Adventskalender: Zauber der Erwartung

Vor hundert Jahren eroberte der Adventskalender den Buchmarkt

München (epd). Pausbäckige Engel holen die Wunschzettel für das Christkind ab, backen Plätzchen, stellen eine Spielzeugeisenbahn auf, reparieren Puppen und Schaukelpferde, schmücken den Lichterbaum - so sah er aus, der Adventskalender, mit dem sich der Münchner Druckereibesitzer Gerhard Lang vor 100 Jahren auf den Buchmarkt wagte. Er gilt als erster gedruckter Adventskalender. Türchen hatte er noch keine. Die Kinder, die ihn im Jahr 1908 geschenkt bekamen, konnten jeden Tag bunte Motive aus einem Blatt mit bunten Bildern ausschneiden und mit der gummierten Rückseite auf einen starken Karton kleben.

Lang, ein aus Württemberg zugewanderter Pastorensohn, ließ sich als "Erfinder" des Adventskalenders feiern. Mit dem Riecher des guten Geschäftsmanns übernahm er das Erfolgsrezept der damals sehr beliebten Ausschneidebögen und Klebebilder - und traf damit die Bedürfnisse bürgerlicher Familien, die das gespannte Warten auf das Christkind pädagogisch nutzen wollten: Man muss Geduld haben, wenn man etwas Schönes erleben will. Und: Brave Kinder werden belohnt. So lautete die Botschaft.

Ganz neu war die Idee freilich nicht. Zuvor hatte bereits Kinderbuchillustrator Richard Ernst Kepler eine Märchenwelt in 24 Miniaturbildern gezeichnet. Der Adventskalender "Im Lande des Christkinds", auch ein Münchner Produkt, wurde 1904 zu Werbezwecken verschenkt. Und 1902 brachte ein evangelischer Verlag in Hamburg eine "Warteuhr für Kinder" heraus, die allerdings erst am 13. Dezember an die Wand gehängt wurde.

Selbst gebastelte Vorläufer der späteren Kalender hat es schon im 19. Jahrhundert gegeben, und zwar hauptsächlich in protestantischen Familien. Dort waren sie mit einer Art Hausliturgie verbunden - Gebet, Gesang, Bibellesung. In Thomas Manns Familienroman "Buddenbrooks" und anderen Werken aus der Zeit um die Jahrhundertwende finden sich zahlreiche Berichte von solchem Adventsbrauchtum in protestantischen Bürgerhäusern.

Immer bildete die gut hundertjährige Kalendertradition auch kulturgeschichtliche Veränderungsprozesse und gesellschaftliche Trends ab. In der NS-Zeit, 1942, veröffentlichte der parteieigene Münchner Franz-Eher-Verlag, in dem Hitlers "Mein Kampf" und der "Völkische Beobachter" erschienen, einen Adventskalender in Buchform unter dem Titel "Vorweihnachten". Das Christkind verwandelte sich in ein "Lichtkind", die Krippe unter dem "Julbaum" in ein "Weihnachtsgärtlein" mit hübsch ausgesägten Holztieren. Zum Entzünden der Kerzen am "Sonnwendkranz", wie der Adventskranz jetzt hieß, wurden markige Sprüche empfohlen: "Mein hellstes Licht sei dem Führer geschenkt, / Der immer an uns und Deutschland denkt."

Die braune Alternative zum Adventskalender war ein Flop - und nach der Befreiung von der Naziherrschaft kam es zunächst sogar zu einer Renaissance religiöser Inhalte. Heute dominieren meist Schokoladenkalender mit Allerweltsmotiven, die auf jeden religiösen Bezug verzichten und breite Käuferschichten ansprechen sollen: Der Weihnachtsmann, der im Lehnstuhl die Wunschzettel der Kinder liest, die Weihnachtsfeier der Tiere im Wald, die Szenen aus dem Alltag einer Bärenfamilie - all das verkauft sich in Amerika so gut wie in Japan. Hinzu kommen seit Jahren Adventskalender für Haustiere, Kalender von Spielzeugfirmen für Kinder oder auch bildergeschmückte Rathausfassaden in den Innenstädten als hausgroße Kalender.

Gleichzeitig leben die kreativen Formen der selbst gebastelten Kalender weiter - in Jugendgruppen, Schulklassen, fantasiebegabten Familien. Neben den immer gleichen Schneelandschaften und Weihnachtsmärkten finden auch die mit religiösen Bildmotiven gestalteten Alternativprodukte ihre Käufer, Adventsbüchlein etwa mit Bibelversen, Liedern und Bastelideen für jeden Tag. Und im Internet können Kinder sich im virtuellen Adventskalender unter www.kirche-entdecken.de täglich aus der Weihnachtsgeschichte vorlesen lassen und sich an einem Adventsrätsel beteiligen.

28. November 2008