Bibelarbeit beim Zukunftskongress

Prof. Dr. D. Eberhard Jüngel

 

EG 440, 1-4: All Morgen ist ganz frisch und neu...

Bibelarbeit über Gen 13


Und Abraham zog von Ägypten herauf in das Südland, er und seine Frau und alle seine Habe, und Lot mit ihm.

Und Abraham war sehr reich an Vieh, an Silber und an Gold. Er zog von Lagerplatz zu Lagerplatz, vom Südland bis nach Bethel, bis zu der Stätte, wo (schon) zu Anfang sein Zelt gestanden hatte, zwischen Bethel und Ai, jene Stätte, wo er vorher den Altar gebaut hatte. Und Abraham rief dort den Namen Jahwes an.
 
Und auch Lot, der mit Abraham zog, hatte Schafe, Rinder und Zelte. Und das Land ertrug es nicht, daß sie beieinander blieben; denn ihre Habe war sehr groß. So kam es (denn auch) zum Streit zwischen den Hirten über Abrahams Vieh und den Hirten über Lots Vieh. Damals wohnten die Kanaaniter und die Pheresiter im Land.

Da sprach Abraham zu Lot: Lass doch kein Streit sein zwischen mir und Dir und zwischen meinen Hirten und Deinen Hirten! Wir sind doch Brüder! Steht Dir nicht das ganze Land offen? Trenne Dich doch von mir! Willst Du nach links, dann gehe ich nach rechts; und willst Du nach rechts, gehe ich nach links.

Da erhob Lot seine Augen und sah, daß die ganze Jordanebene reich an Wasser war - das war, bevor Jahwe Sodom und Gomorrha zerstörte - wie ein Garten Gottes, wie das Land Ägypten, bis hin nach Zoar. Da wählte sich Lot die ganze Jordanebene. Und Lot brach nach Osten auf. So trennten sie sich voneinander. Abraham blieb im Lande Kanaan, Lot ließ sich in den Städten der Ebene nieder und zeltete bis nach Sodom. Aber die Leute von Sodom waren böse und sündigten sehr gegen Jahwe.

Und Jahwe sprach zu Abraham, nachdem sich Lot von ihm getrennt hatte: Hebe Deine Augen auf und siehe von dem Ort, an dem Du stehst, nach Norden und nach Süden, nach Osten und nach Westen: das ganze Land, das Du siehst: Dir will ich es geben und Deinen Nachkommen, für ewige Zeiten. Und Deinen Samen will ich machen wie den Staub der Erde; nur wenn einer den Staub der Erde zählen kann, kann er auch Deine Nachkommen zählen. Auf, durchziehe das Land in seiner Länge und seiner Breite! Denn Dir will ich es geben.

Und Abraham brach mit seinen Zelten auf, zog los und ließ sich nieder bei der Terebinthe von Mamre bei Hebron. Und er baute dort für Jahwe einen Altar. (Genesis 13)

Erzählen müßte man können, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer: so wie die alten Erzähler aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen vermochten; so zu erzählen vermochte, daß die, denen da etwas erzählt wird, gar nicht genug davon hören können.

Heutzutage sind es oft nur noch die Kinder, die uns Erwachsene zum Erzählen verführen, ja zum Erzählen geradezu herausfordern. Und wenn dann erzählt wird, können sie in der Tat gar nicht genug davon kriegen. Wenn ich abends am Bett meiner Patenkinder eine Gute-Nacht-Geschichte erzähle, um ihnen den Übergang in das Dunkel der Nacht zu erleichtern, heißt es nur zu oft: erzähl weiter, Onkel, noch eine Geschichte, erzähl weiter! Ja, bei den Gute-Nacht-Geschichten, mit denen wir Kindern den Abschied vom Tag leichter machen, da klappt es noch: das Erzählen. Ganz egal, ob es sich um ein Märchen handelt oder um eine wahre Begebenheit oder um eine Mischung von Dichtung und Wahrheit.

