Antisemitismus ist in der Gesellschaft wieder konstante Größe

Tendenz zur Salonfähigkeit - Wissenschaftler und Initiativen registrieren Zunahme antijüdischer Haltungen in der Öffentlichkeit

Von Thomas Bickelhaupt (epd)

Berlin (epd). Die große Empörung blieb dieses Mal aus. Anders als bei den als antisemitisch eingestuften Äußerungen des hessischen CDU-Politikers Martin Hohmann war die Ausstrahlung von Judenwitzen in der RTL-Sendung «Big Brother» schon nach wenigen Tagen fast wieder vergessen. Die Öffentlichkeit blieb von dem Skandal im Vergleich zu ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit nahezu unberührt. Mit dem Rausschmiss der Verantwortlichen war die Rückkehr zur Tagesordnung angesagt.

Wissenschaftler und politische Initiativen sind sich einig, dass Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft längst wieder eine konstante Größe ist - mit dem Trend zur Salonfähigkeit. Laut dem Berliner Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz bekennen sich in Umfragen etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung zu antisemitischen Vorurteilen.

Die Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung hat für 2004 in Deutschland bisher 53 antijüdische Vorfälle aufgelistet, 32 davon in Ostdeutschland. Damit treten solche Taten dort zwar gehäuft auf, aber mit rund Prozent 40 Prozent der registrierten Vorfälle ist Antisemitismus auch für die alten Bundesländer ein erhebliches Problem.

Spitzenreiter bei den Friedhofsschändungen ist allerdings Thüringen mit vier von insgesamt bundesweit elf Delikten. Als weitere Übergriffe nennt die Stiftung Attacken auf Juden in Großstädten und auf den Leipziger Pfarrer Christian Wolff, der die Errichtung eines jüdischen Begegnungszentrums in der Messestadt unterstützt. Darüber hinaus registriert die unvollständige Bilanz einen latenten Antisemitismus unter Schülern ebenso wie bei Politikern.

Als der «größte Traum» wird aus dem Poesiealbum eines Mädchens zitiert: «Dass ich in die Realschule komme und dass alle Juden sterben.» In einer Sozialkunde-Arbeit fanden Lehrer die Feststellung eines Schülers, die Nazis hätten mit ihren Rassegesetzen die Menschenrechte «nicht verletzt, da ich Juden nicht als Menschen ansehe, sondern als Parasiten, welche vernichtet gehören».

Die Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus warnen, judenfeindliche Äußerungen blieben immer häufiger ohne Widerspruch. Sie verweisen auf Schimpfwörter wie «du Jude» unter Jugendlichen, auf Weltverschwörungstheorien vor allem nach dem 11. September 2001 und auf antisemitische Parolen bei Friedensdemonstrationen.

Mit «Aktionswochen gegen Antisemitismus» wollen 50 ostdeutsche Initiativen bis Ende November eine aktive Auseinandersetzung mit antijüdischen und antiisraelischen Haltungen in Gang bringen. Es müsse deutlicher gemacht werden, «an welchen Hebeln gespielt wird» und wie Stereotype und Ressentiments für politische Ziele in Stellung gebracht werden, fordert auch Historiker Benz. In Ostdeutschland sei vor allem der in der DDR staatlich propagierte Antizionismus in der Haltung gegenüber Israel ein Problem, so der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung.

Der stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Thüringens Landesbischof Christoph Kähler, sieht eine besondere Verantwortung für die Kirchen: «Das Christentum ist ohne das Judentum nicht denkbar.» Der Satz «Jesus war Jude» gelte «ohne Wenn und Aber». Die Kirchen müssten immer wieder öffentlich darauf hinweisen, wie eng Juden und Christen verbunden sind.

21. Oktober 2004