Landwirtschaft im Spannungsfeld, zwischen Wachsen und Weichen

Wechselwirkungen zwischen Entwicklungspolitik und Agrarpolitik

5. 1 Hunger und Unterentwicklung als Herausforderung

(116) Die oft genannte Zahl von 5oo Mio. Hungernden auf der Erde stellt eine ungeheuere Herausforderung dar. Nach dem Weltentwicklungsbericht 1983 sind von der Weltbevölkerung 1,6 Mrd. Menschen gut und überernährt, 1,6 Mrd. ausreichend und 43 Mrd. unzureichend ernährt. Allein in Afrika, wo seit Jahren die Bevölkerung schneller als die Nahrungsmittelproduktion wächst - obwohl die Produktionsreserven dort längst nicht ausgeschöpft sind -, hat sich die Situation so zugespitzt, daß in 29 von 46 Ländern die tägliche Mindestmenge an Kalorien nicht mehr erreicht wird. Aus dem Jahresbericht 1983 über die Weltgesundheitslage geht hervor, daß von 122 Mio. Kindern, die jedes Jahr geboren werden, 12 Mio. vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres sterben. Weitere 5 Mio. Kindersterben, bevor sie fünf Jahre alt sind. Das menschliche Elend, das hinter diesen Zahlen steht, ist nicht Schicksal, sondern von Menschen mit verursacht.
Christen erkennen im Glauben an die Verheißung des Alten und Neuen Testaments, daß darin allen Menschen eine Perspektive des Lebens eröffnet ist, die eine menschenwürdige Zukunft einschließt. Von dieser biblischen Perspektive her ergeben sich wichtige Kriterien für die Beurteilung der bedrückenden Situation, für die Nutzung landwirtschaftlicher Produktionsflächen und den Umgang mit Natur, Pflanze und Tier in den Entwicklungsländern und bei uns sowie für die Gestaltung der Weltagrarbeziehungen. Von daher sind die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung im Blick auf die Verteilung und Nutzung der Naturgüter neu zu bestimmen.

(117) Bei der Umsetzung dieser Kriterien und wähnten Maßstäbe in praktische Problemlösungen sucht verständlicherweise jeder Mensch, jede Berufsgruppe und jeder Staat im Rahmen einer nationalen und internationalen Ordnung nach Lösungen, die der eigenen Interessenlage gerecht werden. In einer Welt wachsender gegenseitiger Abhängigkeiten muß es jedoch darum gehen zu lernen, die Interessenlage der anderen das eigene Denken und die eigenen Entscheidungen einzubeziehen und zu einem fairen und angemessenen Interessenausgleich zu kommen. Nur so kann die gerechte Anteilhabe aller möglich und auf Dauer gewährleistet werden, die langfristig auch in unserem Interesse liegt. Schon 1973 hat der Rat der EKD eine Denkschrift »Der Entwicklungsdienst der Kirche - ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt« herausgegeben, in der es heißt, »daß das Eintreten für soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab in christlicher Verantwortung gründet und zu neuen Formen gesellschaftlicher Diakonie herausfordert. Christliche Liebe ist nicht nur dem notleidenden einzelnen zugewandt. Es genügt auch nicht, Schäden und Mängel, die sich aus ungerechten Verhältnissen ergeben, nachträglich aus Gründen christlicher Barmherzigkeit zu lindern. Vielmehr gehören Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Dienst am einzelnen und an der Gesellschaft, die Beseitigung der einzelnen und an der Gesellschaft, die Beseitigung der Ursachen sozialer Ungerechtigkeit sowie die Für sorge für deren Opfer gleichermaßen unter die Botschaft des kommenden Gottesreiches.« Wer sich diesen Aufgaben stellt, bekommt es mit Problemzusammenhängen zu tun, angesichts derer kurzschlüssige Lösungen nichts ausrichten. Im Rahmen einer Agrardenkschrift kann nur auf einige Aspekte dieser vielschichtigen Problematik eingegangen werden. Andererseits aber darf die Entwicklungsfrage - eben wegen der eingangs erwähnten weltweiten Zusammenhänge aller Lebensbereiche - in einer solchen Denkschrift nicht ausgeklammert werden.

