Geschichtlicher Hintergrund: Der Genozid an den Armeniern

Frankfurt a.M. (epd). Das Morden beginnt mit einer Razzia. Am 24. April 1915 lässt die Regierung des Osmanischen Reichs im heutigen Istanbul rund 600 armenische Politiker und Intellektuelle verhaften. Im Juni tritt ein Deportationsgesetz in Kraft. Die christlichen Armenier werden zunächst ins östliche Anatolien gebracht, wo ihr Hauptsiedlungsgebiet ist und sie seit Jahrhunderten gelebt haben. Von dort geht es in Todesmärschen nach Süden, in die Wüste Mesopotamiens, ins heutige Syrien.

Pogrome an Armeniern gab es im Osmanischen Reich, dem Vorgängerstaat der Türkei, immer wieder. Etwas Hoffnung schöpften die Verfolgten, nachdem die Jungtürken im Reich 1908 die Macht ergriffen hatten. Diese Gruppe wollte das Land nach dem Vorbild der europäischen Nationalstaaten reformieren und die Minderheiten einbinden.

Aber die Lage des Reichs bessert sich nicht – und die Jungtürken radikalisieren sich, vor allem nach den Niederlagen gegen Italien und die Balkanstaaten 1912 und 1913. Besonders ihr Blick auf die Armenier wird unfreundlicher. Tatsächlich streben einige armenische Gruppen nach Autonomie und arbeiten mit Russland zusammen, wo ebenfalls viele Armenier wohnen und das seit 1914 Gegner im Ersten Weltkrieg ist. Als die militärische Lage kritisch wird – die alliierte Landung bei Gallipoli steht bevor, Istanbul ist bedroht – schlagen die Osmanen los.

Offiziell ist es eine "Umsiedlungsaktion", doch die jungtürkische Regierung trifft keinerlei Vorbereitungen, um die ein bis zwei Millionen Armenier im heutigen Syrien aufzunehmen. Sie steckt sie in Lager, gibt ihnen weder Obdach noch Nahrung noch Land. Bis 1917 dauern die Vertreibungen an. Schätzungen zufolge sterben 600.000 bis 1,5 Millionen Menschen.

Auch armenische Soldaten der osmanischen Armee werden entwaffnet, in Arbeitsbataillone gesteckt und massakriert. Viele Mitglieder der lokalen Bevölkerung beteiligen sich an den Verfolgungen, rauben die Vertriebenen aus, töten sie und plündern armenische Schulen, Kirchen oder Klöster. Es gibt aber auch Beispiele von Türken, Arabern und Kurden, die Armenier verstecken oder ihnen zu essen geben.

Für Kirchenvertreter und viele Historiker war es der erste Völkermord im 20. Jahrhundert. Rund 20 Staaten, darunter Frankreich, sprechen offiziell von Genozid. In Deutschland haben die Koalitionsparteien kurz vor den Feiern zum 100. Jahrestag  entschieden, in der Bundestagsdebatte am 24. April das Wort "Völkermord" zu verwenden. In dem Text von Union und SPD über die Vernichtung der Armenier heißt es jetzt: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen und der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist." Die Türkei bestreitet bis in die Gegenwart, dass das Vorgehen gegen die Armenier ein geplanter Völkermord gewesen sei.

Yusuf Sarinay etwa, der Leiter der türkischen Staatsarchive, führt Dokumente auf, wonach der osmanische Innenminister Talat Pascha Verbrechen gegen deportierte Armenier streng geahndet habe und dafür sogar mehr als 1.600 Todesurteile gegen Türken unterzeichnet habe. Die Türkei verweist auch auf armenischen Terror, der die Vertreibung der christlichen Minderheit erst ausgelöst habe.

Tatsächlich griffen manche der Verfolgten zu den Waffen, etwa in der Stadt Van im Osten der Türkei. "Die Verteidigung der Armenier in Van kam einem Aufstand vielleicht noch nahe, alle anderen bewaffneten Auseinandersetzungen waren reine Abwehrkämpfe", sagt Wolfgang Gust. Der ehemalige "Spiegel"-Journalist hat gemeinsam mit seiner Frau Sigrid über den Völkermord geforscht und viele Originaldokumente zusammengetragen. Es seien die Türken gewesen, die sich zuerst an der Minderheit vergriffen hätten, nicht umgekehrt.

In Deutschland gedenken die Kirchen am 23. April mit einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom der Opfer. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat bereits vor zehn Jahren zum 90. Jahrestag, eine "Erklärung zum Völkermord an den Armeniern" abgegeben: "Erinnern um der Versöhnung willen". Ein deutscher Beitrag zur Aufarbeitung des Geschehenen sei unabdingbar, heißt es darin.

Denn das Deutsche Reich war dem osmanischen Verbündeten im Ersten Weltkrieg beim Genozid behilflich, das verdeutlichen mehrere der Dokumente, die Gust gesammelt hat. Deutsche Verbindungsoffiziere sorgten etwa für die Logistik beim Abtransport der Armenier mit der Eisenbahn.

Bis heute sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien belastet, die Grenze zwischen beiden Staaten ist geschlossen. Der armenische Journalist Hrant Dink, der auf eine Aufarbeitung drängte, wurde 2007 in Istanbul erschossen.

Am 23. April 2014 versuchte der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, eine Annäherung. Er sprach Armenien sein Beileid für die Toten des Kriegs aus. "Die Vorfälle des Ersten Weltkriegs sind unser gemeinsamer Schmerz", sagte Erdogan. Die armenische Regierung nahm diese Geste nicht als Entschuldigung an. Denn Erdogan hatte im selben Atemzug auch die Leiden der anderen Völker des Osmanischen Reichs genannt und das Wort "Völkermord" nicht in den Mund genommen.

Unklar ist, welche Absicht hinter den Äußerungen Erdogans stand. "Die türkische Gesellschaft ist ihrer eigenen Regierung voraus", urteilt der US-Historiker Ronald Grigor Suny von der Universität von Michigan. "Ich glaube, Erdogan manövriert, um der armenischen Frage im Vorfeld des Jahrestags des Genozids die Brisanz zu nehmen." Andere Wissenschaftler glauben, Erdogan wolle die türkische Öffentlichkeit auf die formelle Anerkennung des Völkermords vorbereiten. Dies gilt auch als eine der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt. "Hier geht es uns heute wie einst den Kreml-Astrologen", sagt Gust. "Alles ist möglich."

Nils Sandrisser (epd)

22. April 2015