Autobahnkirchen: Anhalten und Ruhe finden

Rund eine Million Menschen suchen jährlich Deutschlands Autobahnkirchen auf

Von Britta Jagusch

Frankfurt a.M. (epd). «Manchmal bekomme ich beim Lesen eine Gänsehaut», sagt Patricia Rehn und blättert in dem großen braunen Buch, das aufgeschlagen auf einem Regal liegt. «Hier steht etwas über das wirkliche Leben, über Leid und Freude.» Die Küsterin der Medenbacher Autobahnkirche weiß, wovon sie redet. In dem Anliegenbuch gibt es täglich neue Geschichten: heitere, tragische, besinnliche, freudige und dankbare Eintragungen wechseln sich ab.

Die Kirche auf dem Rastplatz Wiesbaden-Medenbach an der A3 ist eine von 25 Autobahnkirchen und -kapellen in Deutschland. Zehn werden evangelisch, neun ökumenisch und sechs katholisch geführt. Rund eine Million Besucher nutzen Schätzungen zufolge jährlich das Angebot der Seelenrastplätze. Es sind meist Menschen im mittleren Alter, rund ein Drittel gehören zu den so genannten Kirchendistanzierten.

Für Pfarrer Klaus Wallrabenstein, der die Medenbacher Autobahnkirche seit ihrer Eröffnung 2001 betreut, liegt darin der besondere Aspekt. «Wir bringen die Kirche zu den Menschen und sprechen damit neue Personenkreise an.» Die meisten Besucher wünschen sich einen geschützten und schlichten Raum, in dem sie selbst bestimmen, wie lange sie bleiben, erläutert er. Die Nachfrage nach einem Ansprechpartner oder Programm sei eher gering. «Es ist das offene Angebot ohne Verpflichtung, das reizt.»

Dennoch, fast jeder, der eine Autobahnkirche besucht, schreibt in das Anliegenbuch. Da erzählt ein Fernfahrer von seiner Einsamkeit auf der Straße und seinen Problemen mit der Familie, die er selten sieht. Da berichtet eine Altenpflegerin von ihrem schweren Arbeitsalltag und dass nun noch ihr Freund schwer erkrankt ist.

«Viele Menschen haben wohl niemanden, mit dem sie reden können», vermutet Wallrabenstein. Die Anonymität der Autobahnkirche biete oftmals die erste Möglichkeit, seinen Seelenkummer loszuwerden.

Die Erfahrung der Autobahnpfarrer zeigt, dass viele Menschen die Kirchen auf ihren Reisen regelmäßig aufsuchen. «Als meine Cousine im Wiesbadener Hospiz lag, habe ich vor jedem Besuch hier Kraft getankt», berichtet eine Frau aus Koblenz. In der schweren Zeit der Sterbebegleitung und auch jetzt noch nach dem Tod ihrer Cousine sei die Stille der Autobahnkirche immer ein Trost.

Auch wenn sich die einzelnen Kirchen und Kapellen in ihrer Architektur und ihren Angeboten unterscheiden, so haben sie doch eines gemeinsam. Zur Hektik des Straßenverkehrs bieten sie einen guten Kontrast. «Neben Ruhe und Besinnung erhöhen die Autobahnkirchen auch die Sicherheit im Straßenverkehr», ist Birgit Krause von der «Akademie Bruderhilfe und Familienfürsorge» aus Kassel überzeugt. «Denn wer sich erholt und entspannt hinter das Lenkrad setzt, der fährt rücksichtsvoller und sicherer.»

Im vergangenen Jahr brachte die Bruderhilfe-Versicherung einen Führer «Rastplätze für die Seele» heraus. Wegen der großen Nachfrage ist die Broschüre bereits in zweiter Auflage erschienen. 28 Kirchen und Kapellen sind dort verzeichnet, davon zwei, die noch in diesem Jahr eröffnet werden: die ökumenische Autobahnkapelle im ostbayerischen Waidhaus und die ökumenische Emmauskapelle zwischen Stuttgart und Singen. Die evangelische Autobahn- und Gemeindekirche in Brumby (Sachsen-Anhalt) ist noch in Planung.

Mehr Gotteshäuser an Fernstraßen wünscht sich auch Pfarrer Georg Ander-Molnar aus dem Vogelsbergkreis in Hessen. Er träumt von einer Autobahnkirche im Gebiet der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck an der A4 in Berfa. «Dort entsteht eine neue Rastanlage mit Gastronomie. Es ist der ideale Platz für ein Gotteshaus.» In Thüringen schreitet die Planung einer neuen evangelischen Autobahnkapelle für rund 100.000 Euro voran. «Es hängt nur noch von dem Bau des Parkplatzes ab», berichtet Kirchenoberbaurat Bernd Rüttinger vom Landeskirchenamt in Eisenach.

«Es ist schön, dass immer mehr Kirchen entstehen», freut sich auch Pfarrer Wallrabenstein. Aber ob eine Kirche gebaut werde oder nicht, hänge meist von dem Engagement Einzelner ab. Dies sei schade, denn die große Bedeutung dieser besonderen Gotteshäuser werde von den Landeskirchen noch nicht genügend berücksichtigt. «Wir müssen mehr Gewicht bekommen in der gesamten Evangelischen Kirche in Deutschland.»

Eine besondere Gelegenheit, die «Rastplätze der Seele» bekannter zu machen, steht am 15. August an. Dann wird der ZDF-Fernsehgottesdienst aus der katholischen Autobahnkirche St. Christopherus Himmelkron in Bad Berneck übertragen. Der Gottesdienst bildet auch den Auftakt zu einem bundesweiten Aktionstag. Fast in allen Autobahnkirchen gibt es an diesem Tag um 15 Uhr eine Andacht und einen Reisesegen.

29. Juli 2004