Predigt über 2. Mose 20, 1-17 in der Versöhnungskirche Dachau im Rahmen des Gedenkens zum 75. Jahrestag der „Sudetenkrise“

Nikolaus Scheider

Predigt über 2. Mose 20, 1-17
„In diesen Zeitläuften, da der Kriegslärm die ganze Welt erfüllt, 
laßt uns auf Gottes Wort hören und zu Herzen nehmen,
daß Gott ein Herr über Krieg und Frieden ist.        
Höret Gottes Wort, wie es geschrieben steht…“


Mit diesen Worten, liebe Gemeinde,  erinnerte zu Zeiten der Sudetenkrise eine Friedensliturgie der 2. VKL der Bekennenden Kirche Christinnen und Christen an Gottes Wort, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht.

Vieles ist damals geschehen und in den Jahren seit dem September 1938. Vieles an Verbrechen, Leid und Schuld. Davon war auch die Evangelische Kirche in Deutschland betroffen. Fast alle oberen Kirchenbehörden und Kirchenleitungen waren in der Hand der „Deutschen Christen“, für die die nationalsozialistische Ideologie verbindlich war. Ausnahmen waren die „Intakten Landeskirchen“: Hannover, Württemberg und Bayern. In den anderen Landeskirchen hatten sich „bekennende Kirchen“ herausgebildet, die parallele Strukturen gegen die deutsch-christlichen Kirchenleitungen und Verwaltungen aufbauten. Diese und die „Intakten Landeskirchen“ waren in der „Beckenenden Kirche“ auf Ebene des Deutschen Reiches verbunden. Wie viele Spannungen das mit sich brachte, kann man sich leicht vorstellen, denn die „Intakten Landeskirchen“ suchten die Kooperation mit dem Staat – ganz anders die von ständiger Illegalität und Verfolgung bedrohten Bekenntnisgruppen. Die Friedensliturgie brachte den Bruch in der „Bekennenden Kirche“ mit sich. Die zum Reichskirchenminister Kerrl bestellten Bischöfe der „Intakten Landeskirchen“ brachen die Gemeinschaft mit der 2. VKL und gaben die dort Verantwortlichen der staatlichen Repression preis. Außerdem wusste die staatliche Propaganda diesen Vorgang auszunutzen. Und auch kirchenintern gab es disziplinarische Maßnahmen: einige Pfarrer, die die Liturgie verantworteten und verlasen –obwohl die „Sudetenkrise“ durch das „Münchener Abkommen“ gelöst zu sein schien-, verloren ihre Ordination, was einem Rausschmiss gleichkam oder erlitten Gehaltssperren.

Das war aber vergleichsweise einigermaßen zu ertragen im Vergleich zu den brutalen Verfolgungen, denen Sudetendeutsche Nazi-Gegner, insonderheit Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, Tschechen und Juden ausgesetzt waren. Sie wurden von deutschen Besatzern gejagt, auch nach Dachau verschleppt oder auch ermordet. Und ich kann nur mit Hochachtung und Respekt die Lebenshaltung und den Mut, die Lebensleistung und die hohe Gesinnung derjenigen bewundern, die damals widerstanden – denn Heldentum kann man nicht von Menschen verlangen. Und es berührt mich tief, dass heute Menschen oder Angehörige von Opfern unter uns sind. Ihren Bericht, liebe Frau Spoerl, habe ich mich sehr bewegt – Danke dafür!

Gott sei Dank ist aber auch seither vieles an Einsicht, Umkehr und Versöhnung geschehen. Dieser Gottesdienst und die Ausstellung übern den sozialdemokratischen Widerstand geben davon Zeugnis. Und ich füge hinzu: das Friedenszeugnis der Kirchen heute ist auch aufgrund dieser Erfahrungen klarer, fester und ökumenischer geworden!

Und dennoch erfüllt Kriegslärm unsere Welt auch noch in unseren Tagen. Noch immer und immer wieder neu maßen Menschen sich in selbstherrlicher Weise Herrschaft über Tod und Leben an.    
Noch immer und immer wieder neu suchen Menschen mit militärischer Gewalt eigene Interessen durchzusetzen und Widerständiges zu unterdrücken. Noch immer und immer wieder neu zerstören Menschen die Würde und die Existenz anderer Menschen.

