Völlig übermüdet auf See und im Hafen

Weltkonferenz der Deutschen Seemannsmission diskutiert belastende Arbeit auf den Weltmeeren

Von Dieter Sell

Bremen (epd). Tagelang sieht Joel nicht viel mehr als den Bauch seines Schiffes und den Hafen. Der philippinische Seemann pendelt auf einem Kurzstreckenfrachter unter niederländischer Flagge von Kai zu Kai. "Wir müssen mit vier Leuten alles im Laderaum erledigen", sagt der 34-Jährige, der für eine Heuer von 630 Dollar im Monat zur See fährt. Auf ihrer Weltkonferenz beschäftigt sich die in Bremen ansässige Deutsche Seemannsmission bis Sonntag mit der belastenden Arbeitssituation von Seeleuten wie Joel.

Der Mann blinzelt und kann seine Augen kaum offen halten. Er ist nervös und hat völlig übermüdet nur Zeit für ein kurzes Gespräch und eine erfrischende Dusche im Seemannsclub. Der Philippiner ist kein Einzelfall, berichtet der Bremer Seemannspastor Peter Bick. Das Phänomen werde "Fatigue" genannt und beschreibe einen chronischen Erschöpfungszustand nach kräftezehrenden Diensten, die Tage und Wochen andauern könnten. "Die Liegezeiten werden kürzer, Seeleute haben es immer schwerer, an Land auszuspannen", bestätigt Jörg Colberg, selbst Kapitän und Prokurist des Bremerhavener Terminal-Betreibers NTB.

Die Seeschifffahrt boomt. Hans-Heinrich Nöll vom Verband der Deutschen Reeder spricht von "robustem Wachstum". Die deutsche Handelsflotte habe sich in den zurückliegenden fünf Jahren mehr als verdoppelt und zähle heute rund 3.200 Schiffe. Deutsche Reeder hätten zur Zeit bei den Werften etwa 1.200 Schiffe in den Auftragsbüchern stehen. Doch die Personallage sei angespannt. Beim technischen Nachwuchs gebe es einen zunehmenden Engpass.

Einen Engpass gibt es nach Beobachtung der Seemannsmission und weiterer Schifffahrts-Experten auch beim einfachen Personal. Die Übermüdung, auf englisch "Sleepiness", sei längst als bedeutendes Risiko für den Schiffsverkehr ausgemacht, warnt der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Welke. Insbesondere auf der kurzen Strecke, im sogenannten "Feederverkehr", gebe es Fatigue. Stundenzettel würden manipuliert, um das Problem zu kaschieren: "Damit werden die extrem engen Zeitpläne und zu geringe Besatzungsstärken an Bord von Schiffsführern verdeckt."

Joel kann bestätigen, was Welke und das Forschungsinstitut SIRC im englischen Cardiff 2006 in Studien ermittelt haben: Wer im europäischen Feederverkehr täglich mindestens einen neuen Hafen anläuft, ist allein mit Ladeaufsicht, An- und Ablegen und Bereitschaftszeiten im Dauerstress. Auf großer Fahrt zehrt die ständige Passage unterschiedlicher Zeitzonen zusätzlich. "Seeleute machen diese zermürbenden Touren teilweise vier bis neun Monate lang", ergänzt Welke. Das Leben an Bord erstarre in Dauerroutine.

Ungenügende Qualifikation, Angst und Kommunikationsbarrieren verstärkten das Problem. "An Bord herrscht zudem große Einsamkeit, wenn das Schiff über Monate mit einer Crew unterwegs ist", sagt Seemannspastor Bick. Die Deutsche Seemannsmission versuche mit Bordbesuchen, Freizeitangeboten und Seelsorge gegenzusteuern. Auch Welke findet das wichtig, betont aber gleichzeitig: "Angemessene Besatzungsstärken und kürzere Verträge würden auf jeden Fall die Gefahr von Fatigue mindern und die Sicherheit der Schifffahrt fördern."

28. Mai 2008

Deutsche Seemannsmission