Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel

Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu den aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen, EKD-Text 110, 2010

3. Tendenzen der gegenwärtigen Entwicklung – ein Blick auf aktuelle Probleme

3.1. Zur Entwicklung der Solidargemeinschaft

3.1.1. Eigenverantwortung und Solidarität

  1. Eigenverantwortung und persönliche Freiheit im Umgang mit Gesundheitsrisiken und Behandlungsfragen werden häufig in einem Spannungsverhältnis zu den Verantwortlichkeiten wahrgenommen, denen Menschen als Mitglieder einer Solidargemeinschaft unterliegen. Dabei ist eine funktionierende Solidargemeinschaft Voraussetzung dafür, dass Menschen Kraft zum eigenverantwortlichen Handeln gewinnen, wie umgekehrt die Bereitschaft aller, selbst Verantwortung zu übernehmen, die Solidargemeinschaft trägt und stärkt. Überall dort, wo ein Risiko gemeinschaftlich abgesichert wird, ergibt sich aber durchaus die Gefahr, dass individuelle Verhaltensweisen und Ansprüche nicht in gleicher Weise an die Erfordernisse der Solidargemeinschaft zurückgekoppelt, sondern vor allem an eigenen Bedürfnissen ausgerichtet werden. Der Gesetzgeber steht deshalb vor der schwierigen Aufgabe, im Bereich der Gesundheitsversorgung eine Balance zwischen solidarischer Vorleistung für und individualisierter Anforderung an eigenverantwortliches Handeln zu finden. Diese Aufgabe stellt sich im System der Gesetzlichen Krankenversicherung mit besonderer Schärfe dar, da die Versicherten zum größten Teil Pflichtmitglieder sind und sich unsolidarischem Verhalten anderer Mitglieder nicht entziehen können.
  2. Die für eigenverantwortliches Handeln notwendigen Vorleistungen des Gesundheitssystems werden vor allem durch den Leistungsumfang der GKV definiert, der seit 2009 auch für den Basistarif der PKV maßgeblich ist. Anforderungen an eigenverantwortliches Handeln ergeben sich zum einen durch Ausgliederungen aus dem Regelleistungsbereich der GKV ("fakultative Eigenverantwortung"), und zum anderen durch die Knüpfung der vollständigen Regelleistungen der GKV an die Erfüllung bestimmter Bedingungen ("obligatorische Eigenverantwortung"). Zur fakultativen Eigenverantwortung sind vor allem die nicht oder nicht mehr erstattungsfähigen Gesundheitsleistungen ("IGeL") sowie die nur über Wahltarife erstattungsfähigen Gesundheitsleistungen der GKV zu zählen. Eigenverantwortung soll hier über eine vollständige Privatisierung der Zahlungsverpflichtungen, über Selbstbehalte in den Versicherungstarifen oder über die Zuordnung einzelner Versicherter zu einem vom Regelleistungskollektiv der GKV separierten Zusatzversicherungskollektiv erzielt werden. Obligatorische Eigenverantwortung findet sich z.B. in der Abhängigkeit des Festzuschusses für Zahnersatz von regelmäßigen zahnärztlichen Prophylaxeuntersuchungen und bei der Differenzierung der Zuzahlungsbelastungsgrenze chronisch kranker Versicherter nach Maßgabe der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. Durch die Sanktionierung bestimmten Verhaltens soll so eine Rückbindung individuell eigenverantwortlichen Handelns an die Erfordernisse der Solidargemeinschaft erreicht werden.