Deshalb gilt auch heute:   
Wir Menschen brauchen noch immer und immer wieder neu die alten, aber niemals veraltenden Worte und Weisungen Gottes. Dmit unser Leben und damit unsere Welt nicht verloren gehen.

Darum ‚höret Gottes Wort, wie es geschrieben steht‘ im 2. Buch Mose in den Versen 1 bis 17 des 20. Kapitels:

„Und Gott redete alle diese Worte:
Ich bin der HERR, dein Gott,
der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen,
weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden,
noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!
Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott,
der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied
an den Kindern derer, die mich hassen,
aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden,
die mich lieben und meine Gebote halten.

Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen;
denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen,
der seinen Namen missbraucht.

Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst.
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes.
Da sollst du keine Arbeit tun,
auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh,
auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht
und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage.
Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,
auf dass du lange lebest in dem Lande,
das dir der HERR, dein Gott, geben wird.

Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel
noch alles, was dein Nächster hat.“

Bekannte und vertraute Verse haben wir gerade gehört, liebe Gemeinde:  Die „10 Gebote“ gehörten und gehören zum Kernstoff im Unterricht des Judentums und des Christentums. Über die Synagogen und die Kirchen hinaus sind sie zu einem ‚Kulturgut‘ geworden, zu einer ethischen Grundlage des Lebens aller Menschen

Nach der biblischen Erzählung steigt Mose vom Gottesberg Horeb herab mit zwei steinernen Tafeln, auf denen Gottes Gebote eingemeißelt sind:
Gottes Anordnungen für Menschen seines Volkes, die auf dem Weg sind heraus aus der Sklaverei in die Freiheit im Land der Verheißung.
Gottes Weisungen, die deutlich machen, wie das Leben seines Volkes in der Beziehung zu ihm und in der Beziehung untereinander zu einem gesegneten Leben werden kann – in Freiheit und guten Nachbarschaft mit anderen Völkern.

Unser Predigttext, liebe Gemeinde, ist ein Kernstück der Tora, also der Hebräischen Bibel.    

Es geht hier um die „ICH-DU-Beziehung“ zwischen Gott und seinem Volk Israel.   
                                                                                                                                   
Als Christinnen und Christen dürfen wir die Befreiungserfahrungen des Volkes Israel nicht einfach vereinnahmen. Und deshalb können wir auch diese Lebensregeln für Israel nicht bedenkenlos und unvermittelt auf uns beziehen.

Wir brauchen Jesus Christus, um selbst von den 10 Geboten wie Israel angesprochen zu werden.

Er ist der Mittler, der uns eine „ICH-DU-Beziehung“ mit Gott eröffnet hat. 
Er ist der Mittler, der uns in Gottes befreiende Liebe und in Gottes Weisungen für Israel mit hineinnimm
Der Gott Israels spricht durch Jesus Christus auch zu uns:

„Ich bin der HERR, dein Gott“

Durch Jesus Christus schenkt Gott auch uns seine lebensdienlichen „Du sollst“.

Und auch wenn unser Alltag und unsere Verhältnisse sich von dem Alltag und den Verhältnissen im alten Israel unterscheiden:

Diese alten, aber keineswegs veralteten Gebote Gottes schenken auch für unsere Gegenwart, für unsere Lebensgestaltung und für unsere Beziehungen  Orientierung und Wegweisung. Sie können auch uns deutlich machen, wie unser Leben bei und trotz allem ‚Kriegslärm in unseren Zeitläuften‘  zu einem gesegneten Leben wird

In dieser Predigt will ich auf eine Einzelauslegung der Gebote verzichten. Es geht mir an dieser Stelle vielmehr um die entscheidende Grunderfahrung, die dieser Text bezeugt und die der Kern alles theologischen Denkens und unseres Glaubens ist:

Gott stiftet eine persönliche „Ich-Du-Beziehung“ zu uns Menschen,  damit wir Menschen untereinander in friedlichen und gerechten Beziehungen leben.