In der Bibel wird viel erzählt. Schon die ersten Kapitel der heiligen Schrift sind randvoll von Erzählungen. Allerdings nicht von Gute-Nacht-Geschichten, die den Übergang in das Dunkel der Nacht erleichtern sollen! Ganz im Gegenteil: die biblischen Erzähler wollen dem Leben am hellen Tag zugute kommen. Sie wollen nicht einschläfern, sondern hell wach machen. Denn was die biblischen Texte von längst vergangenen Begebenheiten erzählen, das hat den jetzt lebenden Menschen, die erzählte Vergangenheit hat der Gegenwart etwas zu sagen. Was vor Urzeiten erlebt und erfahren wurde, das soll uns so vermittelt werden, daß wir wenn nicht dieselben, so doch ähnliche Erlebnisse und Erfahrungen machen und in analoger Weise mit ihnen umgehen können. Gewiß, “es war einmal”, long long ago. Aber was damals war und geschah, das kann dazu helfen, daß sich uns unsere eigene Gegenwart ganz neu erschließt und daß sich uns bisher verschlossene Horizonte eröffnen. Das, was vor Urzeiten war und geschah, kennen zu lernen, kann oft sehr viel hilfreicher und lehrreicher sein als eine ganze Ethik-Vorlesung eines gelehrten Professors. Die mag zwar informativ sein. Doch der authentische Erzähler will eigentlich nicht informieren. Der authentische Erzähler, so formuliert treffend Walter Benjamin(1) , ist “ein Mann, der dem Hörer Rat weiß”. Der Rat aber kommt “aus der Erfahrung: aus der eigenen oder berichteten”, und will wieder zur Erfahrung werden, “zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören” - wobei es dem Hörer “freigestellt” ist, “sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht..., damit erreicht das Erzählte eine Schwingungsbreite, die der Information fehlt”. 

Um lebenswichtige Erfahrungen zu vermitteln, so zu vermitteln, daß die Hörer mit dem Erzählten ihre eigenen Erfahrungen machen können - deshalb wurde im alten Israel noch und noch erzählt: nicht einfach drauflos, sondern wohl überlegt; nicht ohne Phantasie, aber mit gewissenhafter Genauigkeit.

Das fängt gleich auf den ersten Seiten der Bibel an. Das erste Buch Mose, die sogenannte Genesis, erzählt zunächst die “Urgeschichte” (Gen. 1 - 11). In ihr geht es um die “elementaren Grundlagen der Welt”(2) : um den Ursprung allen geschöpflichen Seins und Lebens und um den Ursprung aller kreatürlichen Wohlordnung im schöpferischen Handeln Gottes, des Allmächtigen.

Doch die “Urgeschichte” erzählt auch von der Bedrohung der von Gott geschaffenen Welt durch das tohuwabohu, dem Gott zwar gleich am Anfang ein Ende gemacht hat, das der Mensch aber immer wieder über Gottes gute Schöpfung heraufzubeschwören droht. So gefährdet der Mensch die Erde und mit ihr zugleich sich selbst, schon vor Urzeiten und bis zum heutigen Tag.

“Urgeschichte” -  das heißt also: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war tohuwabohu...Und Gott sprach... Und Adam und Eva... Und Kain und Abel... Und Noah und die Sintflut... Und... Und... Und...  Die “Urgeschichte” erzählt von den Erzanfängen Aber sie erzählt so davon, daß sich der gegenwärtige Mensch in sie hineinversetzen zu können glaubt: jene Anfänge, das sind auch unsere Anfänge.

Dann wird die sog. “Vätergeschichte” erzählt (Gen 12 -50), in der die Mütter keineswegs fehlen und die Kinder auch nicht. Es ist die Geschichte der Patriarchen und ihrer Familien. Die Familie ist die ursprünglichste und war lange Zeit auch die einzige Organisation menschlicher Gemeinschaft. ”In der Vätergeschichte werden die Grundverhaltnisse menschlicher Gemeinschaft...zum Gegenstand des Erzählens”(3) . Und das sind nicht selten recht intrikate familiäre Verhältnisse. Es geht um menschliche “Beziehungskisten” -  wie man  heute wohl sagen würde.

Doch die  “Beziehungskisten” sind  unterwegs. Die Väter, um die es in der “Vätergeschichte” geht, sind Nomaden, wandernde Aramäer. Sie ziehen von hier nach dort, lassen sich für eine gewisse Zeit nieder, um dann erneut aufzubrechen und weiterzuziehen. Deshalb haben die sog. “Itinerare” in der Vätergeschichte eine bedeutsame  Funktion. Sie zählen die Stationen der wandernden Nomaden-Gruppen auf, so daß man ihren Weg nachvollziehen und sich  in Gedanken mit ihnen auf den Weg machen kann.

