Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965

II. Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche

Das Schicksal der Vertreibung hat den Zusammenhang des Menschen mit seiner Umwelt erneut verdeutlicht, vielleicht auch vielen Betroffenen erst wieder bewußtgemacht. Deshalb haben die Vertriebenen ihr Schicksal nicht nur als eine besonders tiefgreifende und langwierige Lebenskrise empfunden. Man muß vielmehr sagen, dass ein solcher Verlust der Heimat mit der Zerstörung aller ihrer Bindungs- und Schutzelemente und mit der zunächst eintretenden Besitzlosigkeit und Rechtsunsicherheit eine umfassende Erschütterung, ein Zerbrechen der bisherigen Lebensbasis bedeutet. Bei allem, was man in Kirche, Staat und Gesellschaft zu Problemen der Vertriebenen sagt, muß bedacht werden, daß die Vertreibung eine Unsicherheit in der Umweltbeziehung, ein verletztes Rechtsgefühl und ein Mißtrauen gegenüber der Zukunft bei den Betroffenen zur Folge hat. Wenn die Zeit seither auch Milderungen hat eintreten lassen, so muß man doch damit rechnen, daß viele Vertriebene bis an ihr Lebensende von der Grunderfahrung der Vertreibung bestimmt bleiben und sich als Heimatlose fühlen werden.

1. Die vorliegende Denkschrift will den Anforderungen nachgehen, die diese Erfahrung an den christlichen Glaubensgehorsam der Vertriebenen und der sie aufnehmenden Gemeinden gestellt hat und weiterhin stellt. Aber da sich dieser Gehorsam nicht abseits des täglichen Lebens und seiner äußeren Bedingungen vollzieht, ist es notwendig, zuvor einen Blick auf die gesellschaftliche und sozialpolitische Lage der Vertriebenen zu werfen.

Jeder Versuch, diese Dinge darzustellen, ist allerdings sehr durch den Umstand erschwert, daß zureichende wissenschaftliche Untersuchungen, die das Problem in seiner ganzen Vielfalt ins Auge fassen, bis heute fehlen. Einzeluntersuchungen, die meist zehn oder mehr Jahre zurückliegen, arbeiten mit einer zu kleinen Zahl von Befragten, um - gar noch für den heutigen Stand - Aufschlüsse zu geben. Die laufende Vertriebenenstatistik läßt nur sehr allgemeine Schlüsse zu; sie vermittelt auch nur ökonomische Daten und gibt über den Stand der gesellschaftlichen Eingliederung keine Auskunft. Eine genauere Darstellung müßte berücksichtigen, daß die Vertriebenen keine durch gleichartige gesellschaftliche oder wirtschaftliche Merkmale bestimmbare Gruppe bilden, sondern sich wesentlich nach ihrer landsmannschaftlichen Herkunft, ihrem Lebensalter, ihrer früheren sozialen Stellung (besitzendes Bürgertum, Bauern, Beamte, Angestellte, Arbeiter) und nach dem Zeitpunkt und dem Hergang ihrer Vertreibung unterscheiden. Wie stark diese Faktoren aber auf ihre heutige Lage und ihre Einstellung zu ihrem Schicksal einwirken, wie groß insgesamt und innerhalb der erwähnten Gruppen die Zahl derer ist, die die Erschütterung, von der eingangs die Rede war, nicht haben überwinden können und die sich bis heute gesellschaftlich zurückgesetzt, von ihrer Umwelt nicht ausreichend geachtet oder doch mißverstanden fühlen, kann nur nach unsicheren Indizien geschätzt werden. Dabei wäre es für die praktischen Hilfeleistungen der Kirche, sosehr ihr das Schicksal jedes einzelnen am Herzen liegen Muß, und erst recht für alle staatlichen Maßnahmen von großem Gewicht, zuverlässig zu erfahren, wie es sich damit verhält. Angesichts der einander widersprechenden Behauptungen, die darüber in der politischen Auseinandersetzung um das Vertriebenenproblem aufgestellt werden, ergibt sich also als erste Voraussetzung verantwortlicher Politik die Aufgabe, den heutigen Sachverhalt so gut wie möglich zu klären.