(118) Die Geschichte der Menschheit ist ein ständiger Kampf um das tägliche Brot. Die Menschen haben immer neue Technologien der Nahrungsproduktion erdacht, mit denen die Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung befriedigt werden konnten. Jedoch kam es regional und über kürzere Zeiträume hinweg zu vielen Hungersnöten. Heute reicht die Agrarproduktion der Welt global gesehen aus, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Die Schätzungen über die Chancen einer Nahrungssicherung bis zum Jahre 2ooo kommen - bei aller Unsicherheit solcher Voraussagen - zu optimistischen Ergebnissen. Unter der Voraussetzung der Erhaltung des Weltfriedens wird die Nahrungsmittelproduktion bis zur Jahrtausendwende etwas stärker steigen als die zunehmende Nachfrage infolge Bevölkerungs- und Einkommensanstieg.
Die schweren Versorgungskrisen, mit denen wir in verschiedenen Regionen der Erde nach wie vor rechnen müssen, zeigen jedoch, daß solche Gesamtrechnungen allein wenig Aussagekraft haben. Hunger ist nämlich in den Entwicklungsländern nicht nur auf eine zu geringe Produktionssteigerung zurückzuführen.

5.2 Verschiedene Ursachen des Hungers und Gegenmaßnahmen

(119) Die Ursachen für Armut und Hunger in der Dritten Welt sind vielfältig. In der öffentlichen Diskussion wird z. B. auf die Bevölkerungsexplosion, auf Naturkatastrophen, ungerechte Verteilung, Kriege und Wettrüsten, Welthandelsstrukturen, Währungsprobleme, Energiekrise, Politik transnationaler Konzerne, schlechte Kommunikationssysteme, unzureichende medizinische Versorgung und Aufklärung über Hygiene, Gesundheit und Ernährung, Bürokratie und Korruption, Verschwend ung des eigenen Reichtums usw. hingewiesen. Im Rahmen dieser Denkschrift kann nur auf einige Aspekte eingegangen werden. So kann der Hunger eine Folge von Katastrophen sein, die aber nicht nur schicksalhaft sind, sondern auch Folgen von menschlichen Handlungen oder Unterlassungen sein können. Mißernten durch Überschwemmungen oder Dürre und bewaffnete Auseinandersetzungen bringen großes Leid für die Betroffenen, sind aber zeitlich und regional meist begrenzt. Dadurch können sie in der Regel durch nationale und internationale Hilfsmaßnahmen in ihren schlimmsten Auswirkungen abgefangen werden. Hier hat die Nahrungsmittelhilfe eine Bedeutung und Berechtigung, um die Notzeit zu überbrücken und Energien für eine schnelle Beendigung des Ausnahmezustandes freizusetzen.

(120) In Ländern mit häufig auftretenden Mißernten erweisen sich Vorratslager - auch auf Dorfebene - als ein geeignetes Instrument einer Nahrungssicherungspolitik, da Nahrungsmittelhilfen schneller bereitgestellt und Preissteigerungen auf dem Markt zum Nachteil armer Bevölkerungsschichten verhindert werden können. Freilich lassen sich die strukturellen Probleme der Ernährungssicherheit in der Dritten Welt nicht dadurch lösen, daß man den Überfluß dorthin schickt, wo der Mangel herrscht. Nahrungsmittelhilfe ist darum kein sinnvoller Absatzweg für die Überschüsse der Industrieländer, zumal sich viele Überschußprodukte aus Gründen der Verderblichkeit und der andersartigen Nahrungsgewohnheiten der Bevölkerung in Entwicklungsländern für solche Programme nicht eignen. Es kann sogar passieren, daß sich die Eßgewohnheiten durch Nahrungsmittelhilfe verändern und so die Abhängigkeit von Importen verfestigt wird. Nahrungsmittelhilfe würde dann gewissermaßen ein Mittel zur Erschließung von Märkten sein. Darüber hinaus ist sie wegen der Transport- und Verteilungsprobleme sehr teuer und kann nur vorübergehende Maßnahme sein. Um voll wirksam zu sein, muß sie in umfassendere Programme eingeordnet werden. Bei kostenlos verteilten Nahrungsmitteln fehlen für die Regierung die Notwendigkeit und für die Landwirte der Anreiz, die heimische Produktion zu erhöhen.