Und der Gott der Väter, der macht sich ebenfalls mit ihnen auf den Weg. Ja, er weist ihnen den Weg, begleitet sie, beschützt sie, hilft ihnen. Und er redet mit den Vätern, und zwar ohne jede priesterliche Vermittlung. “Alles, was zwischen Gott und Mensch geschieht, das geschieht direkt, ohne jeden Mittler”(4) : Religion ohne Kult, Religion en famille...

Eine dieser Vätergeschichten ist die im 13. Kapitel der Genesis erzählte Geschichte von “Abraham und Lot unterwegs”. Auf sie sollen wir uns heute morgen besinnen. Und das tun wir am besten so, daß wir versuchen, sie nachzuerzählen, so nachzuerzählen, daß ihre sich jeder Gegenwart neu mitteilende Wahrheit auch uns erreicht. Mehr als ein Versuch wird es nicht werden. Denn wenn es mehr als ein Versuch werden soll, dann müßte man eben auch wirklich erzählen können - so wie  jener authentische Erzähler  aus dem alten Israel, dem wir die “Vätergeschichte” von “Abraham und Lot unterwegs” verdanken. Doch das gelingt uns kaum. Wir stottern eher. Versuchen wir es trotzdem!


Am Ende dieser Geschichte steht - wie schon an jenem früheren Anfang, auf den unsere Geschichte bereits zurückblickt - ein Altar, erbaut zur Ehre Gottes. Die Geschichte hat also offensichtlich ein frommes, ein geistliches Ende. Doch auf dem Weg zu diesem geistlichen Ende geht es weltlich, geht es sogar sehr weltlich zu. Der Erzähler erzählt eine Geschichte, die voll von Gegensätzen ist; oder sagen wir es etwas vorsichtiger: die voll von Spannungen und Kontrasten ist.

Da begegnen sich Wirtschaftsinteressen und Glaubensentscheidungen; da begegnen sich Vertrauen in Gottes Verheißung und ein Appell an die menschliche Vernunft. Da begegnen sich Verzicht und überfließender Reichtum. Und wir begegnen der Schönheit eines ertragreichen Landes und mitten darin Sodom und Gomorrha - zwei wegen ihrer Bosheit und Verkommenheit sprichwörtlich gewordene Städte. Doch davon ist nur am Rande die Rede, eher nebenher. Die Hörer der Erzählung nehmen das nur wie ein fernes Donnergrollen wahr oder wie eine schwarze Wolke am Horizont, die kommendes Unheil befürchten läßt. Insgesamt aber dominieren die satten, saftigen Farben  in der Geschichte von “Abraham und Lot unterwegs”.

Könnte man riechen, was hier erzählt wird, es röche nach würzigem Boden und reifen Früchten - es röche gut. Sehr “weltlich”, sehr “lebensnah”, ja, selber Welt und kräftiges Leben - das ist der Weg des Patriarchen Abraham, den Paulus später den Vater aller Glaubenden nennen wird und den nicht nur Juden und Christen, sondern auch die Muslime als Patriarchen verehren. Doch das trennt sie eher. Die Rede von den drei “abrahamitischen Religionen” hat zwar ein unbestreitbares Wahrheitsmoment. Aber sie kann auch die tiefe Differenz zwischen Judentum, Christentum und Islam vernebeln. Denn in Synagoge, Kirche und Moschee nimmt die Gestalt des Patriarchen sehr unterschiedliche Züge an.

In unserer Geschichte sehen wir Abraham unterwegs auf sehr weltlichen Wegen: unterwegs von Weideplatz zu Weideplatz. Und da entstehen sehr weltliche Probleme, mit denen man auf sehr weltliche Weise fertig werden muß. Doch am Ende dieser sehr weltlichen Wege mit ihren sehr weltlichen Problemen steht ein Altar. Seine Steine bringen zum Ausdruck, daß Abrahams Weg eminent geistlich war, daß er der Weg einer Führung war. Gottes Wort führte und es wußte, wohin. Ein Mensch folgte; wohin - das wußte er nicht. Aber er wußte, daß Gott es weiß. Und das war genug.