  3. In der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion wird zumeist eine weitere Ausweitung der eigenverantwortlichen Absicherung des Krankheitskostenrisikos gefordert. Zum einen geht es dabei um eine schärfere Abgrenzung zwischen solidarisch abzusichernden Grundleistungen und privat abzusichernden Ergänzungsleistungen; zum anderen stehen Leistungsausschlüsse oder stärkere Kostenbeteiligungen bei "selbstverschuldeten" Krankheitskosten im Mittelpunkt. Beide Begründungslinien können für sich in Anspruch nehmen, bei erster Betrachtung mit allgemein geteilten Gerechtigkeitsvorstellungen in Einklang zu stehen. Sie sind jedoch bei näherem Hinsehen auch mit schwerwiegenden Problemen behaftet. Die Ausgliederung einzelner Gesundheitsleistungen aus dem solidarisch finanzierten Bereich kann zu einer Zwei-Klassen-Medizin und im Versicherungsbereich über Risikoselektionsprozesse zu einer schrittweisen Entsolidarisierung führen. Eine gerechte Abgrenzung zwischen tatsächlich oder vermeintlich selbst zu beeinflussen Krankheitskosten dürfte zudem nicht nur praktisch äußerst schwierig sein, sie würde auch Kontrollkosten und Beschränkungen der individuellen Freiheitsrechte verursachen, die den Nutzen solcher Maßnahmen bei weitem überwiegen. Die Steuerungswirkungen von auf Eigenverantwortung zielenden Maßnahmen der Gesundheitspolitik sollten zudem nicht überschätzt werden. Der größte Teil der Gesundheitsausgaben entfällt auf so genannte Hochnutzer und darunter vor allem auf schwer kranke Versicherte in ihren letzten Lebensjahren. Eine Verhaltenssteuerung ist hier weitestgehend ausgeschlossen ebenso wie nachträgliche Sanktionierung etwaigen früheren gesundheitsschädlichen Verhaltens.
  4. Gerade das grundsätzliche Bekenntnis zu einer solidarischen Krankenversicherung macht es notwendig, die individuellen Be- und Entlastungen über die verschiedenen Formen von allgemeinen Beitragsverpflichtungen, Zusatzbeiträgen, Zusatzversicherungen, Zuzahlungen für Gesundheitsleistungen und Leistungsbefreiungen transparent zu machen und zu beschränken. Dabei muss die Grenze zwischen den überwiegend dem Einzelnen zuzuschreibenden Folgen individueller Entscheidungen und den für den Einzelnen zwar spürbaren, aber wenig beeinflussbaren Ergebnissen gesellschaftlicher oder schicksalhafter Dispositionen besonders sorgsam beachtet werden. Schwere Krankheiten oder auch Unfälle können jeden treffen und verursachen in der Regel Kosten, die vom Einzelnen nicht zu tragen sind. Ein solidarisches Gesundheitssystem will diese Risiken bewusst auf alle umlegen. Deshalb ist es besonders problematisch, wenn unter der vorgeblichen Zielsetzung einer Stärkung der Eigenverantwortung vorgenommene Maßnahmen im Ergebnis individuelle Anstrengungen zu einem stärker selbstbestimmten Leben konterkarieren und die Einzelnen in die staatliche Abhängigkeit zurückstoßen. Damit wird auch die gesellschaftliche Akzeptanz des aktivierenden Sozialstaats deutlich und nachhaltig geschwächt.
  5. Gerade weil bei der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems wirtschaftliche Interessen eine nicht geringe Rolle spielen, muss besonders darauf geachtet werden, dass Eigenverantwortung nicht lediglich als Chiffre für höhere Belastungen des Einzelnen erscheint. Eine unausgewogene finanzielle Lastenverteilung, die die unteren Einkommen besonders belastet, aber auch fehlende Rücksichtnahme auf Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit – z.B. bei chronisch Kranken oder behinderten Menschen – verstärkt einen solchen Eindruck. Die allgemeinen Beitragszahlungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung und die verschiedenen Zuzahlungen zu bestimmten Gesundheitsleistungen, aber auch die kassenindividuellen Zusatzbeiträge müssen dabei genauso in den Blick kommen wie die Zielgenauigkeit des Sozialausgleichs, die Säumniszuschläge und nicht zuletzt die Gefahr einer kaum noch zu bewältigenden Verschuldung gegenüber den Krankenversicherern.

