Kirchliche Organisationen: Deutschland nicht schlecht reden

Berlin (epd). Kirchliche Organisationen haben davor gewarnt, den Zustand der deutschen Gesellschaft schlecht zu reden. Trotz aller Herausforderungen sei Deutschland nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt und könne die Probleme bewältigen, sagte der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, bei der Vorstellung des ersten "Jahrbuches Gerechtigkeit" am Montag in Berlin. Die Publikation trägt den Titel "Armes reiches Deutschland". Es soll der Diskussion über den Sozialstaat neue Impulse geben. Getragen wird es von 26 Einrichtungen aus beiden großen Kirchen.

Die Bewertung der Situation in Deutschland sei von undifferenzierten Verallgemeinerungen und Mythen geprägt, kritisierte Henry von Bose von der württembergischen Diakonie. Das drittreichste Land der Erde stehe nicht vor dem Ruin, vielmehr sei das Wachstum in eine gefährliche soziale Schieflage geraten. Ein zunehmender privater Reichtum gehe dabei mit einer wachsenden Armut der öffentlichen Haushalte einher.

Als Ursache nannte Bose vor allem "berüchtigte Steuerlöcher". In kaum einem anderen Land der EU gebe es so viele Möglichkeiten zur Steuervermeidung, sagte er. So sei das reale Steueraufkommen seit 2001 bereits auf das Niveau von 1994 gesunken. Rund 80 Prozent der Steuerlasten in Deutschland würden inzwischen von Arbeitnehmern und Verbrauchern getragen, so Bose. Nur noch zwölf Prozent kämen aus Gewinnsteuern. Notwendig sei eine Neuausrichtung der Steuerpolitik. Diskutiert werden müsse etwa über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Luxusgüter oder eine Zusatzsteuer auf hohe Einkommen.

Zu den Herausgebern des Jahrbuchs zählen drei evangelische Landeskirchen, vier diakonische Werke, die Evangelisch-methodistische Kirche, die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden, die katholische Arbeitnehmerbewegung, kirchliche Organisationen der Entwicklungshilfe, Forschungseinrichtungen und ökumenische Initiativen. Sie fordern eine Ausrichtung des wirtschaftlichen Handelns an den Interessen der Menschen und eine Umverteilung der Mittel von oben nach unten.

Präses Buß warnte vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. "Man kann nicht einerseits Exportweltmeister sein und riesige Gewinnsteigerungen verzeichnen und gleichzeitig den Menschen ständig vermitteln, ihre Arbeit sei ein Dreck", sagte der Leitende Geistliche. Der Staat dürfe nicht ausgehungert werden, bis er seine Verantwortung für das Gemeinwohl nicht mehr wahrnehmen kann.

07. November 2005