Ist es uns auch genug? Einer vom Rat der EKD eingesetzten Perspektivkommission, die die Zukunft der Evangelischen Kirche in Deutschland bedenken und die bis ins Jahr 2030 vorausdenken soll, kann das gar nicht genug sein. Sie muß ja die Gegenwart in die Zukunft hochrechnen und sich dann ihre Gedanken machen oder doch dazu anregen, daß wir alle uns unsere Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll mit dem kirchlich verfaßten Christentum in Deutschland. Und da gilt: Vertrauen ist gut, Gottvertrauen zumal; doch planen ist - nein nicht: besser. Aber Planen ist auch gut. Und unerläßlich. In gewisser Weise hatte ja auch Abraham zumindest kurzfristige Pläne.

Der Mann war ein Kleinviehnomade, schwer reich an Vieh, Silber und Gold. Das Ziel aller Kleinviehnomaden sind Weideplätze, ist Land. Wenn man es findet, hält man inne, schlägt seine Zelte auf und läßt das Vieh weiden - bis die Weide kahl gefressen ist. Dann geht es wieder weiter: von Weideplatz zu Weideplatz. So war auch Abraham unterwegs - dem unbekannten Land entgegen, das Gott ihm verheißen hatte. So ging er seinen Weg. So kam er in jene Gegend, in der er früher schon einmal sein Zelt aufgeschlagen und seinem Gott einen Altar errichtet hatte. So kam er in die Gegend von Bethel.

Mit ihm zog ein Verwandter, der hieß Lot und hatte auch Schafe, Rinder und Zelte, auch er ein Nomade, auch er wohlhabend, ja reich. Und Reichtum braucht Platz. Abraham und Lot brauchen viel Platz: Raum für Mensch und Tier, Lebensraum. Doch der Lebensraum, den sie miteinander teilen, ist begrenzt. Es kommt zum Streit zwischen den Hirten des Einen und denen des Anderen. Und hinter diesem Geplänkel auf niederer Ebene wird eine Interessenkollision der beiden Besitzer sichtbar. Sie sind beide zu reich, um gemeinsam zu leben. Zu mächtig. um gemeinsam zu arbeiten und gemeinsam zu genießen. Ein späterer Bearbeiter der Erzählung erläutert: “Das Land ertrug es nicht, daß sie beisammen bleiben konnten; denn ihre Habe war groß.”

Ein Konflikt erscheint unausweichlich, wenn Macht und Macht so dicht beieinander wohnen und wenn der Reichtum des einen mit dem Reichtum des anderen ins Gehege kommt . Es droht einer von jenen Konflikten, wie die Geschichte sie immer wieder hervorbringt, wie sie auch in unseren Tagen hinreichend bekannt sind: Konflikte, die auf eine Katastrophe zusteuern, wenn sie nicht rechtzeitig aufgefangen werden. Durch einen “Mentalitätswandel” zum Beispiel, der es erlaubt, mit soviel Macht und soviel Reichtum friedlich fertig zu werden.

Ein Konflikt aufgrund überfließenden Reichtums - nein, dergleichen droht der Evangelischen Kirche in Deutschland wahrhaftig nicht. Ein solcher Konflikt droht wohl keiner Kirche in Europa. Doch uns schon gar nicht.  In dem vor einer Woche veröffentlichten EKD-Papier “Wandeln und Gestalten” wurde aus der dramatisch schwindenden Mitgliederzahl hier in meiner ostdeutschen Heimatkirche und in den anderen strukturschwachen Regionen der Bundesrepublik die Folgerung gezogen, daß es auch in der EKD zu einem “Mentalitätswandel”  kommen müsse. Doch der ist dem schwindenden Reichtum und dem schwindenden Gewicht der Kirche in der deutschen Gesellschaft geschuldet. Da waren Lot und Abraham doch in einer geradezu beneidenswerten Lage, als sie wegen ihres Reichtums aneinander zu geraten drohten.

Indessen, Abraham wehrt der drohenden Katastrophe. Mitten in die gespannte Lage hinein fällt von seiner Seite das lösende Wort: "Wir sind doch Brüder!” Das wirkt immer - möchte man meinen. Unter uns Pastorentöchtern zumal: “Wir sind doch Schwestern! Wir sind doch Brüder! Also bitte...” Nur möge man diese Erinnerung nicht sentimental mißverstehen. Wenn ich an meine eigenen Schwestern oder an mich und meinen Bruder denke, ist mir sofort klar, daß ein solcher Satz eine sehr nüchterne Erinnerung zu sein vermag, der einen “Vorschlag zur Güte” einleitet.