3.1.2. Anzeichen für eine Erosion der Solidarität

  1. Wer angemessene Gesundheitsleistungen für alle erhalten will, wird angesichts wachsender medizinischer Möglichkeiten und der demographischen Entwicklung mit steigenden Gesundheitskosten zu rechnen haben. Der politische Wille, gleichwohl die Entwicklung steigender Lohnnebenkosten zu begrenzen, indem der Arbeitgeberanteil festgeschrieben wird, ist im Dienste der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nachvollziehbar. Bei steigenden Gesundheitsausgaben dürfte dadurch allerdings mittelfristig der Einfluss der Arbeitgeber in den Selbstverwaltungsorganen der Gesetzlichen Krankenversicherung geschwächt werden. Deren Einfluss hat aber bisher, durchaus auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Begrenzung der Lohnnebenkosten, zur Begrenzung der Gesundheitskosten beigetragen. Durch die verhältnismäßig höhere Belastung der Arbeitnehmer würden außerdem die tatsächlich verfügbaren Arbeitnehmereinkommen bei allen künftigen Ausgabensteigerungen der Gesetzlichen Krankenversicherung stärker sinken, als das bislang der Fall ist; mit der geringeren Kaufkraft der Arbeitnehmer könnten konjunkturelle Effekte einhergehen, die dem Ziel einer nachhaltigeren Finanzierung der Gesundheitsausgaben entgegenstehen. Die Solidarität zwischen den Tarifpartnern war bislang ein wesentlicher Pfeiler der Stabilität und Kostenbegrenzung im deutschen Gesundheitssystem. Dass der Sozialausgleich zudem allein an den beitragspflichtigen Einnahmen ansetzt, ist gerade deshalb problematisch. Damit wird die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Versicherten nicht vollständig erfasst.
  2. Neben der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags soll auch die Einführung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge, die als ein erster Schritt in Richtung einer "Kopfpauschale" verstanden werden können, wirtschaftlichen Zwecken dienen. Auch sie wird häufig damit begründet, die Lohnkosten von der Entwicklung der Gesundheitsausgaben abzukoppeln und die Finanzierungsgrundlage der Gesetzlichen Krankenversicherung unabhängig von der Konjunkturentwicklung zu machen. Beide Argumentationen überzeugen jedoch nicht. Die Abkopplung von den Lohnkosten erfolgt allein durch die Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags, einkommensunabhängige Zusatzbeiträge sind hierzu nicht notwendig. Zudem wird die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung keineswegs unabhängiger von der Konjunkturentwicklung. Da die aus prozentualen Beitragszahlungen an den Gesundheitsfonds aufgebrachte Finanzierungsbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin mit der Konjunkturentwicklung schwankt, gilt dies auch für die Höhe der Zusatzbeiträge, da sie von den Kassen zu einem entsprechend größeren Teil zur Kostendeckung in Anspruch genommen werden müssen.
  3. Dass die individuelle Belastung mit Gesundheitsausgaben vor allem für chronisch Kranke und oftmals auch für Menschen mit Behinderungen weit über die Zahlung des allgemeinen und des zusätzlichen Beitrags hinausgeht, ist mit einem solidarischen Gesundheitssystem, wie die EKD es versteht, nicht kompatibel. Diese Maßnahme kann dazu führen, dass die Grenzen der individuellen Tragfähigkeit überschritten werden. Zusätzliche Ausgaben entstehen für diese Personengruppen nicht nur durch die Praxisgebühr sowie durch Zuzahlungen für stationäre Leistungen, für Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen, für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, sondern auch für Haushaltshilfen und für Fahrkosten. Dazu kommen noch privat zu tragende Ausgaben für rezeptfreie Arzneimittel und nicht oder nur zum Teil von der Gesetzlichen Krankenversicherung getragene Zusatzleistungen. Vor diesem Hintergrund sollte mit Hilfe eines breiter angelegten Konzeptes dafür Sorge getragen werden, Menschen durch die verschiedenen individuell zu tragenden Gesundheitsausgaben nicht die Fähigkeit zu entziehen, Eigenverantwortung und gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen zu können. Dazu gehört auch die Möglichkeit, eine den eigenen Bedürfnissen adäquate Kasse zu wählen.
