Bundespräsident: Kirchen dürfen sich nicht überschätzen

Johannes Rau warnt vor einer Inflation kirchlicher Äußerungen zu Gesellschaftsfragen

B e r l i n (idea) – Bundespräsident Johannes Rau hat den Kirchen geraten, ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht zu überschätzen. In Wirklichkeit befänden sie sich in weiten Teilen des Landes, auch im Westen, in einer Minderheitenrolle, sagte er am 23. Oktober bei einem Besuch der Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Er warnte vor einer Inflation kirchlicher Äußerungen und vor zu starkem Lobbyismus. Die Kirchen gefährdeten ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie den Eindruck erweckten, als seien ihnen die Sitze in den Rundfunkräten wichtiger als die Inhalte der christlichen Botschaft.

Verzicht auf religiöse Beteuerung bei Vereidigung biblisch begründbar

Rau ging auch darauf ein, dass bei der Vereidigung der rot-grünen Bundesregierung Kanzler Gerhard Schröder und fünf seiner 13 Ministerinnen und Minister auf die religiöse Beteuerung “So wahr mit Gott helfe” verzichtet hatten. Dies hatte CSU-Generalsekretär Thomas Goppel kritisiert: Wenn fast die halbe Bundesregierung auf Gottes Hilfe anscheinend keinen Wert lege, zeige dies, wie weit sich Rot-Grün von christlichen Werten entfernt habe. Rau sieht das anders: Das Weglassen der religiösen Beteuerung bedeute nicht, dass das betreffende Kabinettsmitglied kein Christ wäre. Rau verwies auf den Präses der EKD-Synode, Jürgen Schmude. Der ehemalige Minister im Kabinett von Kanzler Helmut Schmidt (SPD) hatte bei seinen Vereidigungen auf den religiösen Zusatz verzichtet, weil Jesus in der Bergpredigt vom Schwören abrät.

Weniger kopflastige Predigten

Der Bundespräsident war auf Einladung des Dekans der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität, Prof. Hans-Gebhard Bethge, in die Seminarräume im Berliner Dom gekommen, um sich über die Situation der Theologiestudenten zu informieren. Viele beklagten den mangelnden Praxisbezug. Rau riet den zukünftigen Pfarrern zu mehr Bodenständigkeit. “Zu große Kopflastigkeit der Predigt führt zu natürlicher Reduktion der Gemeinde”, so der Bundespräsident. Aus eigener Erfahrung als Gottesdienstbesucher wisse er, dass es niemanden interessiere, “wie ein bestimmtes Wort der Bibel im hebräischen Urtext wirklich heißt”.