So auch bei Abraham. Seine Erinnerung daran, daß er und Lot engste Verwandte sind, ist ein sehr unsentimentaler, ein sehr nüchterner Appell an die menschliche Vernunft.

Wenn wir Christen einander "Bruder” sagen und “Schwester”, dann bringen wir damit in der Regel ein Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck, das uns auch zusammenhält. Wir halten es da eher mit der Erzählung aus dem Buch Ruth: “Wo Du hingehst, da will ich auch hingehen. Und wo Du bleibst, bleibe auch ich” (Ruth 1, 16). Auf den ersten Blick scheint das ja auch dem Selbstverständnis der una sancta catholica et apostolica ecclesia genau zu entsprechen. In ihr gilt: “Wir wollen niemals auseinander gehen!”

In der  “Vätergeschichte”  ist es anders: "Wir sind doch Brüder”, daraus folgt hier: "trenne Dich doch von mir. Willst Du links, so gehe ich rechts, oder willst Du rechts, so gehe ich links”. Abraham appelliert an die Vernunft. Keiner von beiden soll auf Besitz und Macht verzichten, keiner soll aber auch zu einer den Anderen erdrückenden Supermacht entarten. Man will  friedlich auseinandergehen. "Wir sind doch Brüder« d. h. Gewaltanwendung scheidet aus. Krieg jeder Art kommt nicht in Frage. Auch der  Kleinkrieg auf Hirtenebene nicht. Denn das, was man später als “Krieg”  kennen lernt und auch so nennt, das gibt es hier, wo es um familiäre “Beziehungskisten” geht, noch nicht. Hier gibt es nur “Streit”, der aber nicht weniger vehement und lebenszerstörend sein kann als der zwischen Völkern und Staaten geführte “Krieg”. In beiden Fällen ist menschliches Leben in Gefahr.   “Wir sind doch Brüder”, das kann man übersetzen mit “wir wollen uns leben lassen”.

Insofern ist unsere Geschichte  das positive alttestamentliche Gegenstück zu der anderen Erzählung vom schrecklichen Ende menschlicher Bruderschaft, die die “Urgeschichte” erzählt hatte:  zur Erzählung von Kain und Abel, der Geschichte vom Brudermord. Abraham kommt dieser finsteren Möglichkeit, die auch hier am Rande sichtbar wird, zuvor. Er appelliert in einer sich zuspitzenden Lage an die Vernunft, ehe es zu spät ist, bevor die unbedachte Tat geschieht: “Wir sind doch Brüder!”

Liebe Brüder und Schwestern, das ist auch eine Möglichkeit von Brüderlichkeit: in Frieden auseinanderzugehen. Man muß sich dabei ja nicht aus den Augen verlieren. Als Lot später - schon das nächste Kapitel erzählt davon - von fremden Königen in Sodom überwältigt wurde, da ist Abraham alsbald zur Stelle, um ihm zu helfen. Diese Hilfe ist eine späte Frucht der jetzt vollzogenen friedlichen Trennung.

"Wir sind doch Brüder" - dieser unsentimentale Appell an die menschliche Vernunft kann auch heute auf Erden im Großen und im Kleinen Wunder wirken. Er bedeutet Verzicht auf Gewalttat, auf physische und geistliche (jawohl: auch geistliche) Gewalttat. Mitunter kann er auch in der christlichen Ökumene mehr bewirken als  ein zu enges Zusammenrücken. Mitunter dient es dem ökumenischen Frieden, wenn die einen sich mehr nach links und die anderen sich mehr nach rechts orientieren. Wenn sie sich nur nicht aus den Augen verlieren, sondern im entscheidenden Augenblick gemeinsam zur Stelle sind.

Dieser Appell an die Vernunft wird jedenfalls immer dann notwendig, wenn Macht zur Supermacht entarten will, wenn Lebenshunger lebensbedrohend wird, wenn geistige Stärke zur ideologischen Fessel wird und wenn geistlicher Mut zu geistlichem Hochmut, evangelischer Zuspruch zu klerikalem Anspruch entartet. Dann ist es dringend geboten, Abstand zu nehmen, Distanz zu gewinnen. Dann wird der Appell “Wir sind doch Brüder!” zum Ausdruck einer elementaren Entkrampfung: Wir wollen uns leben lassen.