  4. Häufig wird argumentiert, dass Verteilungsziele der Gesetzlichen Krankenversicherung durch die Verknüpfung lohneinkommensabhängiger Beitragszahlungen mit einem über das Steuersystem gewährleisteten Sozialausgleich in weitaus stärkerem Maße erreicht werden können als mit einkommensabhängigen Beitragszahlungen. Dieser Sichtweise ist insoweit zuzustimmen, als einkommensabhängige Beitragszahlungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Versicherten nur unzureichend abbilden. Zudem bezieht ein über das Steuersystem gewährleisteter Sozialausgleich auch privat Versicherte in die Einkommenssolidarität der Gesetzlichen Krankenversicherung ein. Hält man die Ausweitung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge unter Berücksichtigung dieser Argumente für notwendig, muss allerdings überlegt werden, ob es mittelfristig sinnvoll ist, den Sozialausgleich künftig ausschließlich aus Steuermitteln zu finanzieren. So entwickeln sich die Steuereinnahmen keineswegs weniger konjunkturabhängig als die Lohneinkommen, eher ist das Gegenteil der Fall. Die bei steigenden Gesundheitsausgaben notwendigen Steuererhöhungen würden zudem, ebenso wie dies bei Sozialversicherungsbeiträgen der Fall ist, stets unter der Kritik der Wachstumsfeindlichkeit, der Beschränkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Senkung individueller Erwerbsanreize stehen, soweit das zusätzliche Steueraufkommen nicht allein über Verbrauchssteuern generiert wird. In letzterem Fall würde sich jedoch keine sozial ausgewogenere Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung, sondern im Gegenteil eine massive Umverteilung von unten nach oben ergeben.
  5. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung, den Sozialausgleich nicht unmittelbar aus Steuermitteln, sondern über die – ganz anderen Zwecken dienende – Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds vorzunehmen, ist allerdings äußerst problematisch. Auch unter Berücksichtigung der für 2011 vorgesehenen Erhöhung des Bundeszuschusses um 2 Mrd. Euro würde die Liquiditätsreserve Beitragszahlungen der Versicherten beinhalten. Ein ausschließlich aus Steuermitteln finanzierter Sozialausgleich würde damit im Ergebnis gar nicht stattfinden. Dies gilt umso mehr für die Jahre 2012 bis 2014, für die keine ergänzenden Regelungen vorgesehen sind; eine solche ist erst ab 2015 vorgesehen.
  6. Mit der Erhöhung des Zusatzbeitrags ist für viele Versicherte die Frage verbunden, was im Falle von Zahlungsverzögerungen zu erwarten ist. Grundsätzlich ist es aus Anreizüberlegungen sachgerecht, Zahlungsverzögerungen zu sanktionieren. Probleme können sich allerdings dann ergeben, wenn nicht entrichtete Beitragszahlungen auf Umstände zurückzuführen sind, die nicht im Ermessen der Beitragsschuldner liegen. Dies trifft zum Beispiel dann zu, wenn sich Versicherte in Privatinsolvenz befinden; vor allem die Aussetzung des Sozialausgleichs kann in diesen Fällen zu einer Verschärfung der individuellen Situation führen. Probleme tauchen auch auf, wenn der für den Zusatzbeitrag vorgesehene Sozialausgleich nicht über den Arbeitgeber vorgenommen wird. Schwierigkeiten ergeben sich schließlich, wenn Versicherte aufgrund besonderer Situationen – z.B. chronischer Erkrankungen – zugleich Einkommenseinbußen als auch erschwerten Möglichkeiten eines Kassenwechsels unterliegen und dadurch mit Beitragszahlungen in Rückstand geraten. Die vorgesehene Regelung zu Säumniszuschlägen sollte daher Rücksicht auf bestimmte Sondersituationen nehmen.
  7. Problematisch an der bisher geltenden wie auch an der nun vorgesehenen Regelung ist, dass der um die Hälfte verminderte Beitragssatz für den Basistarif der Privaten Krankenversicherung (PKV) den für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu tragenden Beitrag regelmäßig bei weitem übersteigt. Die sich dadurch ergebende Lücke von bislang maximal 170 Euro müssen Hilfebedürftige selbst bezahlen; entsprechend vermindert sich der frei verfügbare Teil des Regelsatzes oder es tritt eine Verschuldung beim jeweiligen Unternehmen der Privaten Krankenversicherung ein. Vom Gesetzgeber muss daher verlangt werden, diese seit langem bekannte Regelungslücke endlich zu Gunsten der Hilfebedürftigen zu schließen.
  8. Insgesamt ist kritisch zu sehen, dass der vorgesehene Sozialausgleich nur bei einer zu hohen Belastung der sozialversicherungspflichtigen Einnahmen greifen soll. Hierdurch ergibt sich ein offensichtlicher Widerspruch zur Zielsetzung des Gesetzes, den Sozialausgleich künftig gerechter zu gestalten. Personen, die neben einem beitragspflichtigen Einkommen zu einem großen Teil nicht sozialversicherungspflichtige Einkommen beziehen – z.B. Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung – können somit trotz eines hohen verfügbaren Einkommens in den Genuss einer – im Extremfall vollständigen – Reduzierung des einkommensabhängigen Beitrags kommen. Diese Regelung ist ganz offensichtlich der Notwendigkeit geschuldet, den Bürokratieaufwand bei der Feststellung des Sozialausgleichs zu begrenzen. Damit wird jedoch nur umso mehr deutlich, dass die vorgesehene Regelung zum Sozialausgleich die durchaus vorhandenen Gerechtigkeitsprobleme der bisherigen GKV-Finanzierung nicht löst, sondern nur verschiebt.