(121) In manchen Gebieten wird Hunger durch unzureichende Produktion von Nahrungsmitteln an Ort und Stelle verursacht. Der Grund dafür kann darin liegen, daß die Bevölkerung stark angewachsen ist und die landwirtschaftliche Entwicklung damit nicht Schritt gehalten hat.

(122) Es muß damit gerechnet werden, daß es in den kommenden Jahrzehnten in den Regionen der Dritten Welt, in denen die Nahrungsmittelproduktion stagniert oder gar rückläufig ist und der Nahrungsmittelbedarf steigt (Afrika und Südasien), zu schwersten Versorgungskrisen kommt. Diese Entwicklung spitzt sich besonders in Afrika zu, wenn nicht die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in ein günstigeres Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung gebracht wird.
Eine durchgreifende Verbesserung der Nahrungsversorgung wird in diesen Regionen nur zu erreichen sein, wenn dort die Eigenproduktion entsprechend ansteigt. Dies setzt voraus, daß die Entwicklungsländer der Entwicklung ihrer ländlichen Räume und der Ernährungssicherung ihrer Länder durch die Steigerung der landwirtschaftlichen Eigenversorgung eine sehr viel höhere Priorität einräumen, als dies bisher weithin der Fall ist. Dazu sind in erster Linie Maßnahmen der Agrarstrukturpolitik, der Agrarreform, der Markt- und Preispolitik und der Ausbildung erforderlich. Eine Politik, die sich an diesen Prioritäten orientiert, dürfte für die Regierungen der Entwicklungsländer von erheblicher innenpolitischer Brisanz sein. Ihre Durchsetzung ist nicht nur von den innenpolitischen Entscheidungen der jeweiligen Entwicklungsländer, sondern auch von den Auswirkungen der handelspolitischen Beziehungen mit den Industrieländern abhängig. Aufgabe der öffentlichen Entwicklungshilfe von seiten der Industrieländer wird es sein, die Regierungen der Entwicklungsländer in ihren Bemühungen um eine an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerungsmassen orientierten Politik zu unterstützen. Die Kriterien der WCARRD (Weltagrarreformkonferenz) bieten dafür eine gute Grundlage.

(123) Bei der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung in den Entwicklungsländern kommt den in den Industrieländern entwickelten modernen Produktionssystemen eine besondere Bedeutung zu (»Grüne Revolution«). Dabei muß freilich bedacht werden, daß diese modernen Anbaumethoden das Ergebnis ständig zunehmender Anwendung meistens fossiler Energie sind (besonders in Form von Düngemitteln), steigender Vorleistungen (z. B. Futtermittel), Pflanzenschutzmittel und oft viel zu wenig angepaßter Technologie. Die daraus resultierende Umwelt- und Kostenbelastung wird in Zukunft zu einem immer größeren Problem. Dennoch steht außer Frage, daß die Wirtschaft zahlreicher Entwicklungsländer der »Grünen Revolution« wichtige Wachstumsimpulse verdankt (z. B. in Indien und Brasilien). Sie ist jedoch nicht nur ein technisches, sondern auch ein sozio-ökonomisches und soziokulturelles Problem.

(124) Denn man darf die Augen nicht davor verschließen, daß die nachweisbaren wirtschaftlichen Erfolge des modernen Landhaus - gerade auch in den genannten Ländern - zum Teil von bedrohlichen Fehlentwicklungen im sozialen Bereich begleitet wurden. Diese sozialen Auswirkungen können vor allem dann nicht ignoriert werden, wenn -wie die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik immer wieder betont haben - der Mensch im Mittelpunkt der Entwicklung stehen soll. Denn überall da, wo die großen sozio-ökonomischen Probleme, die sich mit der »Grünen Revolution« stellen, unbeachtet blieben, stieg die Agrarproduktion und wuchs die Armut: Überfällige Landreformen wurden verzögert, die Entwicklung großer, kapitalkräftiger Landwirtschaftsbetriebe wurde begünstigt, den Kleinbauern und Landlosen aber wurde der Zugang zu Produktionsfaktoren wie Land und Kredit erschwert. So führte die Nichtbeachtung der sozio-ökonomischen Folgeprobleme der »Grünen Revolution« oft dazu, daß Kleinbauern und Landarbeiter aus dem Produktionsbereich verdrängt wurden. In vielen Gegenden Indiens hat sich zum Beispiel die Zahl der Landlosen seit Beginn der »Grünen Revolution« verdoppelt.

