Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965

Vorwort

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die als kirchliche Gemeinschaft in das politische Spannungsfeld zwischen Ost und West gestellt ist, beobachtet mit wachsender Sorge, daß die Wunden, die der Zweite Weltkrieg im Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn geschlagen hat, bis heute, 20 Jahre nach seinem Ende, noch kaum angefangen haben zu verheilen. Ein wesentlicher Grund dafür ist auf deutscher Seite, daß die Besetzung der deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Sowjetrußland und Polen und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus diesen Gebieten und aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei sowie im übrigen Osten und Südosten Europas Probleme aufgeworfen haben, die bisher nicht zureichend gelöst worden sind. Die öffentliche Erörterung dieser Probleme nimmt in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) einen breiten Raum ein; der von den Sprechern der Vertriebenen immer neu erhobene, von der Bundesregierung mehrfach in öffentlichen Erklärungen bestätigte Anspruch auf Wiederherstellung des früheren Rechtszustandes mit friedlichen Mitteln bildet hier einen gewichtigen Faktor der Innen- und Außenpolitik.

Die Kirche ist von dieser Unruhe und Ungewißheit unter den Vertriebenen stark mitbetroffen. Auch in ihren Reihen wird Lebhaft, oft mit Erbitterung, in Diskussionen und Erklärungen kirchlicher Gruppen über die theologischen und ethischen Fragen des Vertreibungsproblems und die daraus zu ziehenden politischen Folgerungen gestritten. Sie hält es daher um ihrer Verantwortung für diese Menschen willen, aber auch im Blick auf den ihr an ihrem Ort aufgetragenen Dienst für den Frieden zwischen den Völkern für ihre Pflicht, diesen Problemen und den Wegen zu ihrer Lösung nachzugehen. Sie kann und will sich damit nicht an die Stelle der zum politischen Handeln Berufenen setzen, aber sie kann hoffen, einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zur Urteilsbildung zu leisten, einige der bestehenden Spannungen zu beseitigen und damit die Wege zum politischen Handeln zu ebnen.

Die Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung hat sich unter dem Vorsitz von Professor D. Dr. Ludwig Raiser, Tübingen, dieser Aufgabe in der nachfolgenden Denkschrift unterzogen, die mit Zustimmung des Rates der EKD veröffentlicht wird. Für die ganze Darstellung sind nur die aus den westlichen Gliedkirchen der EKD stammenden Mitglieder der Kammer verantwortlich. Die ganz unterschiedliche Lage der öffentlichen Diskussion und der politischen Behandlung der Probleme in den beiden Teilen Deutschlands hat die Kammer genötigt, sich im wesentlichen auf die Darstellung der Lage in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) zu beschränken; auch die völkerrechtlichen Darlegungen mußten von der Diskussionslage im westlichen Teil Deutschlands ausgehen. Für das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn sind besonders die deutsch-polnischen Fragen herausgegriffen, da hier die Schwierigkeiten am größten sind. Doch bestehen auch gegenüber anderen Völkern ähnliche Aufgaben einer gemeinsamen Bewältigung der Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkrieges. Trotz dieser Beschränkung der Aufgabe war sich die Kammer, ebenso wie der Rat, stets bewußt, daß es sich um Probleme handelt, die das ganze deutsche Volk angehen. Ihre Lösung steht in engem Zusammenhang mit der Aufgabe, die notvolle Spaltung Deutschlands zu überwinden.

Berlin, den 1. Oktober 1965

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland

D. Scharf

Ostdenkschrift 1965 (pdf)

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