Allerdings wäre der Zweck einer solchen Untersuchung verfehlt, würde man sie auf die Frage beschränken, wie weit die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen im Sinne einer Sicherung ihrer äußeren Lebensbedingungen gelungen ist. Zwar beruhigt sich die öffentliche Meinung weithin mit einer pauschal getroffenen Feststellung dieses Erfolges. Das mag den Maßstäben unserer Zeit entsprechen, die den materiellen Lebensstandard und die soziale Sicherheit so hoch bewertet. Es ist aber ein grobes Mißverständnis anzunehmen, man könne ein soziales Problem, das immer zugleich ein menschliches und politisches ist, allein mit wirtschaftlichen Mitteln lösen. Wir müssen also fragen, wieweit außer der wirtschaftlichen Sicherung sich auch eine innere menschliche, gesellschaftliche, geistige und politische Eingliederung vollzogen hat.

Im folgenden können als Antwort auf die so differenzierte Fragestellung nur wenige, einigermaßen verläßliche Daten angeführt werden. Jene wirtschaftliche Pauschalfeststellung trifft insofern zu, als nackte Not heute auch unter den Vertriebenen die Ausnahme darstellt. Immerhin dürfte der Personenkreis, dessen Einkommen am Rande des Existenzminimums liegt, bei den Vertriebenen etwa dreimal so hoch sein wie bei den Einheimischen. Laufende Unterstützung der Sozialhilfe empfangen 1,4 % der Einheimischen, die vergleichbare Unterhaltshilfe 5,8 % der Vertriebenen. Dabei verfügen nichtvertriebene Sozialhilfeempfänger im Normalfall über mehr materielle Substanz und haben größere Aussicht auf Familien- und Freundeshilfe als die Vertriebenen.

Es trifft weiterhin zu, daß es eine strukturelle Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und so auch der Vertriebenen seit etwa zehn Jahren nicht mehr gibt. Auch das lastendste Problem des Wohnungsmangels nähert sich der Lösung. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß nur etwa halb so häufig Vertriebene Eigentümer der von ihnen bewohnten Wohnungen sind wie Nichtvertriebene (18,2 %:37,2 %). Insofern hat also ein Ausgleich noch nichtstattgefunden. Von dem speziellen Problem der Wohnungsnot Alleinstehender und vor allem alleinstehender alter Menschen werden die Vertriebenen viel unmittelbarer und ganz anders betroffen als die einheimische Bevölkerung. Auch das Problem der Einsamkeit stellt sich für Vertriebene vielfach härter als für Einheimische.

In Fragen der sozialen Sicherheit bedeuten das Fremdrentengesetz, die Novelle zum Auslandsrentengesetz und die Übernahme der Rentenleistungen an alle Kriegsbeschädigten, auch die Regelung der Beamtenversorgung nach Artikel 13 i des Grundgesetzes, in die auch die Vertriebenen einbezogen sind, wichtige Maßnahmen. Damit sind alle früheren Arbeitnehmer in Versicherung und Versorgung voll gleichgestellt. Es darf auch nicht übersehen werden, daß diese Rentenleistungen noch einmal die gleiche Summe erfordern wie der Lastenausgleich. Aber es bleibt ein großer Kreis derer, die unzureichend oder gar nicht versorgt sind, weil sie niemals oder erst verhältnismäßig spät ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis aufgenommen haben. Man kann auch hier von einem allgemeinen Problem sprechen, aber dieses allgemeine Problem trifft zahlenmäßig die Vertriebenen besonders hart. So ist die Altersversorgung der früher Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen ein spezielles Vertriebenenproblem.

