Huber: Lager für Flüchtlinge an Bedingungen knüpfen

München (epd). Die Einrichtung von Auffanglagern für Flüchtlinge in Nordafrika sollte nach Auffassung des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, an bestimmte Voraussetzungen gebunden sein. So müssten die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt angewandt werden, sagte der Berliner Bischof in einem Interview der «Süddeutschen Zeitung» (Dienstags-Ausgabe). Die Menschen müssten die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen.

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) sage zu Recht, dass es für Flüchtlinge andere Wege geben müsse, als in Wracks aufs Meer hinauszufahren, fügte Huber hinzu. Das menschliche Leben müsse geschützt werden. Manchmal entstehe allerdings der Eindruck, es sei ein anderer Gedanke leitend. Die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren, dürfe kein Selbstzweck sein. Zweck der Asylgesetze müsse vielmehr sein, den bestehenden humanitären Verpflichtungen nachzukommen.

Huber warnte vor einer Aushöhlung des Asylrechts. Er unterstelle jedem Verantwortlichen, dass er die menschenrechtlichen Verpflichtungen ernst nimmt, die sein Land und die EU eingegangen seien. «Wir Kirchen jedenfalls werden mit großem Nachdruck dafür eintreten, dass unsere Länder ihre humanitären Verpflichtungen erfüllen.»

19. Oktober 2004


Das Interview im Wortlaut:

"Die Zahl der Asylsuchenden zu senken, ist kein Selbstzweck"

Der Berliner Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, hält die Idee für bedenklich, in Nordafrika Auffanglager für Flüchtlinge zu schaffen

SZ: Herr Huber, die Innenminister der fünf großen EU-Staaten haben -- vorerst ohne Ergebnis -- über den Vorschlag von Bundesinnenminister Otto Schily beraten, Auffangzentren für Flüchtlinge in Nordafrika einzurichten. Bei den Kirchen stößt Schilys Konzept auf Kritik. Aber was ist falsch daran, zu verhindern, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken?

Huber: Natürlich ist es schrecklich, wenn Menschen ohne Hilfe im Meer ertrinken. Wenn man dem durch Auffanglager oder durch andere Maßnahmen entgegenwirken will, ist dies aus meiner Sicht an drei Kriterien gebunden: Erstens müssen die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt angewandt werden -- die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen. Zweitens muss das menschliche Leben geschützt werden, und da sagt der deutsche Innenminister zu Recht, dass es für Flüchtlinge andere Wege geben muss, als in Wracks aufs Meer hinaus zu fahren. Und drittens müssen wir in der Europäischen Union zu gemeinsamen Standards kommen, die denen der Genfer Flüchtlingskonvention und unserer gemeinsamen Verpflichtung auf die Menschenrechte entsprechen.

SZ: Glauben Sie, dass die gegenwärtige Debatte um diese Kriterien geht?

Huber: Ich hoffe es. Das Zwiespältige des Vorschlags liegt aber tatsächlich darin, dass man manchmal den Eindruck gewinnen kann, es sei ein anderer Gedanke leitend. Den europäischen Ländern, vor allem Deutschland, ist es gelungen, den Zustrom von Asylsuchenden zu reduzieren, und es mag Politiker geben, die darin einen Selbstzweck sehen. Dem möchte ich widersprechen. Wir haben seit mehr als einem Jahrzehnt sehr viele Maßnahmen ergriffen, um diese Zahl zu reduzieren. Nun muss es Zweck der Asylgesetze sein, den bestehenden humanitären Verpflichtungen nachzukommen.

SZ: Italien schickt Flüchtlinge nach Libyen, ein Land, in dem weder Menschenrechte noch Flüchtlingskonventionen gelten. Das klingt nicht, als ob da humanitäre Verpflichtungen erfüllt werden sollen.

Huber: Das ist sicher bedenklich -- andererseits könnte Libyen veranlasst werden, Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen anzuerkennen. Auch daran sieht man, wie ambivalent der Vorschlag ist.

