ging verloren. Mit der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft verlor auch der lutherische Berufsgedanke seine religiöse Prägung. Inzwischen wird der Beruf kaum noch als Bewährungsfeld des Glaubens, sondern als Ort des Geldverdienens und der Selbstverwirklichung verstanden. Neben Familie und Beruf trat in den vergangenen Jahrzehnten schließlich die Ortsgemeinde in ihrer Bedeutung für die Spiritualität des einzelnen evangelischen Kirchenmitglieds zurück. Die Bewohner einer Großstadt wählen längst unter den verschiedenen Angeboten den Gottesdienst aus, der ihnen zusagt. Die parochiale Struktur reicht überdies nicht mehr aus, um einen Großteil der Menschen einer mobilen, pluralistischen Gesellschaft mit dem Evangelium zu erreichen. Das zunehmende Auseinanderdriften in unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und verschiedene ästhetische Milieus, die kaum eine gemeinsame Kommunikationsebene haben, macht es notwendig, das herkömmliche parochiale System durch zusätzliche Sozialgestalten von Gemeinde zu erweitern.

Andererseits waren theologische Gründe für die Entstehung von Kommunitäten im 20. Jahrhundert maßgeblich. Diese reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Damals bildete sich im Protestantismus ein Frömmigkeitstypus heraus, der von Individualismus, Subjektivismus und Innerlichkeit bestimmt war. Mehr und mehr ging der evangelischen Spiritualität der Gemeindehorizont verloren. Eine gewisse Unverbindlichkeit und Profillosigkeit waren die Konsequenz. Gleichzeitig drohte evangelischer Spiritualität der Verlust der Form. Die Bedeutung von Symbol und Ritual für den Glauben wurde unterschätzt. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum Menschen auf der Suche nach einer gemeinsam gelebten verbindlichen Glaubenspraxis auf vorreformatorische monastische Lebensformen zurückgreifen. Als Antwort darauf, dass die traditionellen protestantischen Verwirklichungsfelder des Glaubens – Familie, Beruf, Ortsgemeinde – mehr und mehr der Säkularisierung anheim gefallen sind, leben die Mitglieder von Kommunitäten in weitgehender Freiheit von bürgerlichen Familien und Berufspflichten und bilden meist eine Art Sondergemeinde. Dadurch gewinnen sie Freiräume für das gemeinsame geistliche Leben, das von regelmäßigen Gottesdiensten und Stundengebeten geprägt ist. Auch die Möglichkeit der Kommunitäten, als „evangelische Gnadenorte“ zu fungieren, rührt daher. Diese Funktion wird konkret im Angebot von Gastfreundschaft, von spirituellen Tagungen und von Seelsorge. Schließlich sind Kommunitäten aufgrund der Freiheit von Familien und Berufspflichten in der Lage, auch sozialdiakonische Hilfsaktionen im Ausland wie im Inland spontan und unbürokratisch durchzuführen. Alle diese Gesichtspunkte führen dazu, dass die evangelischen Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften heute oft eine überregionale geistliche Ausstrahlungskraft entwickeln, die Menschen im Glauben beheimatet.

f) Zur gegenwärtigen Situation: Chancen und Risiken kommunitären Christseins

Zu der ersten offiziellen Neubewertung der evangelischen Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften kommt die EKDStudie „Evangelische Spiritualität“ von 1979, indem sie die Feststellung entfaltet, dass Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften eine legitime Form evangelischen Christseins darstellen. Dass die Kirche sich gegenwärtig in einem tiefgreifenden Strukturwandel befindet, wird längst auch außerhalb der Kirche wahrgenommen. Die kontrovers geführte Diskussion darüber, wie die zukünftigen kirchlichen Strukturen aussehen sollen, erhält aufgrund der knapper werdenden finanziellen Ressourcen eine besondere Dringlichkeit. Evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften können in diesem Prozess einen Beitrag leisten, der nicht länger übersehen werden sollte. Entsprechend heißt es in der letzten offiziellen Würdigung der evangelischen Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften, nämlich in dem 2006 erschienenen Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“:

„Ein ganz neues Gewicht gewinnen Kommunitäten und klosterähnliche Gemeinschaften an besonderen kirchlichen Orten. Die Zahl evangelischer Gemeinschaften mit einer verbindlichen geistlichen Lebensform wächst; oftmals erfüllen sie herausgehobene geistliche Räume mit ihrem spirituellen Leben. Sie wollen und sollen den Dienst der Ortsgemeinden ergänzen. An solche Orte kommen Menschen, die Zeiten der Stille und des gemeinsamen geistlichen Lebens, also ein ,Kloster auf Zeit’ suchen. Soweit ihre Gottesdienste und Gebetszeiten öffentlich sind und sie sich im Rahmen der kirchlichen Glaubens und Lebensordnungen bewegen, sind diese Kommunitäten ein Schatz der evangelischen Kirche, dessen Bedeutung für die evangelische Frömmigkeit im Wachsen ist.“

Zu den Voraussetzungen für eine Hebung dieses „Schatzes“ gehört, dass evangelisches Christsein nicht länger allein mit dem traditionellen bürgerlichen Leben in Familie und Beruf identifiziert wird und die Ortsgemeinde nicht länger die einzig anerkannte Sozialgestalt von Kirche im Protestantismus bleibt. Evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften bilden zusätzlich zu Parochie und Landeskirchen bzw. EKD eine eigene Sozialgestalt von Kirche oder eine besonders profilierte Form von Gemeinde innerhalb der Vielfalt von Gemeindeformen in den Landeskirchen. Von einer solchen eigenständigen Position aus sind Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften am ehesten in der Lage, ihre Gaben in das geistliche Leben der evangelischen Kirchen einzutragen und zu einer Erneuerung der Landeskirchen insgesamt beizutragen. Es geht nicht um eine „Verklösterlichung“ evangelischen Christseins, sondern um seine Bereicherung und Herausforderung durch theoretische und praktische Impulse von Seiten der Kommunitäten. Dabei wird das Erneuerungspotenzial der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften für die Kirche nur dann dauerhaft zur Wirkung kommen, wenn es gelingt, Kommunitäten, Kirchengemeinden und Landeskirchen bzw. EKD wechselseitig aufeinander zu beziehen, und zwar im Sinne gegenseitiger Ergänzung und Korrektur. Wenn Kommunitäten, Kirchengemeinden und Landeskirchen sowohl ihre Gleichwertigkeit und Unterschiedlichkeit als auch ihr bleibendes Aufeinanderangewiesensein erkennen, wird es zu einer gegenseitigen Bereicherung kommen.

Allerdings sollte auch nicht verschwiegen werden, dass kommunitärem Christsein neben den besonderen Chancen auch besondere Risiken innewohnen. Trotz offizieller Anerkennung als „evangelische Gnadenorte“ und trotz Präsenz bei Kirchentagen und in den Medien sind kommunitäre Lebensformen in der evangelischen Kirche bis heute umstritten. Das mag zuerst daran liegen, dass kommunitäres Leben – von Außenstehenden und von Beteiligten gleichermaßen – leicht missverstanden werden kann als Hochform evangelischer Spiritualität, die von einigen wenigen religiösen Virtuosen stellvertretend für alle anderen gelebt werde. Eine solche Interpretation entspricht zwar dem Trend des modernen Lebens mit seinem zunehmenden Spezialistentum, der konsequenterweise auch religiöse Spezialisten verlangt. Aber sie bedeutete faktisch einen Rückfall in ein vorreformatorisches ZweiStufenChristsein, von Christen erster Klasse, die kommunitär leben, und Christen zweiter Klasse, die in Familie, Beruf und Kirchengemeinde verbleiben. Auf diese Weise ginge die Ausrichtung reformatorischer Spiritualität auf die Welt und das damit verbundene immer neue Ringen um ihre Alltagsverträglichkeit verloren. Ein weiteres geistliches Risiko kommunitären Christseins besteht darin, dass es in Abhängigkeit vom Leiter oder der Leiterin der Gemeinschaft geraten kann, eine Gefährdung, die es natürlich auch in Ortsgemeinden oder anderen Sozialformen des gemeinschaftlichen Glaubens gibt. Manche Menschen unterwerfen sich nur zu gerne einem machtvollen geistlichen Leiter, um dadurch von der Last der Eigenverantwortung für Leben und Glauben frei zu werden. Dadurch schöbe sich jedoch eine Mittlergestalt zwischen den einzelnen Christen und Gott und die reformatorische Errungenschaft der Freiheit des individuellen Gewissens ginge verloren. Schließlich kann es im kommunitären Christsein zu einer Überbetonung der Gemeinschaft kommen, die sichtbar würde am fehlenden Eigenprofil der Spiritualität des einzelnen Kommunitätsmitglieds. Der Glaube der Gemeinschaft könnte zum Ersatz für den eigenen Glauben werden. Der in der jeweiligen Gemeinschaft geltende Kanon religiöser Wahrheiten würde dann zwar ein Hochmaß an Halt und Geborgenheit vermitteln, aber gerade so könnten eventuelle persönliche Zweifel und Meinungsunterschiede nicht den Raum bekommen, den sie brauchen und verdienen.