Die Lastenausgleichsgesetzgebung wird mit Recht als eine bedeutsame Leistung angesehen, die eine hervorragende Wirkung auf die soziale und wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen ausgeübt hat. Aber ein voller Ausgleich war dieser Lastenausgleich nie. Da sich die Erfüllung der Entschädigungen aus mancherlei Gründen stark verzögert hat, sind die Vertriebenen auch weiterhin hinter der allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben und in der Vermögensverteilung benachteiligt worden. Es muß auch auf die große Unterschiedlichkeit der Entschädigung vergleichbarer Verluste in der Bundesrepublik und in den Vertreibungsgebieten aufmerksam gemacht werden, die von den Vertriebenen als ungerecht empfunden werden. Wenn von den Vertriebenen das Ja zum Gericht Gottes gesprochen werden soll, wenn es nur in der Solidarität mit der Gesamtheit des ganzen Volkes gesprochen werden kann, dann müßte das in dieser Gesetzgebung seinen wirtschaftlichen Ausdruck finden. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, so daß es hier dringend weiterer Verbesserungen bedarf.

So hat zwar die überwiegende Mehrheit der Vertriebenen einen den Einheimischen fast vergleichbaren Einkommens- und Lebensstandard erreicht, aber ihnen fehlen weithin die heute sonst möglichen Wege zu einer nennenswerten Vermögensbildung. Da die Eigentums- und Vermögensbildung erklärte Ziele unserer Gesellschaftspolitik sind, empfiehlt die Kirche um der Gerechtigkeit willen, hier bessere Lösungen zu finden.

Mit diesen kritischen Bemerkungen stoßen wir zu dem Punkt vor, der heute wohl den Kern des Vertriebenenproblems ausmachen dürfte: zur Stellung der Vertriebenen in der Gesellschaft und zu ihrer Haltung gegenüber der Gesellschaft. Die ganze Entwicklung dieses Problems mit allen menschlichen Erniedrigungen, denen die meisten Vertriebenen ausgesetzt waren, der ganze Komplex mangelnder gesellschaftlicher Aufnahme und Anerkennung soll hier nicht geschildert werden. Zurückgeblieben ist ein Trauma, dem die Berechtigung heute vielfach abgesprochen wird. Dieses Trauma belastet unser gegenseitiges Verhältnis. Es erzeugt Empfindlichkeit auf der einen Seite, die einer sachlichen Aussprache im Wege steht, auf der anderen Seite eine Reserviertheit, die weitgehend auf mangelnder Information oder sogar auf schlechtem Gewissen beruht. Es gibt dabei Fragen, denen man nicht aus dem Wege gehen sollte.

Die Statistiken zeigen, daß die Vertriebenen weit über den Rahmen der allgemeinen sozialen Umstrukturierung der Bevölkerung hinaus vom sozialen Abstieg betroffen wurden. Das ist bekannt für die früher selbständigen Bauern und Landwirte sowie selbständigen Gewerbetreibenden aus dem Osten. Aus „Selbständigen“ und „mithelfenden Familienangehörigen“ sind Arbeiter geworden, ohne daß es ihnen möglich war, das soziale Selbstbewußtsein des Arbeiters zu erwerben. Von den erwerbstätigen Vertriebenen sind 62,9 % Arbeiter gegenüber 47,9 % bei den Einheimischen. Dieser soziale Abstieg brauchte weder das Einkommen noch den Lebensstandard der Betroffenen zu schmälern. Im Zuge der Prosperität war vielfach das Gegenteil der Fall. Aber er trifft das sowieso angeschlagene gesellschaftliche Selbstbewußtsein der Vertriebenen.

Auch wo wirtschaftliche Nöte nicht vorliegen und kein sozialer Abstieg zu verzeichnen ist, gilt doch allgemein, daß den Vertriebenen das Einleben in die Gesellschaft über die materiellen Sachverhalte hinaus durch die mehr oder minder großen Mentalitätsunterschiede der Bevölkerung in den verschiedenen deutschen Landschaften, vor allem durch die Fremdenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht worden ist. Die Vertriebenen haben sich bisher in keinem gesellschaftlichen Bereich ausreichend durchsetzen können.