3.2. Zwei-Klassen-Medizin oder Konvergenz der Systeme

3.2.1. Schrittweise Reformen verwirklichen

  1. Bei Reformmaßnahmen im deutschen Gesundheitssystem sind die historischen "Pfadabhängigkeiten" von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ebenso zu berücksichtigen wie das Vertrauen vieler Versicherter auf eine kontinuierliche Fortentwicklung; im Vordergrund muss allerdings auch eine Ausgestaltung der Krankenversicherung stehen, die heutigen Anforderungen genügt. Dabei sind vier Gesichtspunkte besonders hervorzuheben:
    1. Angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts sind die Kostenrisiken im Krankheitsfall so dramatisch gestiegen, dass sie nur von einer verschwindenden Minderheit privat zu tragen wären. Insofern ist die seit 2009 bestehende Verpflichtung aller erwachsenen Bürgerinnen und Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung ein notwendiger Schritt gewesen.
    2. Nach dem Ende der durch kontinuierliche und breite Wohlstandssteigerung gekennzeichneten Nachkriegszeit sind die Risiken der Arbeitslosigkeit und des Einkommensverlustes gestiegen und deutlich gesunkene Alterseinkommen wahrscheinlicher. Diesen Anforderungen muss eine zeitgemäße Krankenversicherung entsprechen. Dabei ist insbesondere die Situation der "neuen Selbständigen" zu berücksichtigen, die deutlich höheren Einkommensrisiken ausgesetzt sind als die klassischen Freiberufler.
    3. Beamte und Angestellte mit höherem Einkommen sollten einen ihrer begünstigten sozio-ökonomischen Situation (Arbeitsplatzsicherheit, Einkommenshöhe, gesundheitliche Situation) entsprechenden Solidarbeitrag leisten.
    4. Die Segmentierung des deutschen Krankenversicherungsmarktes führt nicht nur zu gesellschaftlich unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten in Bezug auf den Versicherungsschutz, sie kann zudem zu problematischen Verteilungseffekten führen und gravierende Ineffizienzen begünstigen. Darauf hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in verschiedenen Jahresgutachten hingewiesen.
  2. Unter diesen Voraussetzungen könnte die beste Lösung darin liegen, das unter anderen Umständen entstandene duale deutsche Krankenversicherungssystem nicht zu konservieren, sondern zu einem einheitlichen Versicherungssystem weiterzuentwickeln. Damit könnten Solidaritätsziele (als das Prinzip des sozialstaatlichen Handelns) mit effizienten Wettbewerbsvoraussetzungen (als das Prinzip privaten Handelns innerhalb eines Ordnungsrahmens) kombiniert werden. Ziel sollte ein Versicherungssystem sein, in dem der Einzelne seine Versicherung wählen kann, die ihm im Wettbewerb mit anderen als Grundleistung die Krankenvollversicherung zu Beitragskonditionen anbietet, die an seine ökonomische Situation angepasst sind. Im Sinne einer umfassenden Solidarität zwischen Menschen mit unterschiedlichem Gesundheitszustand muss zwischen den Versicherungsträgern ein morbiditätsbezogener Ausgleich stattfinden. Es sollte jedoch nicht verkannt werden, dass die Umsetzung einer solchen einheitlichen Wettbewerbsordnung ein langwieriger Prozess ist, der auf die erworbenen Rechte der Versicherten und die Geschäftsbasis der Versicherungsunternehmen Rücksicht nehmen muss; er bedarf daher vieler kleiner Schritte in die richtige Richtung. Diese können zum Beispiel darin liegen, den vom Gesetzgeber bereits eingeleiteten Systemkonvergenzprozess weiterzuentwickeln. So könnten zum Beispiel Privatversicherte in den Risikostrukturausgleich der GKV einbezogen werden, um die Risikoentmischung zuungunsten der gesetzlich Versicherten zu begrenzen. Um die PKV gleichzeitig zu entlasten, könnten zugleich die gesetzlichen Möglichkeiten der Privatversicherer, zur besseren Kostensteuerung differenzierte Einzelverträge mit Leistungserbringern abzuschließen und neue Versorgungsformen zu erproben, ausgeweitet werden.
  3. Die EKD hat sich in der 2002 veröffentlichten Stellungnahme "Solidarität und Wettbewerb. Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen" deutlich für ein wettbewerbliches Gesundheitssystem ausgesprochen. Dass das für 2011 erwartete Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung und die zukünftige Entwicklung der Gesundheitsausgaben auf eine zu geringe Wettbewerbsintensität der gesetzlichen Kassen untereinander zurückzuführen ist, wie es jetzt in dem vorliegenden Gesetzentwurf unterstellt wird, ist aber keinesfalls erwiesen. Tatsächlich sind nämlich im System der Gesetzlichen Krankenversicherung die Wettbewerbsintensität höher und die Ausgabensteigerungen deutlich geringer als im Bereich der Privatversicherung.