(125) Das Ziel der Ernährungssicherung in den Entwicklungsländern wird darum nur zu erreichen sein, wenn genügend berücksichtigt wird, daß gerade die kleinbetrieblichen bäuerlichen Strukturen unter angemessenen Rahmenbedingungen ein hohes Potential an Produktionsreserven aufweisen. Die entwicklungspolitischen Anstrengungen sollten darum darauf gerichtet sein, auch den traditionellen Sektor der kleinbäuerlichen Subsistenzsysteme (Selbstversorgungssysteme) in den Entwicklungsländern neben dem modernen Sektor zu stärken. Wenn die traditionellen, standortgerechten Anbaumethoden verbessert und behutsam modernisiert werden, bleibt das System der Subsistenzwirtschaft funktionsfähig und trägt mit dazu bei, daß das System der Subsistenzwirtschaft funktionsfähig bleibt und mit einem wachsenden Anteil vermarktungsfähiger Produkte nach und nach zur besseren Versorgung des Binnenmarktes beiträgt.
Damit ist jedoch eine Aufgabe benannt, die nicht so sehr technische, sondern vor allem gesellschaftspolitische Fragen aufwirft. So wird die Erhaltung und Entwicklung der traditionellen kleinbäuerlichen Strukturen in den Entwicklungsländern nur dann möglich sein, wenn es gelingt, die ländliche Bevölkerung zu mobilisieren, ihre Organisationsfähigkeit in Form von Selbsthilfebewegungen, in Bauern- und Genossenschaftsbewegungen zu stärken und so ihre eigenständigen Mitwirkungsmöglichkeiten an der Entwicklung der ländlichen Räume zu erweitern.

(126) Die öffentliche Entwicklungshilfe der Industrieländer sollte der Steigerung der Selbstversorgung mehr Aufmerksamkeit widmen als bisher. Der Ausbau des traditionellen Landbaus, aber auch Hausgärten, ein vielfältiger Anbau entsprechend den eigenen Bedürfnissen, Kleintierhaltung u. a. sind gerade in strukturell benachteiligten Gebieten aussichtsreiche Wege zu einer besseren Nahrungssicherung. Auch bei zunehmender Produktion für den Markt darf die Selbstversorgung solange nicht aufgegeben werden, bis der Markt so weit entwickelt ist, daß er eine sichere Versorgung auf dem Tauschweg garantieren kann. Demgegenüber wurde in manchen Fällen zu sehr die Entwicklung von Großbetrieben und Plantagen begünstigt, die Rohstoffe für die industrielle Verarbeitung und für den Export produzieren. Auch wenn daraus Vorteile für die Wirtschaft in Form von Deviseneinnahmen entstehen, können diese nur dann akzeptiert werden, wenn damit auch eine bessere Versorgung der unteren Einkommensbezieher mit Nahrungsmitteln verbunden ist. Die Agrarpolitik muß die nötigen Anreize zur höheren Agrarproduktion geben, damit die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt werden können. Oft sind dazu auch Maßnahmen der Agrarreform zugunsten von Kleinbauern erforderlich. Bei Kleinstbetrieben besteht kaum die Gefahr einer Vernachlässigung der Nahrungsproduktion. Wer seine Nahrung selbst erzeugt, spart die Handelskosten, umgeht die Unsicherheiten der Versorgung über den Markt und bedarf keiner höheren Kaufkraft.

