Heute EU-Gipfel zur Türkei - BILD fragte den EKD-Vorsitzenden

Heute EU-Gipfel zur Türkei – BILD fragte den EKD-Vorsitzenden Wolfgang Huber:

Müssen wir Angst vor 66 Millionen Moslems haben, Herr Bischof?

Von ROLF KLEINE

BILD-Interview mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber (62)

BILD: Herr Bischof, die EU will offiziell mit der Türkei über eine Mitgliedschaft verhandeln. Verträgt Europa den Beitritt von 66 Millionen Moslems?

Huber: Eine Herausforderung wäre das. Aber die entscheidende Voraussetzung wäre, daß die Türkei sich an die Grundwerte annähert, die in der EU anerkannt sind. Dabei müssen wir sehr aufpassen: Diese Debatte darf nicht zu einer Konfrontation zwischen Christen und Muslimen führen! Es ist schon eine erhebliche Belastung, wenn der türkische Ministerpräsident Erdogan von der EU als einem „christlichen Club“ spricht. Wenn die Türkei zu Europa gehören will, dann sollte sie nicht verleugnen, daß sie in ihrer Geschichte auch starke christliche Wurzeln hat. Daran anzuknüpfen wäre sinnvoller, als abfällig über die christlichen Traditionen Europas zu reden.

BILD: Müssen wir Angst vor 66 Millionen Moslems haben?

Huber: Wir haben allen Grund, die fundamentalistischen Tendenzen mit Sorge zu betrachten, die es im Islam gibt. In weiten Teilen des Islam ist zudem die Unter-scheidung von Staat und Religion nicht verankert. Auch in der Türkei übrigens nicht: Dort gibt es eine staatliche Religionsbehörde mit mehr als 100 000 Mitarbeitern. Unter Religionsfreiheit verstehen wir in Europa etwas anderes.

BILD: Demokratie und Islam – paßt das überhaupt zusammen?

Huber: Die Türkei hat in der letzten Zeit wichtige Fortschritte in Richtung Demokratisierung gemacht. Aber auch hier gilt: Wenn wir in Deutschland von Demokratie reden, dann meinen wir etwas anderes – die Gleichstellung von Mann und Frau, die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte und die Freiheit der Religionsausübung. Gerade in diesen Bereichen hat die Türkei noch erhebliche Defizite. Wenn jetzt Verhandlungen über einen EU-Beitritt beginnen, dann muß eines ganz klar sein: Das Ergebnis dieses Prozesses ist absolut offen.

BILD: Ist der Islam nach Ihrem Verständnis eine moderne Religion?

Huber: Nein. Der Islam ist in seiner jetzigen Verfassung eine Religion, die noch nicht in der Aufklärung und in der Moderne angekommen ist. In früheren Phasen seiner Entwicklung war der Islam eine sehr moderne Religion – im Mittelalter zum Beispiel, als er in Europa ein tolerantes Gesicht hatte. Wir dürfen auch nicht glauben, daß ein EU-Beitritt der Türkei den Islam quasi „europäisieren“ würde. Ihre Reformation hat diese Religion noch vor sich.

BILD: Wie wird die Türkei das kulturelle Gesicht Europas verändern?

Huber: Der Beitritt oder eine intensivere Beziehung in anderer Form sind nur denkbar, wenn Europa sich seines eigenen kulturellen Gesichts bewußt ist! Damit es nicht einfach umgepustet wird durch die Türkei. Wir müssen uns jener Werte bewußt sein, die in unserer christlich-jüdischen Tradition verankert sind: Vor allem Menschenwürde und Humanität.

BILD: Drohen bei uns die christlichen Werte nicht insgesamt zu verblassen?

Huber: In der Vergangenheit haben viele Menschen die christliche Grundorientierung unserer Gesellschaft aus den Augen verloren – weil sie gedacht haben, das Fundament sei so stabil, daß man sich darum nicht kümmern müsse. Vor dem Hintergrund eines teilweise militanten religiösen Fundamentalismus wird die Frage nach unseren Wurzeln heute aber wieder häufiger gestellt. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen.

BILD: Was würde ein EU-Beitritt für die 150 000 Christen in der Türkei bedeuten?

Huber: Auch die Türkei muß anerkennen, warum die Zahl der Christen nur noch so gering ist – vor allem nämlich durch den Völkermord an den Armeniern. Darüber hinaus gilt: Für einen EU-Beitritt, aber auch für eine andere Art der Partnerschaft, ist es unabdingbar, daß die Christen in der Türkei die volle und uneingeschränkte Religionsfreiheit erhalten. Davon sind wir noch sehr weit entfernt.

Quelle: BILD vom 17. Dezember 2004