Bibelarbeit "Tastend fühlen und finden" (Apg 17, 26-28)

Ulrike Greim-Haspel

Sehr geehrte Synodale! Sehr geehrte Präses, liebe Barbara Rinke! Sehr geehrte Mitglieder des Rates! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Schwestern und Brüder! Es ist für mich eine große Ehre und eine nicht kleine Herausforderung, Ihnen heute mit der Auslegung eines Bibeltextes in Ihr Thema zu helfen: „evangelisch Kirche sein“ oder wie immer der Titel sein mag, auf den Sie sich heute noch einigen mögen. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die Sie zu stemmen haben, und ich beneide Sie keineswegs um die Aufgabe, Weichen zu stellen.

Sie haben sich dafür mit Dresden einen sehr interessanten Ort ausgewählt. Die Frage der Zukunft von Kirchen und der evangelischen Kirche im Besonderen ist hier drängender als in vielen alten Bundesländern. Der Traditionsabbruch mit der Kirche liegt hier bereits drei, eher vier Generationen zurück. Der Boden, auf dem wir hier stehen, ist nur in den großen geschichtlichen und kulturellen Koordinaten christlich-abendländisch geprägt. Im Alltag leben zwei Drittel der Menschen hier ohne Kirche und ohne christlichen Glauben.

Was heißt es nun, auf diesem Boden als evangelische Christin, als evangelischer Christ zu leben? Was heißt es, um es mit Luther zu sagen, hier zu stehen und nicht anders zu können, den Widerständen trotzend und dem Gewissen folgend aufrecht zu glauben und danach zu leben? Dem möchte ich nachgehen, in der festen Überzeugung, dass kein Thema eines im Osten ist, das nicht auch eines im Westen und Süden und Nordwesten wäre.

Ich freue mich sehr, dass Sie einen Aufbruch in der evangelischen Kirche wollen, dass Sie ihn angeregt haben und betreiben, und ich bin ganz bei Ihnen in allen Bemühungen, hier gute Wege zu finden. Bereits die Suche danach ist gesegnet. Das zumindest verheißt ein Bibelvers, der mich immer wieder irritiert: „Suchet den Herrn, so werdet ihr leben“ (Amos 5,6). Er irritiert mich deswegen, weil da nicht steht: „Wenn ihr den Herrn gefunden habt, werdet ihr leben.“

Die Suche nach Gott bereits, das Tasten, das Offensein ist das, was das Leben ausmacht. Gott will sich finden lassen. Dazu müssen wir manchmal den Blick öffnen, den Himmel suchen. Das ist hier nicht ganz schwer, auch wenn er bewölkt ist. Aber der Himmel überrascht uns auch gern. Er lässt sich entdecken, wo wir ihn mitunter nicht vermuten. Gott steckt zum Beispiel in dem Boden, auf dem wir stehen. Er steckt in unseren Geschichten, in unserer Herkunft, in unseren Regionen. Er ist ganz nah. Der Aufbruch – das ist meine These – beginnt, wenn wir ankommen, wo wir sind.

Ich möchte mit Ihnen zurückgehen auf die Anfänge des Christentums, auf Lukas, den Arzt, der in einer redaktionellen Fleißarbeit die Missionsreisen des Paulus nachzuvollziehen und zu deuten versucht hat, der erzählt, wie sich dieser Missionar auf die Kontexte seiner Zuhörerinnen und Zuhörer einlässt und ihnen unbeirrt seine Botschaft verkündet, mal mehr, mal weniger erfolgreich.

In der Apostelgeschichte 17 nun lässt Lukas Paulus in Athen ankommen, in der Stadt, die vom Glanz der Geschichte zehrt, auch wenn sie politisch nicht mehr bedeutsam ist. Aber sie steht durchaus als Synonym für die Auseinandersetzung mit Kultur und Philosophie. Unter den philosophischen Strömungen waren es besonders die Stoiker, die den Ton angegeben haben.

Lukas lässt nun Paulus sehr geschickt auf die Stoiker treffen. Sie finden, so schreibt er, Paulus interessant, weil er von einer fremden Gottheit redet; und weil man, um gedanklich fit zu bleiben, immer offen ist für einen kleinen religiösen Disput, holt man ihn heran, er solle doch mal erzählen. Was nun folgt, ist eine wundervoll gewobene Rede, theologisch ausgefeilt und vor allem klug eingefädelt, weil sie das Gegenüber, die Stoiker, zitiert und mit ihren Gedanken spielt. Ich wette, dass sie in Rhetorikbüchern als herausragendes Lehrbeispiel gilt. Auch für Philosophen muss es eine Lust sein, diese Rede zu lesen.

