Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel

Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu den aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen, EKD-Text 110, 2010

1. Eine stille Revolution

  1. Die Evangelische Kirche in Deutschland geht aufgrund vieler Umfragen davon aus, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung ein solidarisches Gesundheitssystem wünscht. Dabei hat die EKD schon in ihren letzten Denkschriften zur Reform des Gesundheitssystems (zuletzt "Solidarität und Wettbewerb", 2004) deutlich gemacht, dass sie nicht unbedingt einen Gegensatz zwischen Solidarität auf der einen und Eigenverantwortung und Wettbewerb auf der anderen Seite sieht. Wohl aber sieht sie die Gefahr, dass mit einer fälschlich der Eigenverantwortung zugewiesenen Absicherung der Risiken, die jeden Versicherten treffen können, genau denjenigen, die sich aus den verschiedensten Gründen mit den Herausforderungen des Lebens in unserer Gesellschaft schwer tun, elementare Bedingungen zu einem eigenverantwortlichen Leben entzogen werden. Das Bündel der Zuzahlungen, die nun noch erhöht werden sollen, trifft gerade die Menschen überproportional, die knapp oberhalb der Schwelle von Transferleistungen leben. Sie müssen einen höheren Prozentsatz ihres Nettoeinkommens für Gesundheitsleistungen ausgeben als Versicherte mit mittlerem oder höherem Einkommen. Diese Menschen, die trotz eines niedrigen Einkommens für ihren eigenen Unterhalt sorgen und dabei keine oder kaum Transferleistungen erhalten, müssen angesichts der Häufung solcher und ähnlicher Maßnahmen in der Sozial- und Gesundheitspolitik den Eindruck gewinnen, dass ihre oft mühevolle Leistung eher bestraft als belohnt wird.
  2. Die "stille Revolution" hin zu einer stärkeren Betonung einer einkommensunabhängigen Finanzierung der GKV und die Diskrepanz zwischen Anspruch und Beförderung von Eigenverantwortungsidealen gerade gegenüber sozial Schwächeren veranlassen die Evangelische Kirche in Deutschland, eine verstärkte gesellschaftliche Debatte zu Zielen der Gesundheitspolitik anzumahnen. Dabei versteht sich die evangelische Kirche als Anwältin für sozial Schwache. Sie will denen, die wenig Lobby im Verbändesystem haben, eine Stimme geben. Auch ist der EKD wichtig, dass die Gesundheitsreform eine über medizinisch-technische Innovationen hinausweisende Beziehungsorientierung in der Beratung, Behandlung und Pflege kranker Menschen achtet und keinesfalls zurückdrängt. Nicht zuletzt die vielen im Gesundheitswesen arbeitenden Fachkräfte sind auf eine sensible, menschenfreundliche Atmosphäre und auf eine gute Kommunikation zwischen den verschiedenen Professionen, aber auch zwischen ambulanten und stationären Diensten angewiesen. Eine solche Option für eine beziehungsorientierte, dialogische und damit kommunikative Gesundheitsversorgung ist schon deshalb nötig, weil letztlich existentielle Fragen von Betroffenen berührt sind, wo fachliche und ökonomische Entscheidungen getroffen werden. Ein rein ökonomisch getriebener Steuerungsoptimismus oder vorrangige Gewinnorientierung greifen zu kurz.
  3. Schließlich ist zu beachten, dass viele Fragen der Gesundheitsversorgung gar keine körperlich-medizinischen Probleme betreffen, sondern sozialer oder psychosozialer Natur sind. Wichtiger als eine bloße Effizienzsteigerung ist deshalb das Nachdenken über eine bessere, Sektoren übergreifende, integrative Gesundheitspolitik. Es geht dabei auch um eine bessere Vernetzung im Gemeinwesen, die in eine umfassende Sozial- und Bildungspolitik eingebettet sein muss.

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