Kirchenamtspräsident Barth gegen Rückzug in Minderheitenkirche

Berlin (epd). Der Kirchenamtpräsident der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hermann Barth, hat sich gegen einen gesellschaftlichen Rückzug der Kirchen ausgesprochen. "Ich glaube nicht, dass eine Minderheitenkirche authentischer ist als die saturierten Großkirchen", sagte er der Tageszeitung "Die Welt" (Samstagsausgabe). Die Möglichkeiten, die sich in Kindergärten, Schulen oder Krankenhäusern für die Kirchen eröffneten, seien Herausforderung und Chance: "Indem wir's anpacken, wachsen uns neue Kräfte zu."

Die Kirche dürfe nicht konfliktscheu sein, sagte Barth. Der Protestantismus sei lange Zeit "konsensorientiert, ja geradezu harmoniesüchtig" gewesen. Demgegenüber "lernen wir zunehmend, Unterschiede offen darzustellen", so Barth. Beispielsweise gebe es heute bei Fragen der Bioethik massive Konflikte. "Wenn wir darüber sofort die Decke des Konsens breiten, schwelen die Konflikte weiter", sagte der Theologe.

Im Blick auf Religions- und Biologieunterricht sprach er sich für eine Verzahnung der Fächer aus. Dies sei die Aufgabe an allen Schulen. Das Ziel jeder sachgemäßen Erziehung sei es, "Multiperspektivität" zu ermöglichen. Biologie- und Religionsunterricht hätten dabei jeweils eine spezifische Sicht zu bieten. Dabei dürfe jedoch keinesfalls "die Stärkung der einen Perspektive auf Kosten der anderen" gehen.

Den Begriff "Volkskirche" lehnte Barth in dem Interview ab. "Lieber spreche ich von einer Kirche der großen Zahl, die die finanzielle Kraft, das geeignete Personal bereitstellen kann, um überall im Land präsent zu sein und auch auf jene zuzugehen, die nicht kirchlich engagiert sind."

11. August 2008


Das Interview im Wortlaut:

"Indem wir's anpacken, wachsen uns neue Kräfte zu"

Hermann Barth von der EKD lehnt Papst-Ideen ab

Als Präsident des EKD-Kirchenamts befasst sich Hermann Barth (63) intensiv mit dem Strukturwandel der evangelischen Kirche. Mit Barth sprach Matthias Kamann.

DIE WELT: Was halten Sie vom Begriff Minderheitenkirche?

Hermann Barth: Es kommt darauf an, um was für eine Minderheitenkirche es sich handelt. Historisch entstandene Minderheitssituationen sind etwas anderes als das Verliebtsein in den Minderheitenstatus - nach dem Muster: Eine Minderheitenkirche ist authentischer als die saturierten Großkirchen. Ich glaub das nicht. Als Joseph Ratzinger Präfekt der Glaubenskongregation war, vertrat er die These, wir hätten hierzulande weit mehr kirchliche Institutionen, als wir mit kirchlichem Geist decken könnten. Das hat etwas von einem Signal zum Rückzug, jedenfalls zur Konzentration. Diese Haltung gibt es zwar auch im evangelischen Bereich, aber nicht bei den Kirchenleitungen.

Warum?

Barth: Nicht weil Ratzingers Beschreibung geringer innerer Kräfte und großer äußerer Strukturen ganz falsch wäre. Doch die Frage ist: Was braucht es, damit die inneren Kräfte zunehmen? Was trauen wir Gott zu? Die Möglichkeiten, die sich in Kindergärten, Schulen oder Krankenhäusern eröffnen, sind Herausforderung und Chance. Wir vertrauen darauf, dass uns, indem wir's anpacken, neue Kräfte zuwachsen.

Was heißt das etwa für evangelische Schulen?

Barth: Nehmen wir Schöpfung und Evolution. Evangelische Schulen können die Verzahnung von Biologie- und Religionsunterricht, die Aufgabe aller Schulen ist, vormachen und zeigen, welche je spezifische Sicht der Biologie- und der Religionsunterricht zu bieten haben, sodass keinesfalls die Stärkung der einen Perspektive auf Kosten der anderen geht, sondern Multiperspektivität möglich wird, das Ziel jeder sachgemäßen Erziehung.

Da dürften bei Evolutionsbiologen schon die Alarmglocken läuten.

Barth: Die läuten bei mir auch manchmal, aber - wenn ich an Dawkins denke - aus den umgekehrten Gründen. Wir dürfen in dieser Gesellschaft nicht konfliktscheu sein.

Konflikte sind nicht gerade eine evangelische Spezialdisziplin.

Barth: In der Tat war der Protestantismus lange Zeit konsensorientiert, ja geradezu harmoniesüchtig. Wir lernen zunehmend, auch innerhalb der Kirche Unterschiede offen darzustellen. In der Bioethik etwa gibt es bei uns massive Konflikte. Wenn wir darüber sofort die Decke des Konsenses breiten, schwelen die Konflikte weiter. Die pluralistische Grundsituation moderner Gesellschaften lässt sich auch in unserer Kirche nicht überschreiten.

Kann die Kirche noch all ihre Gemeinden und Gebäude zumal auf dem Land geistlich füllen, oder ist nicht der EKD-Reformprozess mit dem Hervorheben der "Leuchttürme" ein Zeichen der Resignation?

Barth: Ihre Frage scheint vorauszusetzen, dass die Kirche in der Fläche und evangelische Leuchttürme als Alternativen gedacht sind. Das ist nicht der Fall, es gibt auch keine Entgegensetzung von Kirche in der Stadt und Kirche auf dem Land. Nichts ist für den Reformprozess so schädlich wie die Ausrufung falscher Alternativen. Die Situation der Kirche ist derzeit geprägt durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Was hier richtig ist, kann dort gerade falsch sein.

Eine andere Institution ist die Diakonie. Trügt der Eindruck, dass die Unterschicht nur Objekt ihrer Hinwendung, aber kein Subjekt in den Gemeinden ist?

Barth: Zweifellos benötigen Menschen der "Unterschicht" Betreuung, wenn sie mit großen Problemen zu kämpfen haben. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass sie enorme Fähigkeiten haben und entwickeln, ein oft viel schwierigeres Leben zu bewältigen, mit höchst eindrucksvollen Mitteln, etwa einer lakonischen Tatkraft, die dem vielen Räsonnieren der Mittelschicht überlegen ist.

Kommt die Unterschicht aber in den Gemeinden vor?

Barth: Hinter ihrer Frage steht die These von der Mittelschichtverengung der Kirche, die ich für differenzierungsbedürftig halte. Viele Menschen mit sehr kleinen Renten sind voll integrierte Gemeindeglieder. In der Konfirmandenarbeit gibt es eine große Sensibilität im Umgang mit denen, die sich wenig leisten können. In unseren Kindergärten bekommen auch Familien mit geringem Einkommen eine Chance.

Wie halten Sie vom Begriff Volkskirche?

Barth: Ich mag ihn nicht. Lieber spreche ich von einer Kirche der großen Zahl, die die finanzielle Kraft, das geeignete Personal bereitstellen kann, um überall im Land präsent zu sein und auch auf jene zuzugehen, die nicht kirchlich engagiert sind. Sie sollten wir nicht abschreiben oder als religiös defizitär betrachten.

Das klingt nach Zutrauen in die Welt außerhalb der Kirche.

Barth: Ich würde lieber von Unbefangenheit sprechen, von Offenheit für positive Überraschungen und vom Wissen, dass da draußen nicht die feindliche Welt ist.