Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel

Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu den aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen, EKD-Text 110, 2010

2. Theologische und sozialethische Kriterien für die Gesundheitspolitik

  1. Nach christlicher Glaubensüberzeugung sind alle Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen. Grundlos und aus Liebe hat Gott den Menschen zu seinem Dasein erwählt. Dieses Würdeprädikat soll jedem Versuch der Verzwecklichung eines Menschen wehren – einfach, weil er Mensch ist. Wer sein Leben von dieser Glaubensaussage über Gott und die Menschen her versteht, sieht den Menschen in einer einzigartigen Verantwortung für die Welt, seine Mitmenschen und damit auch für die Gestaltung seiner sozialen Beziehungen. Zugleich entlastet das Vertrauen in Gott davon, schon mit dem eigenen Tun perfekte Glücks- und Gemeinschaftszustände erzielen zu müssen. Ein Leitmotiv des Alten Testaments sind die Erzählungen der treuen Zuwendung Gottes zu Israel, von den verschiedenen Bundesschlüssen über die Zentralgeschichte der Befreiung aus Ägypten bis hin zu den vielen Berichten der Gefährdungen des Volkes von innen und außen. Prophetische Worte und Zeichenhandlungen prangern Unrecht, Untreue und Ausbeutung als Taten an, die einem Leben vor Gott widersprechen. Aus den Ermutigungen und der Ermahnung zieht Israel durchaus selbstkritisch immer wieder den Schluss: So wie Gott sich uns zugewandt hat und sich durchweg und bedingungslos als treu erweist, so soll diese Gemeinschaftstreue das Miteinander unter den Menschen prägen. Entsprechend sind die Armen, Schwachen und Unterdrückten im Blick zu behalten, in ihrem Leiden mit zu tragen und möglichst aus Not zu befreien. Der dabei leitende, heute fremd anmutende Begriff der Gemeinschaftstreue (sedaka) changiert zwischen den modernen Konzepten von Solidarität und Gerechtigkeit: Das soziale Miteinander in Israel ruht – so könnte man das heute reformulieren – auf der Grundlage der Solidarität, weil die vor Gott gelebte Gemeinschaft Identität und Motivation zur wechselseitigen Unterstützung stiftet. Gerecht ist die Gemeinschaft dann, wenn sie elementare Bedingungen für ein gutes gemeinsames Leben schafft.
  2. Die christliche Sozialethik hat den Zug der alttestamentlichen Botschaft, alle Menschen zu würdigen und dabei besonders die am Rande Stehenden im Blick zu behalten, die "vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten" (Vgl. a.a.O., Abschnitt 3.3.2.) genannt. Die Kirche glaubt, dass die befreiende Zuwendung Gottes, die ein achtsames Leben der Menschen miteinander und füreinander eröffnet, in und durch Jesus Christus allen Menschen gilt. Wenn der unendliche Gott Mensch wird, zeigt dies wie nichts anderes, dass menschliches Leben Würdigung erfährt. Jesus als Prediger hat immer wie- der Schwache und insbesondere Kranke in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt. So wollte er deutlich machen, dass gerade mit ihnen das neue Leben anbrechen kann. Kranksein führt nicht zum Ausschluss aus der Gemeinschaft mit Gott. Kranksein, eine Behinderung haben oder pflegebedürftig sein, darf deshalb auch nicht aus der Gemeinschaft der Menschen ausschließen. In den guten Traditionen des Christentums ist die Erwartung und Gewissheit, in den Kranken und Schwachen immer auch Christus zu begegnen, von der das Gleichnis vom "großen Weltgericht" (Matth. 25) erzählt, ein intensiver Ansporn gewesen. Medizinische Kunst und vor allem Krankenpflege wurden und werden als ein christlicher Liebesdienst, als caritas und diakonia, verstanden. Unsere heutigen solidarischen Sozial- und Gesundheitssysteme sind gar nicht denkbar ohne die Brücke, die die christliche Armen- und Krankenfrömmigkeit von ihren Anfängen in der Urgemeinde bis heute geschlagen hat.