Bibelforscher sind sich nicht ganz einig, ob der Text so zu verstehen ist, dass die Athener Paulus „auf den Areopag“ geführt haben, also den Ares-Hügel, auf dem früher Gericht gehalten wurde, oder „zum Areopag“. Das ist der gleichnamige Sitz einer Behörde, die für rechtliche, wirtschaftliche und kultische Angelegenheiten zuständig war. Daraus könnte man ableiten, ob die Rede eher eine Bergpredigt ist oder eine Verteidigungsrede vor dem Hohen Rat. Sei es, wie es sei, sie ist schon damals eine sehr beachtete und zitierte Rede geworden. Vor allem fällt mir auf: Sie ist perfekt komponiert.

Lukas lässt Paulus als Steilvorlage einen Altar nehmen, den er beim Spazierengehen in der Stadt gefunden hat. Der sei „Der unbekannten Gottheit“ gewidmet gewesen. Forscher sagen, dass es diesen Altar nicht direkt so, zumindest aber so ähnlich gegeben haben muss. Die Athener hatten bei allen Göttern, die sie verehrten, eben auf Nummer Sicher gehen wollen und einen errichten lassen für „die Götter Asiens, Europas und Afrikas, die unbekannten und wandernden Götter“. Paulus greift nun den Unbekannten heraus und spricht im Weiteren von ihm im Singular. Er verkündet den Einen. Es geht ihm um den Schöpfergott, von dem alles kommt, der keine Tempel braucht, keine Statuen, weil er sich selbst in seiner Schöpfung zeigt. Er ist einer, der es nicht nötig hat, sich dienen zu lassen, weil er – im Gegenteil sogar – selber dient und allem, was lebt, das Leben und den Atem gegeben hat.

Und nun kommen folgende drei Verse. Ich zitiere Apg 17, 26 – 28, vorerst nach Luther: „Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne einem jeden unter uns. Denn in ihm leben und weben und sind wir.“

Das ist die Beschreibung des Kosmos. Lukas lehnt sie an griechische Dichter an bzw. zitiert sie sogar im letzten Satz, als würden sie seine Theologie bestätigen. Die Art, in der Luther den letzten Satz übersetzt, finde ich unübertroffen. Es ist ein geradezu mystischer Abschluss. Und es kann trotz vieler Auslegungen noch nicht erschöpfend besprochen sein, was es heißt, in ihm zu leben, zu weben und zu sein, in ihm zu leben oder sich zu bewegen, wie es die Bibel in gerechter Sprache übersetzt.

Bedenken möchte ich aber vor allem die Zeilen vorher. In ihnen geht es nämlich um das Ziel des Lebens: Gott suchen. Denn das heißt so, wie es da steht: Auf jedem Boden dieser Welt ist er zu finden. Wir müssen also davon ausgehen, dass jede und jeder von uns ausgestattet ist mit der Fähigkeit, ihn zu fühlen.

Selbst die sonst nicht vor Sinnlichkeit strotzende Elberfelder Bibel übersetzt hier tatsächlich „tastend fühlen und finden“. Wir tasten zwar als Blinde; aber wir haben die Zusage, dass der Schöpfer in dem Stückchen Erde, das wir bewohnen, zu entdecken ist.

Das heißt: Er ist in unseren Geschichten, in unseren Biografien, in unserer Herkunft, in unserer Region. Er ist bei uns zu Hause. Der Himmel ist unter unseren Füßen. So gesehen gibt es keine karge Erde.

Was ist also unter unseren Füßen? Das ist eine ungewöhnliche Frage. Es sind Strümpfe und Schuhe. Und darunter? Ein Teppichboden hier oben, warm, weich, anders als bei Ihnen. Und wenn man darunter bohren würde, was kommt dann? Lehm, Elbesand.

Nur wer barfuß geht, fühlt den Boden: kalten Marmor, weiches Gras, im Sommer den heißen Asphalt. Wir gehen lieber gut behütet und beschuht über die Erde, aber verpassen einiges.

