Chat-Seelsorge: Im Schutz der Anonymität

In der Chat-Seelsorge kommen Hilfesuchende schnell zur Sache

Von Dieter Sell (epd)

 Bremen/Dortmund (epd). Die Internetverbindung mit «Nebelseele» steht zehn Minuten. Plötzlich ist Schluss mit den eher unverbindlichen kurzen Sätzen. «Ich habe mich geritzt», leuchtet auf dem Computer-Bildschirm auf. Im virtuellen Chatraum der Telefonseelsorge kommt das unsichtbare Gegenüber schnell zur Sache: Er möchte darüber reden, dass er sich öfter selbst verletzt.

Seit einigen Jahren bietet die Telefonseelsorge mit dem Chat eine besondere Form der Hilfe für Menschen in persönlichen Krisen an. Speziell ausgebildete Mitarbeitende der Telefonseelsorge im norddeutschen Bad Bederkesa und in Dortmund bieten Chats an. «Im Netz braucht sich niemand durch seine Sprache oder durch sein Sprachverhalten erkennen zu geben», sagt Beate Woltmann, Koordinatorin in Bad Bederkesa. «Die Kontaktschwelle ist damit noch niedriger als am Telefon», erläutert die 34-Jährige, warum ihr Gegenüber so schnell auf den Punkt gekommen ist.

Wer sich im Chat seine Probleme von der Seele schreiben will, holt sich zunächst über das Portal www.das-beratungsnetz.de oder über die Internet-Adresse www.telefonseelsorge.de einen Termin. Mit einer individuell vergebenen Buchungsnummer und einem Spitznamen wie «Nebelseele» lässt sich die Verbindung zur verabredeten Zeit für 45 Minuten aufnehmen, ohne dass jemand anderes das Chat-Gespräch verfolgen kann. «Oft geben sich die Leute dunkle, düstere Namen», hat Woltmann erfahren.

Internet-Nutzer verstehen unter Chatten das Plaudern im weltweiten Netz. Doch hier geht die Sache tiefer. Der Chatter tippt seinen Text ein. Beim Seelsorger erscheinen die Zeilen fast zeitgleich auf dem Monitor. «Die Spitznamen oder auch Nicks vermitteln den ersten Eindruck und haben oft Symbolcharakter», sagt der hannoversche Pastor Diemo Rollert, der zum Seelsorge-Team der Web-Kirche im Ende 2001 gegründeten Internet-Staat «Funama» gehört.

Auch im virtuellen Beichtstuhl von «Funama» (www.kirche.funama.de) macht Rollert die Erfahrung, dass seine Gesprächspartner fix auf den Punkt kommen. Dazu mag beitragen, dass die Technik den Partnern im Chat im Notfall einen schnellen Abschied per Tastendruck ermöglicht. «Ohne schlechtes Gewissen», sagt Rollert. «Nicht zuletzt kann man sich mit einer technischen Fehlfunktion entschuldigen.» Die Rat Suchenden behalten jederzeit die Kontrolle über den Chat. Sie sind es, die Nähe und Distanz bestimmen.

«Die Gesprächspartner sehen und hören sich nicht. Durch diese Anonymität lassen sich Gefühle leichter aussprechen», sagt Rollert. «Man braucht sich nicht dafür zu rechtfertigen oder Angst zu haben, eine Schwäche offenbart zu haben, die in einer späteren Begegnung wieder auftaucht.» In Bad Bederkesa beschäftigen sich auf dieser Grundlage neben Woltmann weitere sechs Mitarbeitende mit der Chat-Seelsorge, in Dortmund sind es acht. Weitere Städte wie Bochum und Wolfsburg interessieren sich für die beiden Modellprojekte.

«Obwohl wir nur voneinander lesen, kann ich die Not und Bedrängung spüren, die im Chat mitschwingt», berichtet Woltmann. Ähnlich geht es ihrer Kollegin Anne Röhl in Dortmund: «Die Gefühle werden über Pausen oder veränderte Worte transportiert.» Meistens sind es jüngere Frauen, die sich zu Terminen einloggen, die fast immer verlässlich eingehalten werden. Am häufigsten geht es im Chat um psychische Krankheiten. An zweiter Stelle folgen Fragen nach Sinn und Lebensorientierung. Aber auch Partnerprobleme, Sexualität, Einsamkeit, Familie und Suizid werden angesprochen.

«Die Nachfrage ist so groß, wir könnten das Zehnfache an Terminen besetzen, wenn wir genügend Mitarbeitende hätten», berichtet Ulla Huntemann-Clasen, die die Telefonseelsorge in Bad Bederkesa leitet. Sie macht klar, dass im Chat die Bedürfnisse von Menschen wie «Nebelseele» im Mittelpunkt stehen: «Wir haben keine fertigen Lösungen, wir bewerten nichts und bringen keine eigenen Themen ins Gespräch, sondern bleiben immer an dem, was der andere sagt.»  Therapien oder Problemlösungen sind nicht das Ziel der Chat-Seelsorgerinnen. «Wir können die Welt nicht retten. Therapie, das ist viel zu groß», sagt Woltmann. «Für viele Rat Suchende geht es darum, die nächste Stunde zu überstehen. Wir begleiten und ermutigen sie dabei.» Am Ende steht wie bei «Nebelseele» dann manchmal der feste Vorsatz: Ich will etwas für mich tun!