Wenn dieser Sachverhalt für die Öffentlichkeit nicht ohne weiteres erkennbar ist, so liegt dies daran, daß die Vertriebenen sich an die westdeutschen Lebensverhältnisse mittlerweile weitgehend angepaßt haben und sich der Problematik ihrer Stellung nicht mehr voll bewußt sind. Aber das heißt nicht, daß sie als befriedigt gelten können. Unbefriedigt bleibt vor allem das Bedürfnis nach Selbstbestätigung im eigenen Lebenskreis, ein vitales Bedürfnis jedes Menschen, das in der heutigen Gesellschaft nur noch selten durch Anerkennung seiner Persönlichkeit und seiner Lebensleistung, sondern überwiegend dadurch befriedigt wird, daß er durch seine Stellung im Beruf Einfluß gewinnt und durch sein Einkommen und die Bildung von Vermögen einen gewissen Lebensstandard und einen gewissen Grad von Unabhängigkeit erreicht. Der Verlust der alten Heimat und des alten Lebenskreises hat die Vertriebenen an diesem Punkte besonders hart getroffen. Weil sie dafür bis heute überwiegend keinen vollen Ersatz gefunden haben, wird die fortdauernde Klage aus ihren Kreisen verständlich, daß die inzwischen im ganzen erreichte Sicherung der äußeren Lebensbedingungen das Problem der gesellschaftlichen und geistigen Eingliederung noch nicht gelöst habe.

Es besteht guter Grund anzunehmen, daß die geschilderten Schwierigkeiten die ältere Generation der Vertriebenen härter treffen als ihre Kinder, die sich leichter in eine neue Heimat finden konnten und sich ihr inzwischen weithin durch Berufswahl und Heirat bewußt eingefügt haben. Aber es wäre verkehrt, daraus zu folgern, daß die Lösung des Problems keine weitere Anstrengung verdiene, da es sich durch einfachen Zeitablauf von selbst lösen werde. Das Empfinden eines großen Bevölkerungsteils, nicht vollgültig anerkannt und nach seinem Eigenwert behandelt zu sein, ist eine politische Realität, die sich nicht so leicht verflüchtigt. Auch wenn man die von manchen befürchtete Gefahr einer politischen Radikalisierung außer Betracht läßt, bleibt doch die Aufgabe bestehen, den Vertriebenen auf der einen Seite zu ermöglichen und sie darin zu unterstützen, ihre eigene, für die deutsche Geschichte wesentliche kulturelle Tradition zu pflegen, auf der anderen Seite aber ihnen zu voller Gleichheit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu verhelfen. In beiden Hinsichten haben die organisatorischen Zusammenschlüsse der Vertriebenen eine wichtige Funktion, wenn sie nicht der Versuchung erliegen, sich zum Selbstzweck zu setzen und damit die Eingliederung zu verhindern, statt sie zu fördern.

Nach alledem ist es nicht so sehr der Staat mit seinen Maßnahmen der Daseinsvorsorge, als vielmehr die westdeutsche Gesellschaft, die den Vertriebenen offenbar Vieles und Wesentliches schuldig geblieben ist. Zugleich gilt es aber zu erkennen, daß der meist gebrauchte Begriff der „Eingliederung“ die zu lösende Aufgabe nur unzureichend umschreibt. Er ist selbst problematisch, weil er die Vorstellung erweckt, die Vertriebenen seien in eine im übrigen intakt gebliebene Gesellschaft aufzunehmen. In Wahrheit haben das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus, der Zusammenbruch des Reichs im Jahre 1945 und die über die deutschen Ostgebiete hereingebrochene Katastrophe das ganze deutsche Volk in seinen geistigen und sittlichen Grundlagen erschüttert, Zwar hat sich in den seitdem verflossenen zwanzig Jahren der wirtschaftliche Wiederaufbau überraschend kräftig und erfolgreich vollzogen; an ihm kommt auch den Vertriebenen, die sich in eigener Aktivität neue Existenzgrundlagen erarbeiteten, ein ganz wesentliches Verdienst zu. Aber dieser wirtschaftliche Erfolg und die in seiner Folge heute in Westdeutschland vorherrschende Denkweise einer Wohlstandsgesellschaft haben jene Fundamente noch nicht wieder voll zu sichern vermocht. Vor dem deutschen Volk stand und steht noch immer die Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Vertriebenen zusammenzuwachsen. Ist diese Gemeinschaft sich einmal der gemeinsamen geistigen und sittlichen Werte bewußt, auf denen sie beruhen will, so ist auch das von jeder Bevölkerungsgruppe eingebrachte besondere kulturelle Erbe sicher aufgehoben. Der Weg zu einer solchen Gemeinschaft ist bis heute bestenfalls begonnen, das Ziel ist oft nicht erkannt oder unter gegenseitigen Vorwürfen verdunkelt. Daher müssen sich Vertriebene wie Nichtvertriebene, politische Parteien und Gruppen aller Art die kritische Frage gefallen lassen, ob sie zu einem solchen Weg bereit sind. Gelingt er, so müßte auch das Vertriebenenproblem zwar nicht seine menschliche Tiefe, aber seine politische Schärfe verlieren.