SZ: Ein Ergebnis könnte aber auch sein, dass die deutsche Drittstaatenregelung zum Modell wird: Wer am Auffanglager vorbei nach Europa kommt, ist illegal, wer ein Ausreisezentrum erreicht, ist sicher und braucht kein Asyl mehr in Europa. Das Asylrecht wäre hohl.

Huber: Die Gefahr besteht. Aber ich will keinem Beteiligten unterstellen, dass er das will. Ich unterstelle jedem der Verantwortlichen, dass er die menschenrechtlichen Verpflichtungen ernst nimmt, die sein Land und die EU eingegangen sind. Ich unterstelle auch einer wachsamen Öffentlichkeit, dass sie das überprüft. Wir Kirchen jedenfalls werden mit großem Nachdruck dafür eintreten, dass unsere Länder ihre humanitären Verpflichtungen erfüllen.

SZ: Können Sie sich vorstellen, dass nun, wo die Europäer uneins sind, Deutschland vorprescht und eigene Auffanglager einrichtet?

Huber: Das übersteigt meine politische Phantasie.

SZ: Man kann gegen Ihre Position sagen: Wir müssen Flüchtlinge abwehren, weil sonst die Armutswanderung unsere Finanzen und unsere Gesellschaft überfordern. Liberalität sei hier blauäugig.

Huber: Es trifft nicht den Kern, wenn den Kirchen in der Migrationsdebatte Blauäugigkeit vorgeworden wird. Wir haben nie gesagt, dass jeder Migrationswunsch unmittelbar humanitär begründet ist. Es gibt neue Asyl-Gründe, geschlechtsspezifische Verfolgung zum Beispiel oder die Verfolgung, die geschieht, weil jede staatliche Autorität zusammengebrochen ist. Diese Asylgründe müssen jedoch individuell glaubhaft gemacht werden. Aber diese Verpflichtung gegenüber den Opfern von Verfolgung soll unantastbar bleiben. Darüber hinaus kann und sollte ein Land festlegen, welche und wie viele Migranten es ins Land lässt. Dazu hat das neue Zuwanderungsgesetz ja die Tür geöffnet. Und da darf der Staat durchaus im eigenen Interesse auswählen. Beide Gruppen, Flüchtlinge und Migranten, sollte man klar voneinander unterscheiden. Es gilt das Gebot der Nächstenliebe, der Solidarität mit den Verfolgten -- nötig ist aber auch der realistische Blick auf das, was möglich ist.

SZ: Diese Trennung ist nicht mehr möglich, wenn die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft erschöpft ist, aber weiterhin viele Menschen Asyl beantragen.

Huber: Das mag zwischen 1990 und 1993 so gewesen sein, als jedes Jahr Hunderttausende ins Land kamen, Asylbewerber und Aussiedler. Das war eine historische Ausnahmesituation, und deshalb kam es zum Asylkompromiss, nach einer Debatte, die auch mich sehr bedrängt und berührt hat. Die heutige Lage ist damit nicht zu vergleichen. Wenn wir heute sagen würden, dass die Grenzen der Integrationsfähigkeit erreicht sind, dann würden wir das Ausmaß von Ausländerfeindlichkeit in unsrem Land so hoch einschätzen, dass uns angst und bange werden müsste. Ich teile diese Einschätzung nicht. Es ist auch absurd, auf der einen Seite zu sagen, das Boot ist voll, und andererseits zu sehen, dass ohne Zuwanderung der demografische Wandel noch schwerer als ohnehin zu bewältigen sein wird. Wir können die demografische und die integrationspolitische Debatte nicht so trennen, als redeten wir über zwei Schiffe auf getrennten Flüssen. Wir sitzen in einem einzigen Boot -- auf einem einzigen Fluss.

Interview: Matthias Drobinski

Quelle: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 19. Oktober 2004