Aufmüpfig und oft unbequem - Das Evangelische Stift in Tübingen hat seit 450 Jahren Dichter, Denker und Erfinder geprägt

Tübingen (epd). Es hat das europäische Geistesleben über Jahrhunderte nachhaltig beeinflusst: Das Evangelische Stift in Tübingen, ein in seiner Art einmaliges Wohn- und Studienhaus für evangelische Württemberger. In seiner über 450-jährigen Geschichte hat die "berühmte Pflanzstätte schwäbischen Geistes" namhafte Denker, Dichter und Wissenschaftler hervorgebracht.

Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike waren Stiftler, die Theologen Johann Albrecht Bengel und Friedrich Christoph Oetinger und die Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling. Auch der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler und der Erfinder Wilhelm Schickhardt, der 1623 die erste funktionierende Rechenmaschine der Welt ersann, verbrachten Studienjahre in dem Stift.

Gegründet wurde das Haus 1536 durch den württembergischen Herzog Ulrich, der 1534 in seinem Land die Reformation eingeführt hatte. Ulrich brauchte eine einheitlich und gut ausgebildete Pfarrer- und Beamtenschaft. Das Stift hat dann auch maßgeblich dazu beigetragen, dass das kleine Württemberg rasch in eine führende Stellung unter den protestantischen Reichsständen hineinwuchs.

In den Räumen eines ehemaligen Augustiner-Eremitenklostes ist heute Platz für etwa 150 Studenten, die das evangelische Pfarramt oder das Lehramt an Gymnasien anstreben. Wer ins Stift will, muss sich dafür mit einem überdurchschnittlich guten Abitur qualifizieren.

Die Stipendiaten wohnen für neun Semester im Stift, sie werden verpflegt und von derzeit neun "Repetenten" - so heißen die wissenschaftlichen Begleitkräfte - begleitet, betreut und auch gefordert: Neben ihren universitären Verpflichtungen haben sie regelmäßig zusätzliche Arbeiten vorzulegen. So wird das Wissen aufgearbeitet und vertieft, mit Erfolg. Es ist Jahre her, dass einmal ein Stiftler das Examen zum Studienabschluss nicht bestanden hat.

Die Stiftler empfanden sich häufig als Speerspitze des Fortschritts, sie fielen immer wieder durch ihre Aufmüpfigkeit auf. Der frühe Pietismus hatte dort eine Heimstätte bereits, als er noch als revolutionäre Untergrundbewegung gesehen wurde. Später wurden hier - zum Verdruss der Obrigkeit - die Schriften der französischen Revolution begeistert gelesen. Es soll sogar nach französischem Vorbild ein Freiheitsbaum gepflanzt worden sein.

Der württembergischen Landeskirche ist das Stift heute lieb und teuer. Die laufenden Kosten für das Kirchenamt liegen bei über drei Millionen Euro im Jahr. In den 90er Jahren wurde das denkmalgeschützte Gebäude am Neckar für rund zwölf Millionen Euro saniert und renoviert - das bis damals teuerste Bauvorhaben in der Geschichte der Landeskirche.

Es gab auch andere Zeiten: In den unruhigen 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das Stift als "linke Kaderschmiede" verschrien und ernsthaft in seinem Bestand bedroht. 1973 billigte die damalige evangelische Landessynode mit nur drei Stimmen Mehrheit die zum Weiterbestehen notwendigen Gelder.

Seit 1969 sind auch weibliche Studierende in dem zuvor rein männlichen Studienhaus zugelassen. Heute liegt der Frauenanteil bei über 60 Prozent - Tendenz steigend.

03. März 2008