Höchste Verantwortung spricht sich also in dieser Aufforderung zur Trennung aus; auf keinen Fall zu verwechseln mit einem "laissez faire, laissez aller”. Im Gegenteil: es geht um brüderlichen Abstand voneinander, es geht um brüderliche Distanz. Es geht darum, daß Brüder und Schwestern einander leben lassen.

Hoffen wir, daß auch bei dem in unserer Kirche unerläßlichen “Mentalitätswandel” so viel Verantwortung zur Stelle ist, daß wir uns diesem Appell an die Vernunft bei aller theologischen Gegensätzlichkeit und Polemik nicht verschließen: Wir, die angeblich Modernen und die vermeintlich Orthodoxen, die allzu Kritischen und die allzu Unkritischen, wir, die angeblich Reaktionären und die vermeintlich Fortschrittlichen, wir sind doch Brüder. Wir sollten uns entkrampfen. Wir sollten nicht gegeneinander zu Felde ziehen, sondern brüderliche Distanz gewinnen. Wir sollten uns denken und leben lassen.

Dieser  Appell an die Vernunft kann von jedem verstanden werden. Und jeder, der ihn versteht, weiß, daß man diesem Appell nicht folgen kann ohne Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung. Es ist uns ja leider nicht fremd, zumindest mit Worten zuzuschlagen, wenn uns die Nähe eines Anderen unerträglich wird. Der Übergriff liegt oft näher als Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung.  Selbstverwirklichung ist lockender.

Verstehen kann also jeder, was da von ihm erwartet wird. Aber es gilt, das Verstandene auch zu tun. Und das fällt schwer. Abraham fällt es erstaunlich leicht.

Unsere Geschichte erzählt, daß Abraham seinen Appell an die Vernunft sofort mit einem großzügigen Angebot verbindet: Lot soll wählen, wohin er ziehen will. Er, Abraham, wird sich mit dem ausgeschlagenen Rest begnügen. Das ist gewiß ein Beispiel von Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung. Aber darin spricht sich noch etwas ganz anderes aus. Und damit kommen wir erst zum Kern unserer Geschichte. Denn was sich da in Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung ausspricht, das ist ein geradezu erschreckendes Maß an Gottvertrauen. Und deshalb, deshalb vor allem wird diese Geschichte erzählt. Nicht nur, weil hier an die Vernunft appelliert wird, sondern weil hier der Glaube an die Vernunft appelliert, das Vernünftige zu tun.

Man bedenke: Abraham war immerhin auf dem Weg in das ihm verheißene, aber noch unbekannte Land, als er Lot aufforderte, nach links oder nach rechts aufzubrechen, ganz nach eigener Wahl. Konnte nicht in der von Lot gewählten Richtung das gelobte Land, also das Ziel der göttlichen Verheißung liegen? Gab Abraham nicht leichtfertig preis, was Gott ihm zugedacht hatte? Was Gott für ihn bereit hielt, vielleicht lag es gerade dort: dort, wo nun Lot seinen Lebensraum haben wird?

Unsere Geschichte erzählt das Gegenteil. Und sie gibt damit zu verstehen, daß Gottes Verheißung für uns niemals auf Kosten des Nächsten verwirklicht wird.

Abraham glaubte der Verheißung Gottes. Gerade deshalb kann er zuwarten. Denn der Glaube mißt Erfolg und Mißerfolg nicht nach sichtbaren Dingen. Der Glaube kennt nur einen Erfolg: von Gott geführt zu werden. Und er kennt nur einen Mißerfolg: von dem, was vor Augen liegt, verführt zu werden. Der Erzähler schildert mit starken Superlativen und faszinierender Umständlichkeit den Eindruck, den das schöne und fruchtbare Land auf Lot macht: Da erhob Lot seine Augen und sah, daß die ganze Jordanebene  wohl bewässert war... wie der Garten Gottes, wie das Land Ägypten” - wahrhaftig ein verführerischer Eindruck für einen Kleinviehnomaden. Abraham läßt Lot die Wahl, und Lot hat sich den besseren Teil erwählt und brach auf gen Osten.

Abraham neidete es ihm nicht. Er gönnt ihm offensichtlich das fruchtbare Land, die satten Gefilde in der Jordanebene. Doch auch der Verzichtende kommt nicht zu kurz. Diese “Vätergeschichte” will uns nicht eine Moral des Verzichts vermitteln. Ganz im Gegenteil!

