Gottesdienst zum Gedenken an 50 Jahre Arnoldshainer Abendmahlsthesen, Arnoldshain

Martin Schindehütte

„ER lädt an seinen Tisch.“

„Ach, bleiben Sie doch. Kommen sie doch mit rein.“ - Es ist je etwas besonderes, unverhofft oder lang ersehnt eingeladen zu werden. Der Einladende definiert mit dieser ersten Einladung seine Beziehung zum Eingeladenen neu. Eine größere Verbindlichkeit, eine größere Nähe entsteht – erst recht wenn man Gast zuhause, in dem ganz persönlichen Räumen des Gastgebenden ist. Der Gastgeber gibt sich ein Stück weit preis. Es erschließt sich ein neuer Raum, ein tieferer Blick in das Leben des Gastgebers, eine neue Wirklichkeit. Sie ist vertraut und fremd zugleich.

„ER lädt an seinen Tisch.“ Mit diesem Titel nimmt unsere kleine Tagung den Kerngedanken der Arnoldshainer Abendmahlsthesen auf. Christus lädt zu seinem Mahl – nicht die Kirche. Die Gastfreundschaft Jesu wird zum Konstitutivum des Abendmahls, zum Konstitutivum jener geistlichen Tischgemeinschaft, die die Mitte unseres Kircheseins ausmacht. Das ist ein weit tragender und folgenreicher und - wie ich meine - ein segensreicher Perspektivenwechsel für die erhoffte und erbetene Einheit unserer Kirche und ihre ökumenische Zukunft.

Was hat es mit der Gastfreundschaft auf sich? Es lohnt sich, nicht nur eigene Erfahrungen aufzurufen, es ist sehr ertragreich, sich einige Schlüsseltexte zur Gastfreundschaft in der Bibel zu vergegenwärtigen. Sie bilden zwar nicht den Text, aber den Kontext der eucharistischen Gastfreundschaft.

Zachäus

„Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Hause einkehren.“ Dieser Satz schafft doppelte Verwirrung. Bei Zachäus eine freudige Verwirrung. All die Bedingungen der Gastfreundschaft, der Gemeinschaft an einem Tisch sind umgekehrt. Der Gast lädt sich selber ein. Zachäus bekommt eine Gastgeberrolle zugesprochen, die er niemals selbst hätte in Anspruch nehmen können. Diese Selbsteinladung Jesu hat kein Verdienst und Würdigkeit bei Zachäus selbst. Diese Tischgemeinschaft hat keine Voraussetzungen beim Gastgeber, aber umso größere und sehr konkrete Folgen für ihn: „Siehe Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“ Zachäus zieht unmittelbare Konsequenzen für sein Leben und bringt in Ordnung, womit der die Gemeinschaft geschädigt und sich außerhalb ihrer gestellt hat Und Jesus spricht ihm Gemeinschaft zu, jedoch nicht nur eine soziale, sondern vor allem die theologische und spirituelle Gemeinschaft des erwählten und gesandten Volkes Gottes: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Das gemeinsame Mahl hat nicht die Gemeinschaft zur Voraussetzung, es konstituiert sie. Aus dem Geber, dem Gastgeber wird ein Empfangender.

Die Logik der Gastfreundschaft ist umgekehrt. Bestimmend ist nicht die Wirklichkeit des Gastgebers, sondern die des hinzutretenden Herrn.

Die Menge, der common sense allerdings empfindet keine freudige, sondern eine böse Verwirrung. Ihre Logik wird aufgehoben: „Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt“.

Abraham in Mamre

„Habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber.“ So lädt Abraham die drei fremden und geheimnisvollen Männer ein, als er vor seinem Zelt saß und der Tag am heißesten war. Abraham und Sara tun alles, um gute Gastgeber zu sein: Die Füße gewaschen, Kuchen gebacken, ein Kalb gebraten und köstlich aufgetischt. Aber auch sie bleiben nicht die Geber, die Gastgeber. Wieder jene heilsame Verwirrung, jene überraschend gnädige Umkehrung der Rollen. Auch Abraham und Sara werden Empfangende: Sara wird in ihrem hohen Alter einen Sohn gebären. Sie erfahren aus diesem gemeinsamen Mahl Verheißung des Lebens, Eröffnung von Zukunft, Segen für das Volk und die Völker. „Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein?“ Auch hier gilt:

Die Logik der Gastfreundschaft ist umgekehrt. Bestimmend ist nicht die Wirklichkeit des Gastgebers, sondern die des hinzutretenden Herrn.

Emmaus

„Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.“ Das ist auf den ersten Blick endlich die richtige Rollenverteilung. Jener Fremde, der mit ihnen so unglaublich tiefgehend und anrührend über den Kreuzestod Jesu gesprochen hatte, wird am Abend des Tages nach langem Weg zum Bleiben eingeladen. Er ist schon auf dem Weg zu einer Hoffnung geworden dafür, dass mit dem Tod Jesu nicht der aller Tage Abend geworden ist und sich nun die schwarze Nacht der Verzweiflung auf die Jünger legt. Nun soll dieser Fremde, dieser Hoffnungsgeber, dieser Hoffnungsträger bleiben. Gewiss nicht nur, um ihm Unterkunft und Schutz zu gewähren. Gewiss ebenso, selbst von seiner Hoffnung getragen und geschützt zu werden. Aber auch hier verkehren sich sie Rollen. Nicht der Hausherr – wie es eigentlich zur Eröffnung des Mahles üblich ist - sondern der Gast nahm das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. „Da wurden ihnen die Augen geöffnet und sie erkannten ihn.“ Und von dieser Erfahrung aus öffnet sich der ganze Weg, den sie mit diesem Fremden gegangen sind. „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“ Auch hier geschieht: Die Geber, die Gastgeber werden zu Empfangenden.

