Bischof Huber: Freiheitsrechte nicht Anti-Terror-Kampf opfern

Berlin (epd). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat davor gewarnt, die bestehenden Freiheitsrechte dem Anti-Terror-Kampf zu opfern. Europa brauche sowohl vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen als auch das Bewusstsein, «dass wir in einem freiheitlichen Gemeinwesen leben und auf keinen Fall zu einem totalen Sicherheitsstaat werden wollen», sagte der Bischof in einem Interview der «Berliner Zeitung».

Nach Hubers Ansicht sind die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September zu weit gegangen. Das betreffe zum Beispiel die Vorstellung, ein Land sei um so sicherer, je mehr Menschen in Gefängnissen sitzen. Auch die Todesstrafe mit dem damit verbundenen Vergeltungsdenken vergifte die gesellschaftliche Atmosphäre. «Damit werden sich europäische Staaten hoffentlich nie anfreunden», so der Bischof.

Nachdrücklich sprach sich Huber allerdings dafür aus, Ausländer abzuschieben, die unter Terrorverdacht stehen. Ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung zu geben, erwecke den Anschein, «wir würden uns gegen Terrorismus nicht zur Wehr setzen». Dabei erforderlich bleibe, dass die Bereitschaft zur Abwehr nicht missbraucht werde, «um sich politisch missliebige Menschen vom Hals zu schaffen».

Im Streit um die angestrebte Aufnahme der Türkei in die Europäische Union (EU) warnte Huber vor zu raschen Beitrittsverhandlungen. Die EU müsse zunächst einmal die bevorstehende Osterweiterung verkraften. Die Türkei habe zudem die Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit und die Sicherung der Grundrechte noch lange nicht so gewährleistet, «dass dies ihre selbstbewusst vorgetragenen Ansprüche auf eine Mitgliedschaft rechtfertigen könnte».

Erforderlich sei zudem, dass die Türkei «mehr Respekt» vor der christlichen Prägung Europas zeige. Wer EU-Mitglied werden wolle, sollte nicht abfällig behaupten, Europa sei kein «christlicher Club», unterstrich der EKD-Ratsvorsitzende.

25. März 2004


Das Interview im Wortlaut:

"Die Türkei sollte mehr Respekt zeigen"

EKD-Ratsvorsitzender Bischof Huber über das wachsende Europa und den Kampf gegen den Terror

Herr Bischof, der Europawahlkampf hat begonnen und dreht sich um ein Thema: einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Was halten Sie davon?

Ich finde es nahezu unverständlich, dass wir die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei in einem Augenblick entfachen, in dem der Beitritt von zehn Staaten vor allem aus Osteuropa vor uns steht, der bei vielen Menschen Ängste auslöst.

Nach dem EU-Zeitplan könnten 2005 Beitrittsgespräche beginnen.

Ich halte das für viel zu früh. Wir müssen zunächst die Auswirkungen der Osterweiterung auf Arbeitsplätze und Lohnniveau abwarten. Wir sollten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erst beginnen, wenn diese Erweiterungsrunde verkraftet ist. Zurzeit sehe ich eine wachsende Furcht der Menschen auf der deutschen Seite und eine dramatisch gestiegene Ablehnung der EU auf der polnischen Seite. Wem Europa am Herzen liegt, der muss zunächst um Verständnis für die Osterweiterung werben.

Welche Folgen hätte ein vorschneller EU-Beitritt der Türkei?

Dieses Europa würde den Menschen immer ferner rücken, anstatt für sie begreifbarer zu werden. Das kann nicht gut gehen. Ein Europa, bei dem die Erweiterung so eindeutig den Vorrang vor der Vertiefung bekommt, bei dem die Frage nach dem Verhältnis von kulturellen Orientierungen zu politischen Mechanismen nicht mehr gestellt wird, kann die Menschen nicht erreichen.

Sehen Sie für die Türkei überhaupt einen Platz in Europa?