Wer einen Garten hat, kann sicher noch eher sagen, wie ertragreich der Boden ist. Bauern können das. Sie wissen sogar, wie er riecht. Aber was ist unter unseren Füßen? Welche Geschichten wären über den Boden, auf dem wir stehen, zu erzählen? Was zeichnet sich ab, wenn wir einmal fühlen? Was ist da spitz und kantig, was warm und weich?

„ER hat uns auf diesen Erdboden gesetzt“, sagt Paulus. Wir sind gesetzt. ER hat uns die Eckdaten gegeben: Zeiten und Grenzen. Es ist ein Motiv der Stoiker, das Lukas hier aufgreift, das allerdings auch von ihm selber immer wieder verwendet wird: Die Geschichte verläuft nach Gottes Plan. Es ist nichts zufällig. ER hat es gedacht und gesetzt, ER bestimmt die Koordinaten. Für uns ist es so: Wir werden geboren, ohne Tag und Stunde beeinflussen zu können, an einem Ort, den wir uns nicht ausgesucht haben. Wir werden in eine Familie gesetzt, in eine Gesellschaft, eine Religion, eine Konfession, eine Zeitgeschichte. Wir müssen uns zuerst, und zum Teil ein Leben lang, mit dem Vorgegebenen arrangieren. Wir müssen die Grenzen austesten, den Raum dazwischen nutzen.

Gott hat uns Zeiten gegeben. Wenn Lukas hier von Zeiten spricht, meint er in erster Linie Jahreszeiten. Von denen waren die Leser seiner Zeilen ja existenziell abhängig, anders als wir heute. Wir sind wirtschaftlich in der Lage, uns weitgehend von den jahreszeitlichen Zyklen abzukoppeln. Wir kaufen, was wir wollen, weil es möglich ist, Äpfel und Birnen auch aus Australien einfliegen zu lassen. Herbst ist kein Begriff des Handels. Wer nicht viel an der Luft ist, sondern in klimatisierten Hotels, Autos, Zügen und Häusern lebt, an dem rauschen sowohl die blühenden Rapsfelder im Frühjahr als auch die bunten Alleen, die Laubfärbung nur als optischer Eindruck vorbei: Ach, geht der Herbst schon zu Ende. Schade.

Dabei unterliegt die Natur wie auch unser Leben bestimmten Rhythmen. Paulus verwendet hier die zeitlichen Grenzen, die Rhythmen als feste Größe, nicht als Beiwerk. Die Kirchen gehören zu den wenigen Institutionen, die diese feste Größe ernst nehmen. Mit dem Kirchenjahr haben wir eine Struktur, einen Rhythmus.
Jetzt gehen wir auf das Ende des Kirchenjahres zu. Die Blätter fallen, die Lebenskräfte gehen zurück, sie konzentrieren sich, der Winter steht vor der Tür. Wir vergewissern uns der Endlichkeit, wir schauen Ewigkeit. Dann beginnt das Leben neu, ganz zart und rein.

Wir haben Zeiten und Rhythmen, erst recht mit dem Sonntag, der segensreichen Einrichtung, deren Wichtigkeit von niemandem mehr ernsthaft infrage gestellt werden kann. Vor allem Anfang und Ende sind in Gottes Hand: „ER hat festgesetzt, wie lange sie bestehen“, sagt Paulus über die Menschen auf der Erde.

Aber nicht nur das: „ER hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen.“ Gott hat uns Grenzen gesetzt. Wie hören Sie das als Erstes: beengend oder befreiend? Bei mir kommt ein Aufatmen: Es ist nicht nötig, alles zu tun. Ich habe meine Grenzen, über die ich nicht gehen muss. Ich muss nicht alles können, ich muss nicht alles machen, ich bin nicht überall für alles verantwortlich, ich bin nicht unbegrenzt verfügbar, ansprechbar, einplanbar.

Wir haben Grenzen, wir, die Kirche, die Gesellschaft. Wir müssen nicht über unsere Grenzen gehen. Wir müssen nicht alles können, nicht alles machen. Wir sind nicht überall für alles verantwortlich, wir sind nicht unbegrenzt verfügbar, ansprechbar, einsetzbar – oder doch?

Welche Grenzen sind gesetzt? Welche müssen wir überschreiben und wann? Wenn wir Hilfe leisten müssen zum Beispiel. Natürlich. Aber bis wohin? Und wie holen wir uns wann wieder zurück? Wenn mein Nachbar sein Kind verprügelt, muss ich über den Gartenzaun. Da muss ich eine Grenze beherzt überschreiten, bei allem Respekt und in Anerkenntnis der Tatsache, dass Grenzüberschreitungen nie unproblematisch sind. Aber das wäre im Einzelfall abzuwägen.