2. Der kirchliche Dienst an den Vertriebenen ist zuerst und zuletzt ein seelsorgerlicher Dienst an jedem einzelnen vom Schicksal der Vertreibung betroffenen Menschen und in engem Zusammenhang damit hier wie sonst der Dienst der rechten Verkündigung des Wortes Gottes. Die Kirche steht weiter auch hier vor der Aufgabe der Eingliederung der Vertriebenen in das Leben der Gemeinden und in ihre sonstigen Organe. Schließlich hat sie ihnen gerade im Blick auf die vorher besprochene Lage der Vertriebenen in der Gesellschaft die Hilfe einer politischen Diakonie zu leisten.

Wo Seelsorge und Verkündigung geübt werden, werden sie damit einsetzen müssen, daß der gewaltsame Verlust der Heimat zum Geschichtshandeln Gottes in Beziehung gesetzt wird. Als der Herr der Geschichte verfährt Gott mit dem einzelnen und mit den Völkern in einer Souveränität, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Deshalb darf auch die kirchliche Predigt von dem Handeln Gottes in der Geschichte nicht den Eindruck erwecken, als könne sie den Sinn der Geschichte aufdecken. Das Widerfahrnis der Vertreibung gehört zu den Katastrophen des Lebens, die der Verarbeitung im Glauben bedürfen, ohne daß dem menschlichen Verstand eine befriedigende Auskunft über ihren Sinn gegeben werden kann. Es ist meistens ein langer Weg zur Bewährung des Glaubens, der Gott schließlich in allen Dingen recht gibt und gegen den Augenschein seine Barmherzigkeit glaubt, weil sie in Jesus Christus geoffenbart ist. Auf diesem Hintergrund muß aber auch von dem Zusammenhang zwischen dem Gericht Gottes und der menschlichen Sünde die Rede sein. Gerade hier wird man freilich jeden Eindruck einer Berechenbarkeit vermeiden müssen. Auf keinen Fall können die Vertriebenen in besonderer Weise für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden. Aber wo Gott in dieser Weise in das Leben des einzelnen und eines ganzen Volkes eingreift, müssen wir vor seinem Zorn und vor der Schuldverstrickung der Menschen erschrecken. Die Frage nach der Schuld kann aus der Geschichte nicht herausgelöst werden. Auch wenn viele Fragen hier für die menschliche Erwägung rätselhaft sind und offenbleiben, gibt es eine Befreiung vom Hader mit Gott und den Menschen, ein Aufgeben der Selbstrechtfertigung und die Übernahme einer neuen Lebensaufgabe nur für den, der im Herzen bereit ist, sich bußfertig unter Gottes Handeln in Gericht und Gnade zu beugen.

Es liegt auf der Hand, daß es für den einzelnen, vom Leid betroffenen Menschen schwer ist, diese Aufgaben christlicher Glaubenshaltung zu bewältigen. Daher fiel der Kirche und allen Gemeinden, in denen Vertriebene sich neu ansiedelten, die Aufgabe zu, ihnen dabei zu helfen. Diese Aufgabe ist auch von den Kirchenleitungen, von vielen Pfarrern und Gemeindegliedern gesehen und nach bestem Vermögen angepackt worden. Aber die auch in der Kirche verbliebene Unruhe läßt zweifeln, ob der Vorgang der helfenden und tröstenden Aufnahme in die Gemeinden voll geglückt ist.