Ich spreche mich nicht grundsätzlich gegen eine Perspektive aus, die die Türkei einbezieht. Wir müssen fair mit der Türkei umgehen. Aber auch die Türkei muss zweierlei einsehen: Wenn sie willkommen sein will, müssen erstens die Menschen in Europa auch mitgehen können. Zweitens hat die Türkei selbst die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit und die Sicherung von Grundrechten noch längst nicht so gewährleistet, dass dies ihre selbstbewusst vorgetragenen Ansprüche auf eine Mitgliedschaft rechtfertigen könnte. Außerdem sollte die Türkei mehr Respekt zeigen vor der christlichen Prägung Europas, die auch für die Gegenwart eine tragende Bedeutung hat. Ich möchte hier in aller Schärfe sagen: Wer EU-Mitglied werden will, sollte nicht abfällig behaupten, Europa sei kein "christlicher Club".

Die Beitrittsbefürworter werben mit dem Gewinn für Europas Sicherheit.

Mir liegt es fern, Sicherheitsbedürfnisse klein zu reden. Ich mache mir allerdings Sorgen, dass diese Bedürfnisse instrumentalisiert werden, um eine schnellere Gangart zu erzwingen. Man könnte doch den Zwischenschritt einer Sicherheitspartnerschaft gehen, die nicht die volle EU-Mitgliedschaft notwendig macht.

Die Anschläge von Madrid haben die Debatte um Sicherheit und Freiheit angeheizt. Wo ziehen Sie die Grenze?

Ich glaube, dass wir in Europa beides brauchen: Vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen und das Bewusstsein, dass wir in einem freiheitlichen Gemeinwesen leben und auf keinen Fall zu einem totalen Sicherheitsstaat werden wollen.

Die USA haben nach dem 11. September Bürgerrechte beschnitten.

Die USA gehen zu weit. Damit meine ich etwa die Vorstellung: Je mehr Menschen in Gefängnissen sitzen, desto sicherer ist ein Land. Damit werden sich europäische Staaten hoffentlich nie anfreunden. Das Gleiche gilt für die Todesstrafe. Ein solches Vergeltungsdenken vergiftet die gesellschaftliche Atmosphäre. Der christliche Blick auf den Menschen spricht hier eine andere Sprache, er lebt von der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten. Auch bei Verfahren gegen Terroristen müssen wir an unserer Rechtsstaatlichkeit und der Unschuldsvermutung festhalten.

Was ist zu tun, wenn hier lebende Menschen sich in Terrorcamps haben ausbilden lassen?

Es kann nicht sein, dass jemand, bei dem man absolut plausibel machen kann, dass er im Lande ist, um Straftaten zu verüben, dafür auch noch eine Aufenthaltsgenehmigung bekommt. Es ist richtig, so jemanden abzuschieben. Jede andere Handlungsweise würde den Anschein erwecken, wir würden uns gegen Terrorismus nicht zur Wehr setzen. Schon jetzt sieht das Ausländergesetz eine solche Möglichkeit ausdrücklich vor. Wir müssen jedoch dafür sorgen, dass die Bereitschaft zur Abwehr nicht missbraucht wird, um sich politisch missliebige Menschen vom Halse zu schaffen.

Innenminister Schily hat Antiterrormaßnahmen ergriffen. Sehen Sie dadurch die Freiheitsrechte gefährdet?

Bisher habe ich in der Bundesrepublik nicht den Eindruck, dass Maßlosigkeit an dieser Stelle geherrscht hätte.

Internationaler Terror ist zumeist Terror islamischer Fundamentalisten. Wie könnten die muslimischen Organisationen hier helfen?

Das Ziel muss sein, dass die großen monotheistischen Religionen gemeinsam klar stellen, dass man Terror nicht im Namen von Religion und unter Berufung auf Gott rechtfertigen darf.

Sie erwarten also mehr Hilfe von Deutschlands Muslimen?

Wenn der Islam tatsächlich als Religion in Deutschland und Europa beheimatet sein will, muss er erkennbar machen, dass die Bejahung von Grundrechten und demokratischen Verfassungsprinzipien kein taktisches Anpassungsmanöver ist. Auch muss das Bekenntnis zum gesellschaftlichen Dialog dadurch untermauert werden, dass es dafür Geprächspartner mit einer institutionellen Rückbindung und Autorität gibt. In beiden Hinsichten gibt es eine Bringschuld des Islam selber, die kein anderer ihm abnehmen kann.

Das Gespräch führten Rouven Schellenberger und Bettina Vestring.

Quelle: Berliner Zeitung vom 25. März 2004