3.2.2. Weitere Entwicklung eines Zwei-Klassen-Systems

  1. Das jetzt vorliegende Reformvorhaben scheint entgegen solchen Analysen eher die private als die gesetzliche Krankenversicherung zu stützen. Denn allein durch die erneute Erleichterung des Wechsels zwischen den Systemen der Gesetzlichen und Privaten Krankenversicherung entstehen jetzt für die GKV zusätzliche Lasten im Ausmaß von schätzungsweise 200 Mio. Euro; Berechnungen der Gesetzlichen Krankenversicherung gehen sogar von einer Zusatzbelastung von 500 Mio. Euro aus. Mögliche Ausgabeneinsparungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die beispielsweise durch den Wettbewerb mit der Privaten Krankenversicherung entstehen könnten, werden nicht beziffert. Es ist daher fraglich, worin der Vorteil des erleichterten Systemwechsels für eine "nachhaltige Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung" liegen soll. In diesem Zusammenhang wird auf eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips abgestellt. Nach diesem Prinzip sollten Personen grundsätzlich eigenverantwortlich über den Abschluss und das Ausmaß ihres Krankenversicherungsschutzes entscheiden können, soweit sie über die dazu notwendigen finanziellen Möglichkeiten verfügen. Die seit 2009 existierende allgemeine Krankenversicherungspflicht spricht jedoch dagegen, dass der Gesetzgeber den Abschluss einer Krankenversicherung grundsätzlich zu einer vom Einkommen oder kognitiven Fähigkeiten abhängigen individuellen Entscheidung machen will.
  2. Der erleichterte Wechsel soll nach dem Willen des Gesetzgebers den Systemwettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung stärken. Nach weit überwiegender und im Bereich der Gesundheitsökonomik eindeutiger Meinung hat aber der Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufgrund massiv unterschiedlicher Wettbewerbsbedingungen eher dysfunktionale Auswirkungen, die jeden denkbaren positiven Effekt bei weitem überwiegen. So kommt ein Wechsel in die private Krankenversicherung vor allem für junge, gesunde Alleinstehende und kinderlose Doppelverdiener in Betracht. Entscheiden sie sich zu einem Wechsel, kommen der Gesetzlichen Krankenversicherung gerade solche Versicherte abhanden, die über einen positiven Deckungsbeitrag maßgeblich zur Gewährleistung des Solidarausgleichs beitragen. Zudem führt der Wettbewerb zwischen den Systemen um junge Neukunden dazu, dass Unternehmen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung die Gestaltung ihrer Prämien und Leistungen auf diesen Personenkreis konzentrieren; entsprechend sinkt ihr Anreiz, auf die sich im Lebenslauf wandelnde Bedürfnisse der Versicherten einzugehen und z.B. die Versorgung bei chronischen Erkrankungen oder im höheren Lebensalter wirksam und kosteneffizient zu gestalten. Problematisch sind darüber hinaus die Auswirkungen der verschiedenen Vergütungsstrukturen für Leistungserbringer in beiden Systemen. Die höheren Vergütungssätze im System der Privaten Krankenversicherung sowie die dort fehlenden Leistungsmengenbegrenzungen setzen vor allem im ambulanten Bereich finanzielle Anreize, Privatversicherte bei der Allokation medizinischer Leistungen zu bevorzugen. Folge kann eine Fehl- und Überversorgung Privatversicherter und eine entsprechende Unterversorgung gesetzlich Versicherter sein. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die im GKV-FinG verortete Erleichterung des Systemwechsels zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung dem Ziel einer Finanzierungsstärkung der Gesetzlichen Krankenversicherung sowohl direkt durch den Verlust von Versicherten mit positivem Deckungsbeitrags als auch indirekt durch die dysfunktionalen Auswirkungen des Systemwettbewerbs entgegensteht.