(127) Für die große Masse der unzureichend ernährten Menschen dieser Weit ist Hunger nicht Folge fehlender Nahrungsmittel, sondern Folge mangelnder Kaufkraft, die wiederum aus einer mangelhaften Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Produktionsprozeß folgt. Die Hungernden sind zu arm, um die auf den Märkten vorhandenen Lebensmittel kaufen zu können. Wer Geld hat, hungert in diesen Ländern nicht. Zur Beseitigung des Hungers sind hier ganz andere Wege zu beschreiten als in Katastrophenfällen. Hier geht es nicht darum, das Angebot an Nahrungsmitteln zu erhöhen. Diese sind meist örtlich vorhanden. Deshalb muß zu einer Steigerung des Nahrungsmittelangebotes die Schaffung von mehr Kaufkraft für die armen Bevölkerungsschichten hinzukommen, damit diese ihre Nachfrage auch befriedigen können. Dies kann auf mehreren Wegen geschehen: durch eine Steigerung der Selbstversorgung - von ihr war schon die Rede -, durch eine Erhöhung der Binnennachfrage und unter bestimmten Umständen durch mehr Agrarexporte.

(128) In manchen Entwicklungsländern würde ein erheblicher Anreiz zur Produktionssteigerung in der Landwirtschaft von einer Erhöhung der Binnennachfrage ausgehen. Eine höhere, kaufkräftige Nachfrage im Lande entsteht durch höhere Einkommen bei der Bevölkerung. Das wiederum setzt vermehrte Beschäftigung außerhalb des Subsistenzbereiches voraus. In neuerer Zeit wird dieses besonders auf dem Weg über eine integrierte ländliche Entwicklung angestrebt und gefördert, deren Ziel die Minderung absoluter Armut, die Befriedigung der Grundbedürfnisse und die Verbesserung der Partizipationschancen der Armen ist.

(129) Landwirtschaftliche und nicht-landwirtschaftliche Entwicklung müssen aufeinander abgestimmt sein, insbesondere auch die des Handwerks, der ländlichen Industrie und der Dienstleistungen. Beide Entwicklungen unterstützen und bedingen sich gegenseitig: Die Landwirtschaft benötigt zur Produktion nicht-landwirtschaftliche Güter und Dienste, liefert Rohstoffe zur Verarbeitung und Verteilung und kauft die Produkte der gewerblichen Wirtschaft ab, macht also deren Entwicklung möglich. Aus vermehrter, einträglicher Beschäftigung entsteht die Kaufkraft, die einerseits den Hunger mildert, andererseits. der Landwirtschaft Anreize zur Produktionssteigerung gibt. Diese beschriebene Entwicklungsmöglichkeit setzt jedoch voraus, daß Produkte im Lande selbst verarbeitet werden und als solche in den Handel kommen. Dem widersprechen jedoch oft die Zollpolitik der Industrieländer, deren Zollsätze mit zunehmendem Verarbeitungsgrad steigen, und zahlreiche protektionistische Regelungen, mit denen die Industrieländer den Import von Fertigwaren aus den Entwicklungsländern erschweren.

5.3 Auswirkungen von Agrarexporten

(130) Schließlich kann auch die Ausfuhr von Agrarprodukten zu mehr Beschäftigung und erhöhtem Einkommen führen. Volkswirtschaftlich gesehen spricht viel dafür, daß die Entwicklungsländer die Kostenvorteile bei der Produktion bestimmter Agrarprodukte auf der Grundlage der internationalen Arbeitsteilung und des Welthandels nutzen, indem sie die Güter produzieren, für die sie komparative und absolute Vorteile haben und andere Güter im Tausch erhalten. Agrarexporte bringen den Entwicklungsländern Devisen, auf die ihre Volkswirtschaft häufig schon darum angewiesen ist, weil sie ihre Verschuldungsprobleme nicht anders in Grenzen zu halten vermögen. Devisen sind die Voraussetzung dafür, Investitionsgüter kaufen und Kapitalinvestitionen tätigen zu können.