Am besten deckten sich wohl die Bemühungen kirchlicher Stellen mit den Bedürfnissen der Betroffenen in den ersten Jahren nach der Vertreibung. Die Vertriebenen, die aus eigenen Kräften weder sich versorgen noch ein Unterkommen finden konnten, bedurften der leiblichen Hilfe und zugleich der Seelsorge, die diese Not sah. In dieser Phase sind von der Kirche, der Inneren Mission und dem Evangelischen Hilfswerk Hilfen geleistet worden, die unter den jeweiligen Umständen lebensrettend waren. Hier ist auch besonders auf die seelsorgerliche und Fürsorge-Arbeit hinzuweisen, wie sie vor allem in Berlin und Friedland, aber auch in anderen Massenlagern geleistet worden ist. Der Leitsatz, daß Seelsorge ohne materielle Hilfe und materielle Hilfe ohne Seelsorge gleich unglaubwürdig sind, ist hier gut und erfolgreich praktiziert worden.

Schwieriger gestalteten sich die Dinge von dem Augenblick an, in dem die Vertriebenen aus den Lagern entlassen wurden. Offenbar haben nicht wenige das auch als Entlassung aus der Seelsorge empfunden. Die Bemühungen der Gemeindedienste, der Pfarrer und Gemeindeglieder um sie, an denen es gewiß nicht gefehlt hat, sind Stückwerk geblieben.

Soweit es sich darum handelte, die räumlichen Voraussetzungen für eine ordnungsmäßige Versorgung der gewachsenen Gemeinden zu schaffen, ist in allen Landeskirchen viel geleistet worden; die dafür aufgebrachten Mittel ergeben in ihrer Zusammenstellung ein eindrucksvolles Bild. Wo konfessionelle Gegensätze oder Verschiedenheiten der liturgischen Tradition aufeinanderstießen, wurde ein Ausgleich gesucht. Auch der weitergehende diakonische Auftrag ist gesehen und wahrgenommen worden. Schließlich haben sich Landeskirchen und Gemeinden durch Jahre hindurch darum bemüht, den Vertriebenen die Mitarbeit in den Gemeinden anzubieten und ihnen auch einen Anteil an den leitenden kirchlichen Organen und Ämtern zu geben, um sie auf diese Weise an dem Prozeß des Zusammenwachsens selbst mitarbeiten zu lassen. Trotzdem wird man heute feststellen müssen, daß dieser Prozeß nicht in dem erwünschten Maße gelungen ist. Das läßt sich äußerlich daran ablesen, daß der Umfang der Mitarbeit der Vertriebenen in den Gemeinden, Presbyterien, Kreis- und Landessynoden oder gar leitenden Gremien, aufs Ganze gesehen, nicht der Größe ihrer Gruppen entspricht. Offenbar sind auch kirchliche Arbeit und geistliches Leben so sehr in allgemeine gesellschaftliche Strukturen und gruppenbedingte Verhaltensweisen eingeordnet, daß dadurch für die eigentlichen kirchlichen Aufgaben ernsthafte Schädigungen entstehen können. Dieses ist für die kirchliche Aufnahme der Vertriebenen nicht früh genug erkannt worden, so daß trotz besten Willens Probleme der Vertriebenen mißverstanden oder vernachlässigt wurden.