Die Logik der Gastfreundschaft ist umgekehrt. Bestimmend ist nicht die Wirklichkeit des Gastgebers, sondern die des hinzutretenden Herrn.

Der Weinstock

Vom Bleiben ist auch im Predigttext des heutigen Sonntags die Rede und in dem Bildwort vom wahren Weinstock, das dem Text vorangeht.

„Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.

Das ist nun keine Szene der Gastfreundschaft mehr. Hier geht es um noch mehr. Hier wird nicht nur auf Zeit und an einem bestimmten Ort gewährt, was zu Leben nötig ist. Hier geht es um eine Grundbestimmung unseres ganzen Lebens. So kann man statt von Gastfreundschaft vielleicht eher von Lebensfreundschaft sprechen. In Christus bleiben heißt, mit dem Leben und mit der Liebe verbunden zu bleiben, in unserer endlichen Lebenszeit und über sie hinaus. Hier wird im Bild vom Weinstock und den Reben von einem Lebensstrom, einem Freudenstrom, einem Liebesstrom gesprochen, dem wir uns im Leben, im Sterben und in der glaubenden Gewissheit über den Tod hinaus allein verdanken. Auch hier sind wir die Empfangenden und nur als Empfangende auch Gebende. Auch hier gilt.

Die Logik des Lebens ist umgekehrt. Bestimmend ist nicht die Wirklichkeit, die wir erfassen, sondern die des Leben spendenden Herrn.

Das Bild vom Weinstock mit der nahe liegenden Verknüpfung mit dem Wein des Abendmahls ist wiederum nicht der Text, wohl aber ein wesentlicher Kontext der eucharistischen Gastfreundschaft oder - weitergehend - des eucharistischen Lebens, in dem wir uns als einzelne Glaubende und als ganze Kirche Gott verdanken.

Die theologische Gedankenfigur, das Christus der Einladende im Abendmahl ist, ist kein theologischer Trick und ebenso wenig eine theologische Kompromissformel. Sie markiert eine grundlegende Perspektive von kaum zu ermessener ökumenischer Tragweite. Sie ist eine Ausformung der reformatorischen Grundformel vom dreifachen solus: sola fidei, sola gratia, solus christus. Die Kirche in ihrer historischen Gestalt kommt in dieser Grundformel nicht vor. Die Kirche hat keine vorgängige Voraussetzung in ihrer innerweltlichen Gestalt, sie bleibt immer zuerst Gabe Gottes. Sie ereignet sich in der Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament, einer Bezeugung, die ihre Kraft und ihren Grund im Wirken des Heiligen Geistes hat. Jeder einzelne Glaubend und die Gemeinschaft der Glaubenden lebt eben von jenem Lebens- und Kraftstrom des Heiligen Geistes, für den der Weinstock und die Rebe ein so schönes und tiefes Bild und der im Abendmahl ein so unverzichtbares, lebendiges und gestaltetes Ereignis ist.

In dieser Perspektive behalten die verschiedenen historisch gewachsenen Gestalten und die aus Geschichte und in Gegenwart differierenden Lehrunterschiede ihre Bedeutung. Das Bemühen darum, was es bedeutet, dass das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden, (in qua evangelium pure doctur et rechte administratur sacramentum) bleibt unverzichtbare ökumenische Aufgabe und Herausforderung. Unsere theologischen Anstrengungen, unsere Debatten und auch Streite bleiben notwendig. Wir werden nicht zu schwärmerischen Freigeistern. Nein, wir bleiben dem Wort, dem Bemühen seiner hermeneutischen Durchdringung, den Auseinandersetzungen um seine Bezeugung auch in der Gestalt unserer Kirche verpflichtet. Jene Differenzen und Auseinandersetzung verlieren aber ihren trennenden Charakter am Tisch des Herrn und unter den Kirchen. Am Weinstock gibt es ja auch viele Reben und an jeder Rede viele Beeren. Sie leben alle von Christus als dem Spender allen Lebens – auch dem der Kirche.

Es kann also sein, dass wir in der Gastfreundschaft Jesu ähnliche Erfahrungen machen wie Zachäus, der von seinem Baum herunter und seine Rollen ablegen musste. Die Selbsteinladung Jesu führte ihn in die neues Leben eröffnende Umkehr. Er wurde frei von den Bindungen an eine gottlose Welt zum freien Dienst an Gottes Geschöpfen.

Es kann sein, dass uns wie Abraham und Sara die Verheißung widerfährt, die weit über uns und unseren Horizont hinausreicht und uns in unserer Verantwortung für Frieden Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zum Segen macht für alle Völker.

Es kann sein, dass uns das Brotbrechen Jesu die Augen öffnet, und unseren bisherigen Weg als Kirchen in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Dann brechen wir wie die Jünger auf nach Jerusalem, das Zeugnis des auferstandenen Herrn auf den Lippen. Uns wird dann das Heft aus der Hand genommen und das Wort auf die Lippen, die Hand und das Herz gelegt.

Die eucharistische Gastfreundschaft, die Lebensfreundschaft Christi macht uns klar, wir sind auch als Kirche weder Geber und Gastgeber - und erst recht keine Verwalter der Gegenwart des Herrn, wir sind Empfangene.

Auch unsere Logik als Kirche ist umgekehrt. Bestimmend ist im Grunde nicht die Gestalt die wir unsere Kirche geben, bestimmend ist der die Kirche schaffende und erhaltende Herr.

An und in ihm zu bleiben, das ist seine Einladung an alle in seiner Gleichnisrede vom Weinstock, in seiner Gleichnistat im Abendmahl. Das ist Verheißung und Gericht.

„Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.“

„Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“