(131) Nun müssen aber auch hier die negativen sozialen Folgen bedacht werden. Denn es ist nicht zu leugnen, daß bei einer einseitig exportorientierten Landwirtschaft in den Entwicklungsländern häufig - sozial gesehen - unerwünschte Verteilungseffekte auftreten. Auch ist zu bedenken, daß der Ausbau einer exportorientierten Landwirtschaft zur Ausweitung der Plantagenwirtschaft führen kann, die von Unternehmen des Agrobusineß betrieben wird und die Verdrängung kleinbäuerlicher Existenzen zur Folge hat. Wo aber diese Folgen eintreten, ungleiche Marktmacht und Preisschwankurigen Importbegrenzung durch Industrieländer vermag die Förderung der landwirtschaftlichen Exportproduktion keinen Beitrag zur Bekämpfung der Armut zu leisten.

(132) Die volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte, die für eine landwirtschaftliche Exportproduktion sprechen, kommen ihrerseits in vielen Fällen nicht zum Tragen, zumal wesentliche Voraussetzungen eines gerechten Gütertausches nicht gegeben sind. Es gibt bei vielen Produkten ungleiche Marktmacht, Handelsbeschränkungen, Marktregulierungen und Monopole. Auch Schwankungen der Devisenkurse und des Zinsniveaus wirken sich aus. Gerade für arme Länder ist die Preisentwicklung auf dem Weltmarkt unsicher. Preisschwankungen können verheerende Folgen haben. Zwar lassen sich keine umfassenden Aussagen über eine langfristige Verschlechterung von Preisen bei Agrarprodukten gegenüber den Preisen von Industriegütern treffen. Im Zeitablauf können sich Entwicklungen ins Gegenteil umkehren. Aber es kann nicht übersehen werden, daß manche bisherige Preisentwicklungen in beiden Bereichen schwere Belastungen für die betroffenen Entwicklungsländer gebracht haben. So erhielten z. B. 1982 die Entwicklungsländer für die gleiche Menge von Agrarexporten im Weitdurchschnitt 14 % weniger Industriegüter als 1980, und der Zuckerpreis auf dem Weltmarkt lag 1982 nur bei 2o% desjenigen von r98o. Solche Preisschwankungen lassen oftmals selbst eine mittelfristige Haushaltsplanung in diesen Ländern nicht zu und verschlechtern drastisch die Lebensgrundlage der betroffenen Familien. Gezielte Strukturpolitik wird also erst durch Verstetigung der Preisentwicklung möglich.

(133) Manche Entwicklungsländer würden gern ihre Agrarausfuhren vergrößern, um mehr Beschäftigung und mehr Deviseneinnahmen zu erhalten. Bei vielen Produkten, insbesondere tropischen Früchten und Rohstoffen, ist dies nur schwer möglich, weil der Absatz bei den bestehenden, evtl. durch unsere Steuern noch erhöhten Preisen wenig ausgedehnt werden kann. Bei anderen Produkten öffnen sich die Industrieländer nur zögernd und in engen Grenzen für Einfuhren, weil diese eine Konkurrenz für die Eigenerzeugung sein würden. Derartige Beispiele gibt es im Bereich der gewerblichen Wirtschaft, aber eben auch in der Landwirtschaft. Hier stellen die Industrieländer den Schutz der eigenen Interessen höher als die Besserung der Lebensverhältnisse für Bewohner der Entwicklungsländer.

(134) Hinzu kommt, daß die Be- und Verarbeitung der Rohstoffe häufig nicht in den Entwicklungsländern vorgenommen wird. Dadurch entfallen potentielle Arbeitsplätze und Einkünfte aus diesen Prozessen. Die Situation kann verbessert werden, wenn in Entwicklungsländern die Voraussetzungen für die Entwicklung einer verarbeitenden Industrie geschaffen werden und die Industrieländer auch verarbeiteten Produkten aus den Entwicklungsländern Zugang zu ihren Märkten ermöglichen. Wenn die Marktgegebenheiten eine Änderung der für die Entwicklungsländer zumindest zeitweise sehr ungünstigen Preisverhältnisse nicht erwarten lassen, ist zu überlegen, ob durch privaten und öffentlichen Kapitaltransfer ein Ausgleich geboten werden kann. Dies erfordert sicherlich schwierige politische Entscheidungen bei uns.

