Evangelische Verantwortungseliten

Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011

Vorwort

Ein Mann kommt zu Jesus und fragte: "Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben bekomme?" Jesus erinnert ihn an die zehn Gebote. Der Mann antwortet: "Ja, die kenne ich und habe versucht, sie alle zu beachten." Darauf Jesus: "Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!" Der Mann geht traurig davon, denn er hatte viele Güter.

Was fehlt dem sprichwörtlich gewordenen "reichen Jüngling", von dem die Bibel erzählt? Gewiss zählte er zur damaligen Elite. Doch zu welcher? Nach evangelischem Verständnis konstituiert sich Elite neben dem schlichten Vorhandensein von Gaben, Fähigkeiten und Gütern auch durch eine besondere Haltung und eine besondere Motivation: Der Reichtum von Gaben, Fähigkeiten und Gütern wird eingesetzt, um für andere Menschen und für das Gemeinwesen da zu sein.

Es gibt in Deutschland aller berechtigten Elitenkritik zum Trotz eine große Zahl von Menschen, die sich bewusst in einem solchen Sinne als Elite verstehen, nämlich als "Elite für andere". Diese Menschen möchten ihre besonderen Gaben, Fähigkeiten und Güter, die sie empfangen haben, nachhaltig für andere und für das Gemeinwesen einsetzen. Diese spezifische Motivation und die Bereitschaft, diese praktisch umzusetzen, macht eine moderne Elite aus.

Die Elite von heute, um die es in diesem Text gehen soll, entsteht weder allein durch Herkunft noch durch Selbstdefinition, weder durch reine Erfolgskriterien noch gar durch genealogische Abstammung, sondern sie entsteht durch die bewusste Übernahme von Verantwortung. Ein großer Teil dieser Funktionselite wird in unserem demokratischen System auf Zeit gewählt und erfüllt seine wirkmächtigen Aufgaben durch ein reflektiertes Bewusstsein seiner Verantwortung für die Allgemeinheit. Ein kleinerer Teil ist durch Herkunft oder andere zufällige Fügung dauerhaft in der Lage, in besonderem Maße wirkmächtige Aufgaben wahrnehmen zu können. Für beide Gruppen ist der Wille verantwortlich zu dienen, die entscheidende Motivation für ihr Wirken.

Im engeren Sinne handelt diese Orientierung von einer spezifisch evangelischen Verantwortungselite. Zu ihr gehören Mitglieder der evangelischen Kirche, die sich das evangelische Verständnis von Freiheit und Verantwortung in besonderer Weise zu eigen gemacht haben so wie es der Apostel Paulus grundlegend formuliert hat: Ihr aber "seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht der Selbstsucht Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem anderen. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst`" (Galater 5, 13 f).

Die evangelische Kirche hat diesen Eliten viel zu verdanken. In den vergangenen Jahrzehnten drohte ein falsch verstandener Egalitarismus in unserer Kirche zu verhindern, dass evangelische Verantwortungseliten ihre Kraft entfalten konnten. Dies ist vielerorts erkannt worden. Dennoch haben viele Menschen immer noch das Gefühl, in unseren Gemeinden und damit in unserer Kirche nicht willkommen zu sein. Das gilt nicht nur für soziale Randgruppen, sondern auf der anderen Seite auch und gerade für diejenigen, die sich bewusst und gerne zur evangelischen Verantwortungselite zählen.

Vor dem Hintergrund solcher Phänomene ist es nötig, die Mitglieder dieser Elite gezielt und differenziert von Seiten der evangelischen Kirche anzusprechen und einzuladen. Sie sollen sich willkommen fühlen, und sie sollten in ihrem Verantwortungsgefühl und ihrem Selbstverständnis als "Elite für andere" bestärkt werden, denn unsere Kirche braucht ihre Anwesenheit, Mithilfe und Strahlkraft. Wenn sie nur traurig werden und gehen, obwohl sie anders als der reiche Jüngling ihren Reichtum an Engagement, Einfluss und Gestaltungskraft gerne in den Dienst stellen wollen, ist weder ihnen noch unserer evangelischen Kirche noch auch dem Nächsten gedient. Ich danke allen herzlich, die an diesem Text mitgearbeitet haben; ich wünsche dem Text eine große Verbreitung und eine lebhafte Diskussion in protestantischer Vielfalt!

Hannover, im März 2011

Präses Nikolaus Schneider

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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