Im Wissen um diese geistlichen Risiken ist es für jede christliche Gemeinschaft wichtig, dass ihren Mitgliedern ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung, Partizipation und Initiative in Fragen des gemeinsamen Lebens und Glaubens eingeräumt wird. Zu einer guten Entwicklung könnte auch eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit kommunitärem Christsein im Rahmen der evangelischen Theologie beitragen. Bisher findet sie weithin nur unter Insidern statt: Dazu zählen vor allem der langjährige Pfarrer der „Communität Casteller Ring“ Johannes Halkenhäuser, Br. Franziskus Joest, Mitglied der „JesusBruderschaft Gnadenthal“, und Ingrid Reimer, die seit ihrem Ruhestand in der „Lebensgemeinschaft für die Einheit der Christen“ auf dem fränkischen Schloss Craheim mitarbeitet.

Unsere pluralistische Gesellschaft ist auf der Suche nach neuen Gestaltungsformen des Zusammenlebens. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften wollen „brüderlich offen sein für die Menschen“, wie es in der Regel von Taizé heißt. Sie stellen damit ein Kontrastprogramm zur „metaphysischen Einsamkeit“ (Heinrich Vogel) des nachmodernen Menschen dar. Indem sie die Welt bejahen, ohne sich ihren Mechanismen anzugleichen, gehen von ihnen belebende und heilende Impulse in ihre Umgebung aus. Viele der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften sind zu Begegnungszentren sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen den verschiedenen Völkern geworden. Der „Dienst der Einheit“ ist ein wesentliches Element für die meisten Gemeinschaften. Indem die Einheit auf dem Weg der Versöhnung getrennter Positionen gesucht wird, wachsen Einstellungen, die für das Leben in pluralistisch verfassten Gesellschaften von großem Wert sind. Darüber hinaus geht der katholische Theologe Johann Baptist Metz davon aus, dass Kommunitäten auch eine prophetische Aufgabe für Kirche und Gesellschaft haben. Als Gemeinschaften mit verbindlichem geistlichen Leben stellen sie eine unübersehbare Herausforderung gegenüber der „Selbstsäkularisierung“ weiter Teile der westlichen Christenheit dar. In jedem Fall sollte die Einsicht, dass Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften eine eigenständige Sozialgestalt von Kirche darstellen, in den kommenden Jahren zu verbindlichen Regelungen im Hinblick auf das strukturelle Miteinander von Kommunitäten, Ortsgemeinden und Landeskirchen bzw. EKD führen. Ein wichtiger Schritt wurde bereits 1979 durch die Berufung eines Beauftragten des Rates der EKD für die evangelischen Kommunitäten und durch die Berufung eines Vertreters bzw. einer Vertreterin der Kommunitäten in die Synode der EKD getan. Im Laufe der Zeit ist dieser EKDBeauftragte – unbeschadet der bleibenden Zuständigkeit der jeweiligen geistlichen Leitung in den Gliedkirchen – nicht selten von den Kommunitäten zu einer Art beratenden Begleitung und teilnehmenden Visitation eingeladen worden. Dies diente der Transparenz der geistlichen Gemeinschaften in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Es legt sich nahe, über eine Weiterentwicklung dieser geistlichen Beauftragung nachzudenken (siehe Abschnitt 4. Perspektiven).


Fußnoten

  1. Vgl. hier und im Folgenden Hans Dombois, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht II, Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte, Bielefeld 1974, S. 35-51.
  2. Im Hinblick auf Martin Luthers Standpunkt vgl. besonders Johannes Halkenhäuser, Kirche und Kommunität. Ein Beitrag zur Geschichte und zum Auftrag der kommunitären Bewegung in den Kirchen der Reformation (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, Bd. 42), 2. Auflage, Paderborn 1985, S. 13-81.

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