(135) Ob Agrarexporte und ihre Ausdehnung Armut und Hunger in Entwicklungsländern verringern können, hängt auch von den inneren Verhältnissen dieser Länder ab. Nicht selten bleibt für die Produzenten wenig vom Gewinn übrig, während Interessender Kleinbauern berücksichtigen einige reiche Grundbesitzer oder Exporteure, manchmal auch ausländische Gesellschaften, einen großen Anteil für sich beanspruchen. Ökonomische und politische Verhältnisse führen in vielen Ländern dazu, daß ein Großteil der Gewinne in die städtische und industrielle Entwicklung fließt und die ländlichen Gebiete und ihre Bewohner wenig Anteil haben. Dies ist in erster Linie eine Frage an die Strukturpolitik des Landes, auch wenn bedacht werden muß, daß durch Außenhandelsbeziehungen bestehende Strukturen gestützt werden können. Der Abbruch von Handelsbeziehungen eignet sich jedoch in der Regel nicht dazu, solche Strukturen zu verändern. Dazu sind vielmehr politische Verhandlungen und Entscheidungen nötig. Bei der Bewertung und Beurteilung der Entwicklungsstrategie der einzelnen Länder und unserer entwicklungspolitischen Beziehungen zu diesen Ländern sollte als Maßstab gelten, ob und inwieweit die Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung verbessert werden. In dem Memorandum der »Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungsfragen« zu UNCTAD IV heißt es zu diesem Fragenkomplex: »Jedes Land und seine Bevölkerung haben das Recht und die Pflicht, unter Wahrung der Menschenrechte Ziele und Wege ihrer eigenen Entwicklung zu bestimmen. Alle übrigen Länder müssen dieses Recht respektieren. So darf Staaten mit einer anderen Wirtschaftsordnung Entwicklungshilfe nicht verweigert werden, wenn sie die Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung verbessert.«

(136) Politische und ökonomische Faktoren haben auch zur Folge, daß sich Großunternehmer an Produktion und Export von Agrargütern in Entwicklungsländern beteiligen. Dabei können die Interessen der im Gebiet Ansässigen grob verletzt werden. Dies ist besonders problematisch, wenn Regierungen die Interessen der ärmeren Bevölkerung, insbesondere der Kleinbauern, und die Erfordernisse des Umweltschutzes nicht durchsetzen können oder wollen. Leicht kommt es zu Interessenübereinstimmung zwischen den an devisenbringenden Exporten interessierten Regierungen und Großunternehmen in der Exportproduktion. Ergebnis ist, daß die staatlichen Geldmittel in diesen Bereich fließen und die Kleinlandwirtschaft mehr und mehr vergessen wird. Es ist die Aufgabe einer an den Bedürfnissen der breiten Bevölkerungsschichten orientierten Strukturpolitik in den Entwicklungsländern darauf hinzuwirken, daß die Betriebssysteme mit dem be stehenden Sozialsystem in Einklang stehen und dessen Entwicklung fördern. Dies wird oft durch landwirtschaftliche Kleinbetriebe und Genossenschaften besser zu erreichen sein als durch Großbetriebe.

(137) Die Wirkung von Agrarausfuhren auf die Kaufkraft der Bevölkerung und damit auch Ausmaß und Verringerung des Hungers sind also sehr differenziert zu beurteilen. Art und Organisation der Produktion sind dabei ebenso wichtig wie die Verteilung und Verwendung der Gewinne. Ein Urteil ist nur im Einzelfall, also von Land zu Land, möglich. Teils sind die Möglichkeiten groß, teils wird mehr Schaden als Nutzen durch eine Ausdehnung der Agrarexporte angerichtet. Kurz- und langfristige Wirkungen können sehr verschieden sein. Ebenfalls nur im Einzelfall ist die Frage zu beurteilen, ob durch die für den Anbau von Exportfrüchten benötigten Flächen die Nahrungsproduktion für den Eigenverbrauch behindert wird. Bei ausreichend vorhandenen Flächen mit guten Produktionsvoraussetzungen wird dies nicht so schnell der Fall sein, und auch bei Exportgütern mit sicherem Markt ist die Gefahr gering. Sind jedoch die Austauschbeziehungen zwischen dem traditionellen und dem modernen landwirtschaftlichen Sektor gering, der Agrarmarkt also eher nach außen orientiert, kann ein Übergang von einer Produktion für den Lebensunterhalt zur Exportproduktion die Versorgungslage verschlechtern.