Gottes Gebote beginnen mit der persönlichsten Ansprache, die es gibt.  Sie beginnen mit einer „ICH-Du-Ansprache“ Gottes an die Menschen:

„Ich bin der HERR, dein Gott,
der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“

Vor dem ersten göttlichen „Du sollst“ steht das Wort von Gottes befreiender Liebe.

Als Menschen, die von Gott befreit und die von Gott geliebt sind, können und sollen wir Gottes Gebote hören und tun.

Gott will „unser“ Gott sein, er spricht uns an. Er spricht uns die Freiheit zu, nach seinen Geboten zu handeln. Damit wir und damit unsere Welt nicht verlorengehen.

Wir sind frei, uns ihm als dem einen und einzigen Gott anzuvertrauen. 
Wir sollen keine anderen Götter neben ihm haben, damit wir nicht immer wieder neu in innere und äußere Abhängigkeiten geraten

- etwa weil wir dem Gott des Geldes huldigen
- oder den Göttern der Eitelkeit und des persönlichen Ehrgeizes
- oder dem Gott der militärischen Macht und Stärke
- oder weil wir die eigene Rasse oder Nation vergotten.

Damit wir gesegnet und als ein Segen für andere leben,  sollen wir Gottes Namen heiligen und nicht missbrauchen.

Es gibt keinen größeren Missbrauch des Namens Gottes 
als im Namen Gottes die eigenen Kriege zu heiligen, 
als im Namen Gottes todbringende Waffen zu segnen,
als im Namen Gottes Menschene Gewalt anzutun!

Gottes Name kann und darf niemals geheiligt werden auf Kosten und zu Lasten anderer Menschen, Völker und Nationen.

Der erste Gedanke der 10 Gebote ist das „ICH“ Gottes, der letzte Gedanke das, „was dein Nächster hat“. Das „ICH“ Gottes ist der Ausgangspunkt der 10 Gebote, der „Nächste“ aber ist der Zielpunkt. 
Wir Menschen brauchen eine ehrfürchtige Beziehung zu Gott und vertrauensvolle Beziehungen zu unseren Nächsten. Nur Kraft dieser Beziehungen gehen wir Menschen und geht unsere Welt nicht verloren.                                                                                                                                    

Gott hat seine „du sollst“ und seine „du sollst nicht“ an sein eigenes befreiendes Handeln für die Menschen gebunden. Und er hat seine Gebote an einen gerechten Frieden unter den Menschen und Völkern ausgerichtet. Gottes Gebote sind deshalb Auftrag und Verheißung zugleich.

 Auch heute können und wollen wir Gott deshalb danken für seine vielen „du sollst“. So wie die Theologin Dorothee Sölle es in einem ihrer Gedichte tat:

„Wir kennen deinen willen gott 
leben in seiner fülle hast du allen versprochen…

Wir danken dir für deine vielen du sollst
 mit ihnen fragst du uns nach unseren geschwistern…

Eines tages gott werden wir alle deine du sollst
verwandeln in ein großes ja ich will     
ja wir werden die fremden nicht mehr hassen und      
die mauern der trennung einreißen      
und die gewalt wird nicht mehr wohnen bei uns
wir  werden sie nicht füttern und hätscheln 
nicht bezahlen und nicht für allmächtig halten 
dein wille wird geschehen     
auch in unserem land“

(aus D.Sölle, loben ohne lügen, gedichte)                                                                                                                                              
 
Mögen Gottes viele „du sollst“ unsere Herzen und unseren Verstand  
von Missgunst, Hass und Gewalt befreien.

Damit Menschen einander nicht mehr verfolgen und vertreiben.

Gottes Gebote sind ein festes Fundament für unser Leben und vernünftige
Orientierungen für unser Denken, Entscheiden und Tun.

Damit unser Fühlen, Denken, Entscheiden und Handeln 
frei dazu werden, immer wieder neue Schritte der Versöhnung und des Friedens zu wagen.

Dazu leite uns Gottes Geist.
Amen