  3. Der Focus auf die Menschenwürde und die gleichzeitige Anwaltschaft für die Armen, Schwachen und Benachteiligten zielt auf die Stärkung ihrer eigene Kräfte und prägt die Sozialverkündigung der christlichen Kirchen bis heute. Vor diesem Hintergrund ist es gut und gerecht, dass alle Menschen die Möglichkeit erhalten, ihre eigene Persönlichkeit frei zu entwickeln und sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Gerade in der komplizierten modernen Gesellschaft bedarf es dazu vielfältiger Voraussetzungen. Eine kontextlose Rede von Freiheit und Eigenverantwortung des Einzelnen erweist sich allzu oft als ein Versuch, denen, die sich mit den Herausforderungen des Lebens in unserer Gesellschaft schwertun, solche elementaren Bedingungen nicht zu gewähren oder zu entziehen. In dem und über den Rahmen eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates hinaus bedarf es dazu starker sozialer Beziehungen, eines Bildungssystems, das den Einzelnen im Blick behält und fördert, und materieller wie ideeller Ressourcen. Diese Voraussetzungen sind meist sehr ungleich gegeben und können zudem sehr unterschiedlich genutzt werden. Eine Gesellschaft, die allen ihren Mitgliedern wirkliche Chancengleichheit ermöglichen will, muss diese Dynamiken im Blick behalten, die für die einen eher Nachteile, für die anderen eher Vorteile bringen.
  4. Eine Reihe internationaler Untersuchungen zeigt, dass ein Zusammenleben in Gesellschaften, die ein geringeres Maß an Ungleichheiten zulassen, in aller Regel die Entwicklung von Bildung und Gesundheit, aber auch die Stabilität von Familien fördert und Kriminalitätsraten sinken lässt. Bei geringerer gesellschaftlicher Spreizung ist das Vertrauen in Politik und Institutionen größer – nicht zuletzt deshalb, weil diejenigen mitgenommen werden, die zur Eigenverantwortung bereit sind. Eine weitere "Entsolidarisierung" zwischen denen, die sich, auch bei geringer werdenden Einkommen, um Lebensunterhalt und Gesundheit sorgen, und denen, die zu den "Gewinnern" der gesellschaftlichen Entwicklung gehören, ist deshalb nicht nur ethisch problematisch, sondern kann auch zu höheren Folgekosten führen. Die immer lauter werdende öffentliche Kritik an der "Zwei-Klassen- Medizin" ist deshalb als gesellschaftliches Signal sehr ernst zu nehmen.
  5. Die EKD erinnert in diesem Zusammenhang an die bisher tragenden Grundlagen des Gesundheitssystems in Deutschland. Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung verkörpert es die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Armen und Reichen, Männern und Frauen, Jungen und Alten, Alleinstehenden und Verheirateten, Kinderlosen und mehr oder weniger Kinderreichen. Darüber hinaus wurde der Grundsatz der Beitragsstabilität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Bereich der GKV im Wesentlichen beachtet. Damit wurden die Ausgaben bis heute einigermaßen zuverlässig im Rahmen gehalten, während es in der privatwirtschaftlich organisierten Privaten Krankenversicherung (PKV) in den letzten beiden Dekaden zu etwa doppelt so starken jährlichen Prämiensteigerungen gekommen ist, wie in der GKV.
  6. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Leistungszusage der Gesetzlichen Krankenversicherung sich auf die notwendigen und zweckmäßigen Behandlungen beschränkt, also keinesfalls alles Machbare und Wünschenswerte umfasst. Die Verpflichtung zur Evidenzbasierung der von der GKV finanzierten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist hier ebenso wichtig wie der geforderte "Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen", der auch gesetzlich festgeschrieben ist. Damit entsprechen die rechtlichen Kriterien des solidarischen Sicherungssystems in Deutschland durchaus den oben dargelegten sozialethischen Kriterien und sind durch sie geprägt.
  7. Für den Gesamtbestand der Versicherten gesetzlicher Krankenkassen garantiert das Umlageverfahren stets einen Ausgleich zwischen eingezahlten Beiträgen und Gesundheitsleistungen, für einzelne Versicherte gilt das jedoch in der GKV – anders als in der PKV – bei der Kalkulation der Beiträge nicht. Damit gilt aus der Perspektive der Versicherten für den Kern der Leistungen der GKV grundsätzlich das kollektive, nicht aber das individuelle Äquivalenzprinzip. Für die gesetzlichen Kassen wird jedoch mit den risikostrukturabhängigen Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds ("Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich") auch in der GKV eine Annäherung an das individuelle Äquivalenzprinzip erreicht, denn die Beitragszuweisungen an einzelne Kassen entsprechen den erwarteten Leistungsausgaben ihres spezifischen Versichertenbestandes. Darüber hinaus wird inzwischen für Leistungen außerhalb des Kernbereichs der GKV auch im Blick auf gesetzlich Versicherte das individuelle Äquivalenzprinzip tendenziell umgesetzt. Insofern verändert die weitere Entwicklung von Wahlleistungen auch die grundsätzliche Ausrichtung der solidarischen Krankenversicherung.

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