In einer geradezu unanständig anmutenden Konsequenz wird dem, der da eben noch verzichtend hinter dem Anderen zurücktrat, nun seinerseits  Lebensraum eröffnet. Und zwar weitaus mehr als er braucht. So weit sein Auge blicken kann, soll das Land ihm gehören. Gott selbst öffnet ihm die Augen für das, was an weltlichen Gütern nun auf ihn wartet. Der sich nicht verführen ließ von dem, was vor Augen liegt, der soll sich nun sattsehen. Schon seine Augen sollen genießen, was ihm an Besitz zuteil werden soll: ..Hebe doch Deine Augen auf und sieh... nordwärts, südwärts, ostwärts, westwärts!« Man meint fast Gottes eigene Freude zu spüren an all dem, was er Abraham da sehen und nehmen läßt. Und mehr noch: selbst einen Blick in die Zukunft darf Abraham tun. Der Staub zu seinen Füßen wird zum anschaulichen Bild für die Zukunft seines Geschlechtes: ..Deine Nachkommen will ich mehren wie den Staub der Erde.«

Was das bedeutet, wird klar, wenn man die dunklen Geschichten liest, in denen nachher Lots Töchter für Nachkommenschaft sorgen müssen. Da muß sehr, sehr menschlich manipuliert werden. Abraham hingegen darf göttlicher Fürsorge gewiß sein. Nicht nur jetzt, nicht nur für sich.  Noch lange nach Abrahams Tod wird der jetzt für ihn sorgende Gott sein Gott, "der Gott Abrahams”, sein und heißen.

Ein verhaltener Jubel durchzieht deshalb den Schluß unserer Erzählung. Reich beschenkt steht Abraham da. Das verheißene Land liegt vor ihm. Und er soll sich dessen freuen. Gar nicht protestantisch, gar nicht abstinent ergeht da Gottes Aufforderung: "Auf! Durchwandre das Land in der Länge und Breite, nimm's hin, denn Dir schenke ich es! Es ist nicht Belohnung für erlittenen Verzicht, sondern es ist die Fülle göttlicher Gnade, die da auf Abraham überströmt. Und so spiegelt sich in der göttlichen Schenkung, die dem Vater aller Gläubigen zuteil ward, die Fülle des Reichtums Gottes, der für alle seine Kinder irdische und geistliche Güter bereit hält.

Der Glaube vertraut auf Gottes Reichtum. Und Gott gibt, was er hat. Er verschenkt irdischen Lebensraum und schenkt ewiges Leben, er gibt zeitliche Güter und vergibt Sünden für alle Zeit. So ist der ewigreiche Gott am Werk, so führt er uns: niemals nur geistlich, sondern immer auch weltlich. Aber eben auch niemals nur weltlich, sondern immer auch geistlich.

Und deshalb steht am Ende dieser Geschichte mit all ihren weltlichen Wohlgerüchen ein Altar, erbaut zur Ehre Gottes. Der Appell an die Vernunft , der Abraham und Lot veranlaßte, in Frieden auseinander zu gehen, und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, schließen sich also nicht aus. Mehr noch. Kritischer Gebrauch der Vernunft und die Anbetung des ewigreichen Gottes begünstigen und befördern sich gegenseitig. Denn Gott ist ein Freund des gesunden Menschenverstandes. Deshalb ist es würdig und recht, wenn der gesunde Menschenverstand diesem Gott dankt und ihm die Ehre gibt.

Und so hoffen wir, daß auch die “Kirche der Freiheit” auf ihrem Weg durch das 21. Jahrhundert immer wieder einmal so frei ist, Gott einen Altar zu bauen mit Gedanken, Worten und Werken,  sei es nun neben einer Terebinthe oder auch einfach dadurch, daß sie - in, mit und unter allen Perspektiv-Planungen - die Kirche im Dorfe läßt.  Wo immer wir Gott Dank sagen und ihn ehren, da ist , da ereignet sich die Kirche der Freiheit.

Sie ereignet sich also auch hier und jetzt, wenn wir nun gemeinsam singen: “Nun laßt uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren...”  (EG 320,1-8).

 

Fußnoten:

(1) W. Benjamin, Der Erzähler.Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, Ges. Schriften  II/2, 1977, 442-445.

(2) C. Westermann, Genesis. Bibl. Kommentar, Altes Testament, I/11, 1.

(3)  Ebd.

(4) A.a.O, I/12, 124.

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