Was mache ich mit zu engen Grenzen, physischen, mentalen, politischen, finanziellen, geografischen? Auch mit engen Staatsgrenzen kann man sich arrangieren, wenn man will, werden viele DDR-Sozialisierte sagen. Wir können ein Lied davon singen, wie man wunderbar Urlaub machen kann zwischen Elbsandsteingebirge und Ostsee oder zwischen Balaton und den Masuren. Es sind großartige Landschaften. 40 Jahre haben nicht gereicht, um sie auszukundschaften. Und Europa ist um vieles größer. Der kleine Raum unter unseren Füßen ist vermutlich größer, als wir ihn in unserem Leben austesten können.

Die Dresdner hatten noch mit engen kommunikativen Grenzen zu kämpfen. Hier im „Tal der Ahnungslosen“, wie sie selbst gern gespottet haben, konnte man nicht mal Westfernsehen sehen – dafür gut Deutschlandfunk hören.

Was machen wir also, wenn wir hart an die Grenzen stoßen, die uns gesetzt sind? Viele, auch hier aus der Region, haben sich an den politischen Grenzen wundgerieben, haben den Stacheldraht zu spüren bekommen. Etliche sind daran zerbrochen. Auch die Generation nach ihnen hat daran zu tragen. Ich habe neulich einen jungen Mann kennen gelernt, etwas jünger als ich, dessen Eltern wegen eines Fluchtversuchs verhaftet wurden. Er hat sie jahrelang nicht gesehen, kam zu Verwandten und in ein Kinderheim. Er war mit seiner Familiengeschichte in der DDR-Geschichte mit verhaftet. Jetzt erst kann er in Ansätzen diese seine Geschichte aufarbeiten. Nicht nur für seine Eltern, auch für ihn waren die Grenzen zu eng.

Es gibt viele Arten, gefangen zu sein, und viele Arten, Gefangenschaft zu überwinden. Das habe ich auch hier in Dresden erfahren von Ehrenamtlichen, die Gefangene betreuen. Eine Devise des Vereins, der das organisiert, ist die, dass die, die in sogenannter Freiheit leben, mit den Gefangenen zusammen buchstabieren lernen, was Freiheit ist. Ein Ergebnis war, dass man sich auch im streng strukturieren Gefängnisalltag der JVA Dresden freimachen kann, seinen eigenen Rhythmus zu finden, zum Beispiel eher aufzustehen, um etwas zu lesen oder zu schreiben oder Radio zu hören, sich nicht abhängig zu machen von der äußeren Grenze. Es ist möglich, sich inneren Freitraum zu verschaffen.

Der Raum, den der Schöpfer unter unsere Füße gegeben hat, mag sich karg anfühlen, aber er hat seine Qualitäten.

Welchen Raum hat nun Gott uns bestimmt? Ist der Raum unsere Region? Eine Bekannte hat -  und davor habe ich größten Respekt – für sich beschlossen, nach einer turbulenten Lebensphase keine Projekte mehr zu machen, die weiter als 50 km von ihrem Heimatort in Ostsachsen entfernt liegen. Ihr stehen bundesweit – das weiß ich – viele Türen offen. Wenn sie Lust hätte, könnte sie zum Beispiel in interessanten Gremien sitzen. Aber sie hat sich entschieden und – soweit ich weiß – durchgehalten. Ich selbst habe es in meinem Babyjahr als großen Gewinn erlebt, das Auto stehen zu lassen, hauptsächlich zu Fuß mit dem Kinderwagen sein zu können oder mit dem Bus in Weimar unterwegs sein zu können. Mal endlich da sein zu können, etwas mitzukriegen von der Stadt, den Parks, den Jahreszeiten. 2004 war die Laubfärbung auffällig schön.
Freundinnen haben aber skeptisch bemerkt, dass sie in jedem Jahr so schön sei. Ich habe es genossen, mal endlich einen kleinen Radius haben zu können, feste Bezüge im nahen Umfeld. Das war heilsam. Und ist das nicht der richtige Weg?