Wie immer darf die Verantwortung für Versäumnisse auch hier nicht einseitig zugemessen werden. Vertriebene Pfarrer und Laien haben von Anfang an zur Selbsthilfe gegriffen. Es entstanden die Hilfskomitees der einzelnen verdrängten Kirchen, die sich 1950 in dem „Konvent der zerstreuten evangelischen Ostkirchen“ zusammenschlossen. Weiter wurde der „Kirchliche Hilfsausschuß für die Ostvertriebenen (Ostkirchenausschuß)“ gegründet, der im Namen der EKD nach einer besonderen Geschäftsordnung seinen Dienst für die evangelischen Vertriebenen tut. Einige Landeskirchen errichteten Landespfarrämter für Vertriebenenfragen. Und schließlich setzte der Rat der EKD einen“Beauftragten für Umsiedler- und Vertriebenenfragen“ ein. Alle diese Einrichtungen haben eine wichtige Arbeit geleistet. Aber die beschriebenen Fehlentwicklungen konnten von ihnen nicht verhindert werden. Die Pfarrer und Laien, die sich in diesen Organen zusammenfanden, waren zum größten Teil selbst Betroffene. Sie haben eine Isolierung ihrer Arbeit nicht durchbrechen können, vielmehr unbewußt eine solche vielleicht noch geradezu gefördert.

Im Ergebnis gleicht das Bild von der kirchlichen Lage der Vertriebenen also in einigen wichtigen Zügen dem von ihrer Lage in Staat und Gesellschaft. In manchen Gemeinden vermochten sie ihr kirchliches Erbe zu behaupten und in der neuen Umgebung fruchtbar zu machen; in der Mehrzahl der Fälle paßten sie sich äußerlich an oder isolierten sich. Viele sind auch in eine gewisse Opposition zur Kirche getreten. Daß dies nicht häufiger geschah, hing entweder mit dem Respekt vor der Kirche oder mit fehlendem Engagement zusammen. Zu einer organisierten Gruppenbildung, wie sie gegenüber den politischen Kräften in den Vertriebenenverbänden entstand, kam es in der Kirche nicht, nachdem sich der von manchen anfangs gewünschte Weg der Gründung besonderer Exilkirchen als nicht ratsam und dem Wesen der Kirche widersprechend erwiesen hatte.

Offenbar ist auch hier nicht vernehmlich genug ausgesprochen und entschlossen genug gelebt worden, daß nur das Ja zum Gericht Gottes den Weg zu neuen Aufgaben frei macht, daß dieses Ja aber zusammen mit den Vertriebenen von der Gesamtheit des Volkes in der Solidarität einer einzigen großen Schuld- und Haftungsgemeinschaft gesprochen werden muß. Wenn bis heute immer wieder darüber geklagt wird, daß die Vertriebenen in den Leitungsorganen und in den leitenden Ämtern der Kirche nicht ausreichend vertreten sind, so handelt es sich hier nur um ein äußeres Indiz für Störungen im Grundverhältnis zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen auch in der Kirche. Offenbar geht es letzten Endes nicht um äußere Sachverhalte und statistische Befunde als vielmehr um gemeinsame Überzeugungen hinsichtlich der Aufgaben, die sich für alle aus dem Gericht Gottes ergeben.

Die Kammer für öffentliche Verantwortung ist sich bewußt, daß die vorstehende Kritik an der Kirche in manchen kirchlichen Kreisen der Vertriebenen als zu schwach, andererseits in vielen Gemeinden und Kirchenleitungen, die sich mit Ernst und Nachdruck um die Lösung der Probleme bemüht haben, als ungerecht empfunden werden wird. Das darf uns nicht hindern, selbstkritisch auf typische Fehler und Versäumnisse in der Behandlung des Problems aufmerksam zu machen, auch wenn keine generelle Aussage allen, im einzelnen sehr verschiedenartigen Verhältnissen gerecht werden kann. Das Ziel der kritischen Feststellungen ist ja nicht, einen Streit um vergangene Fehler auszulösen, sondern daran zu erinnern, daß die tiefergehenden Folgen der Vertreibung noch nicht beseitigt sind, und Hinweise dafür zu geben, wo die Hilfe ansetzen müßte. Es wird also notwendig sein, eine neue Phase der Auseinandersetzung mit dem Vertriebenenproblem einzuleiten, die heute wichtigen Sachverhalte sehr viel genauer zu untersuchen und auf dieser Grundlage subtilere und besser gezielte Methoden der Lösung zu entwickeln. Dafür sollte die Kirche in ihren eigenen Reihen, aber auch in der Öffentlichkeit eintreten.

Nächstes Kapitel