3.3. Ökonomische und professionelle Steuerung

3.3.1. Grenzen des Marktes wahrnehmen

  1. "Gesundheit" ist in den letzten beiden Jahrzehnten zum Leitbegriff eines sich neu formierenden Wirtschaftssektors geworden, der von vielen als ein Feld für Innovation und Investitionen, für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze angesehen wird. Der "Gesundheitsmarkt" reicht weit über die klassischen Felder der Krankenversorgung und Rehabilitation hinaus, zu ihm rechnen sich nicht nur Arznei- und Hilfsmittelhersteller, sondern auch Unternehmen, die Nahrungsmittel herstellen oder Reisen anbieten. Die Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt wird entsprechend nicht mehr nur von Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung getragen, sondern von einer zunehmenden privaten Nachfrage, von der Haushalte mit niedrigem Einkommen allerdings praktisch ausgeschlossen sind.
  2. Aus diesem Grunde ist eine sozialstaatliche Rahmung dieser Entwicklung dringend geboten:
    1. Aus theologischer Sicht warnt die EKD vor einer Überhöhung des Wertes der Gesundheit, bei der Gesundheit zum höchsten Gut und damit zu einer Form von " Religionsersatz" wird, während zugleich verdrängt wird, dass Krankheit und Tod, Schmerzen und andere Beschwerden zur Realität menschlichen Lebens gehören und Wirklichkeiten des Glaubens und der Gemeinschaft erschließen, die uns sonst verschlossen blieben.
    2. Im Sinne größerer politischer Transparenz erscheint es sinnvoll, in der öffentlichen Debatte deutlich zwischen Leistungen zu unterscheiden, die Not wenden, und solchen, die individuelles Leben angenehmer und leistungsfähiger machen. Zu den "notwendigen" sind alle diejenigen Leistungen zu zählen, die die Not der Krankheit und des krankheits- oder behinderungsbedingten gesellschaftlichen Ausschlusses abwenden oder lindern.
    3. Im Sinne einer solidarischen Gesellschaft ist darauf zu achten, dass alle Bürgerinnen und Bürger die nach medizinischem Wissensstand notwendigen Leistungen verlässlich erhalten. Einen Gesundheitsmarkt, der notwendige Leistungen nach Kaufkraft verteilt, lehnt die EKD entschieden ab.
    4. Im Sinne eines qualitativ hochwertigen, beziehungsorientierten Gesundheitswesens muss die professionelle Steuerung von Ärztinnen und Ärzten, von Pflegenden und anderen Gesundheitsberufen respektiert und gegenüber einer rein an Managementlogik ausgerichteten ökonomischen Steuerung gestärkt werden.