Ist nicht die Entgrenzung aller Lebensbezüge heillos? Wir holen uns jeden Abend die Welt ins Wohnzimmer, wir können mit einem Mausklick international operieren. Wir können in den Himmel fliegen, Sternengalaxien belauschen, aber den Boden unter unseren eigenen Füßen spüren wir nicht. Alles soll gehen, überall und zu jeder Zeit. Der Teufel häuft Überforderung auf Überforderung. Was sagt nun der Text über Grenzen? Er sagt: Gott hat uns Grenzen gesetzt. Und wir sollen ihn darin suchen. Fürwahr: Er ist nicht fern. Der Gott, der Leben und Atem und alles gibt, ist ganz nah bei dir und nah bei mir. Er will sich finden lassen. Das ist schon alles. Und das ist großartig.

Wenn wir ihn suchen, wenn wir barfuss werden, seine Spur aufnehmen, dann leben wir. Dann können wir auch Grenzen überspringen, ohne uns zu weit raus zu wagen. Wir fühlen ja immer noch. Dann können wir Grenzen verrücken und uns in neuen Grenzen zurechtfinden, ohne Angst. Dann können wir – behutsam versteht sich – einen eng gesteckten Rahmen erweitern. Nicht unendlich. Aber immerhin. Wir können hinauswachsen über unsere Herkunftsfamilien, über unseren kleinen regionalen Horizont, weit über unseren Kirchturm. Wir können den Geruch der großen weiten Welt atmen, den Mief hinter uns lassen, die Welt erobern, ohne den Bodenkontakt zu verlieren. Frei und geerdet zugleich. Wir können seiner Spur folgen. Er ist ein Gott in Bewegung. Er will sich finden lassen am Elbufer wie im staubigen Sand der Townships von Kapstadt, er ist zu fühlen in den breiten Straßen Moskaus und in den engen Schluchten von Harlem. Dort ist er anders. Aufregend anders.

Gott setzt uns in Bewegung. Er will, dass wir seine Gesichter suchen in der Schöpfung der Welt. Dass wir staunen über seine Vielfalt und dass wir sehen, wie die Erde eins ist, wie unteilbar alles zusammengehört. Wir können alles, wenn wir die Böden unter unseren Füßen nicht verlieren, wenn wir sie respektieren. Der Aufbruch beginnt, wenn wir ankommen, wo wir sind. Und er mündet in eine Bewegung. Hin zum Nächsten. Sei er Stoiker, Agnostiker, Atheist oder Muslim.

Die Zusage lautet nicht: Gott wohnt in den Metropolen. Wenn ihr dort die richtigen Kontakte habt, könnt ihr etwas bewegen. Die Zusage lautet: Er ist nicht fern von jeder und jedem von uns. Das gilt für Christinnen im überalterten Dorf in der Lausitz oder im Saarland genauso wie für Christen in München und Hamburg. Das gilt für die orthodoxe Frau in Minsk wie für den Pfingstler in New York. Die Herausforderung, hier evangelisch zu sein, kann nur heißen: Bohrt Brunnen, bohrt Leitungen. Ihr habt den Zugang zur Quelle. Unvermittelt. Ihr habt Durst, dann sucht. Ihr sollt gesättigt werden und selber Quelle sein.

Wenn wir uns mit beiden Beinen auf den Boden der Tatsachen stellen, den Kontext wahrnehmen, die achten, die vor uns waren und um die Geschichten wissen, dann atmen wir den Atem des Schöpfers. Dann werden wir leben. Und weben. Und sein. Amen.

Ich würde gerne mit Ihnen ein Aufbruchslied singen, das Sie gestern schon im Gottesdienst gesungen haben, weil es unmittelbar in diese Bewegung geht. Nicht nur, weil es von einem Thüringer geschrieben wurde, Klaus-Peter Hirsch, sondern weil es auch für eine Aufbruchsituation geschrieben wurde, nämlich für eine Hochzeit. Die Ehe hält übrigens bis heute, drei glückliche Kinder sind daraus entstanden, schlecht kann der Vers also nicht sein.

(Folgt Lied 395, Verse 1 bis 3.)

Ich würde sehr gerne mit Ihnen beten und um den Segen bitten.

Himmlischer Vater, der Du uns Leben und Atem und alles gibst, wir sind in Deiner Hand. Hilf Du uns zu sehen, wo unser Weg hin geht und was wichtig ist, und hilf uns in unseren Bezügen, Dich zu finden. Wir verbinden uns mit der weltweiten Christenheit in dem Gebet, das Du uns gelehrt hast.

(Gemeinsames Gebet: Vater unser)

Es segne und behüte uns Gott der Allmächtige und der Barmherzige, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.    

05. November 2007