(138) Agrarausfuhren der Entwicklungsländer berühren auch die Interessen der europäischen Landwirtschaft und der Verbraucher. Dies wird besonders deutlich bei Futtermitteln. Futtermitteleinfuhren haben nachhaltigen Einfluß auf die Preise der heimischen Futtermittel und der tierischen Produktion gehabt, noch stärker aber die Struktur der Betriebe beeinflußt. Massentierhaltung hätte ohne Futtermittelimporte kaum die heutige Ausdehnung erhalten. So haben importierte Futtermittel bewirkt, daß ein Teil der bäuerlichen Produktion - etwa in der Geflügelhaltung - in den gewerblichen Bereich abgewandert ist. Im bereich der Schweinemast ist wegen der preisgünstigen Importfuttermittel eine erhebliche Ausdehnung der flächenunabhängigen Produktion mit großen regionalen Schwerpunktbildungen festzustellen. Auf diese Weise verschärft sich die Konzentration von Marktanteilen und damit der Existenzkampf bäuerlicher Familienbetriebe.

(139) Weniger eindeutig ist die Wirkung der Futtermittelexporte auf die Nahrungsproduktion in den Entwicklungsländern. Einstellung der Futtermittelimporte und Abkehr von der fleischreichen Ernährung in Europa sind als Globalforderungen problematisch. Ein Großteil der Futtermittelimporte ist kaum als Nahrungsmittel für die Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu verwenden. Allerdings kann es vorkommen - und hier liegt das eigentliche Problem -, daß durch den Ausbau der Futtermittelexporte viel Fläche benötigt wird und dadurch die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln nicht mehr ausreichend gewährleistet ist.

5.4 Weltweite Solidargemeinschaft

(140) Die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Landwirte bzw. des einzelnen Verbrauchers zur Änderung der Welt-Hungersituation sind begrenzt, aber das heißt noch lange nicht, daß gar nichts getan werden kann. Damit der einzelne die bestehenden Handlungsalternativen richtig beurteilen kann, muß er die Zusammenhänge und Rahmenbedingungen durchschauen. Es ist eine Aufgabe der entwicklungsbezogenen Bildungsarbeit, die Auswirkungen der jeweiligen Wirtschaftsweise auf die Dritte Welt sichtbar zu machen. Nur so kann globale Mitverantwortung in einer hochgradig arbeitsteiligen, politisch eng zusammenhängenden Welt wahrgenommen werden.

Dabei wird sich zeigen, daß manche Entwicklungsprobleme nur zu lösen sind, wenn die Regierungen in den Industrieländern sich bereit finden, ihre Politik in Wirtschaft und Gesellschaft so zu ordnen, daß dabei entwicklungspolitische Erfordernisse nicht außer acht bleiben. So darf bei einer Neuordnung der EG-Agrarpolitik nicht übersehen werden, daß die Ausformungen und Auswirkungen dieser Politik in den letzten Jahrzehnten in einen Widerspruch zu den erklärten Zielen der Entwicklungspolitik der EG und ihrer Mitgliedsstaaten geraten ist - durch den Agrarprotektionismus, durch Dumping von Agrarüberschüssen etc. Gesellschaftliche Gruppen und Verbände, die Kirchen, aber auch Initiativ- und Aktionsgruppen werden ihre Mitverantwortung für die Lösung der bedrängenden Entwicklungsprobleme nicht zuletzt dadurch wahrnehmen, daß sie die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft dazu anhalten und ermutigen, einen fairen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen unserer Landwirtschaft und den unabweisbaren Erfordernissen der Entwicklungspolitik herzustellen.
Auch die Landwirte können sich nicht einfach auf ihre Betriebe zurückziehen und die Entwicklungspolitik anderen überlassen. Die Solidargemeinschaft muß sich auch auf die Berufskollegen in den Entwicklungsländern beziehen, die besonders als Kleinbauern um ihre berufliche Existenz bangen.

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