3.3.2. Kostendämpfung allein genügt nicht

  1. Die Träger der Einrichtungen und Dienste im Gesundheitswesen befürchten einheitlich, dass in Folge der vorgesehenen Kostenbegrenzungen bei der Steigerung der Lohnsummen wie bei der Refinanzierung zusätzlicher Leistungen mit einer Kürzung von bis zu 20.000 Stellen in diesen Bereichen zu rechnen ist. Das trifft gerade die Berufsgruppen – wie die Pflege – , in denen angesichts des demographischen Wandels absehbar Fachkräfte fehlen werden oder die – wie die Medizinerinnen und Mediziner – schon jetzt aufgrund wachsenden Arbeitsdrucks und problematischer Arbeitsbedingungen die Beschäftigung bei anderen Trägern wie z.B. Versicherungen oder Anstellungsverhältnisse im Ausland vorziehen. Notwendig ist deshalb die Rückkehr zu einer ordnungspolitischen Steuerung, mit deren Hilfe die in den letzten Jahren eingeleiteten Maßnahmen zur Hebung von Effizienzreserven im Gesundheitssystem fortgesetzt werden können. Dazu zählt auch die Weiterentwicklung der integrativen Versorgung, die die Potenziale im Gemeinwesen einbezieht.
  2. Dass die Einsparungen auf Seiten der Leistungserbringer stattdessen mit Hilfe schlichter Kostendämpfungsmaßnahmen erreicht werden sollen, ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber den in den letzten Jahren auf den Weg gebrachten Regelungen zu einer verstärkt auf Wettbewerbsanreize setzenden Ausgestaltung der Leistungserstellung. Damit werden gerade diejenigen Leistungserbringer benachteiligt, die in den vergangenen Jahren durch Weiterentwicklung der medizinischen und pflegerischen Versorgung Innovationspotentiale gehoben haben. Pauschale Ausgabenbegrenzungen setzen keine Anreize zu einer wirtschaftlichen Leistungserstellung, sondern bergen die Gefahr, dass auch Leistungserbringer zum Instrument einfacher Sparmaßnahmen oder – im schlimmsten Fall – verdeckter Rationierung greifen.
  3. Gute Gesundheitspolitik ist mehr ist als eine strukturelle Anpassung der Versicherungssysteme und des Gesundheitsmarktes. Gute Gesundheitspolitik hat gesellschaftliche Ungleichheiten im Blick und bezieht Themen wie Gesundheitserziehung, Förderung der Eigenverantwortung, Entwicklung der solidarischen Kräfte in Nachbarschaften und Stadtteilen oder das Bemühen um "gesunde Städte" und "betriebliches Gesundheitsmanagement" ein. Dazu gehört auch, "echte Eigenverantwortung", Souveränität der Versicherten und Engagement von Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn in der Zusammenarbeit mit professionellen Kräften zu stärken. Hier liegen wichtige Quellen zur Gesundung. Aber auch eine bessere Verzahnung von Kranken- und Pflegeversicherung wie von stationären und ambulanten Leistungen ist angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen und des demographischen Wandels überreif. Zurzeit werden viele dieser gesundheitsrelevanten Themen nicht in den Verantwortungsdiskurs einbezogen und auch öffentlich zu wenig debattiert. Die Ausklammerung solcher Fragen und die Beschränkung auf die reine Finanzierungs- und Versicherungsthematik führt letztlich zu dem "systemimmanenten Sparzwang" und Kurieren an Zuständigkeiten bei gleichzeitiger Forderung nach Eigenverantwortung der Verbraucher, durch die auch die derzeitige Gesetzgebung gekennzeichnet ist. Die EKD wird sich in einem folgenden, umfassenderen Text auch zu diesen hier angeschnittenen Fragen äußern.
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