Kirchliches Hilfswerk hinterfragt Wirtschafts- und Umweltpolitik

Bonn (epd). Der Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED), Konrad von Bonin, fordert angesichts des Klimawandels und der wachsenden Armut eine grundlegende Debatte über die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland", die am Dienstag in Berlin vorgestellt wird, sollte dazu Anstöße geben, sagte Bonin in einem epd-Interview. "Wie wir mit der Natur umgehen, ist nicht allein eine technische Frage, sondern eine Gerechtigkeitsfrage", fügte er hinzu.

Jeder Mensch habe als Weltbürger oder Weltbürgerin das gleiche Recht, in Würde zu leben, ob in Deutschland, in China, in Mali oder Guatemala. Der Klimawandel werde aber vor allem in den Industrienationen verursacht und richte den größten Schaden in Entwicklungsländern an. Die 650 Seiten dicke Studie sei ein Plädoyer für Selbstbegrenzung. "Wir haben keine fertigen Rezepte, aber wir geben konkrete Anhaltspunkte. Es geht um die drei Prinzipien 'besser, anders und weniger'", sagte Bonin.

"Wenn wir unseren Lebensstil ändern, darf das aber nicht auf Kosten der Armen bei uns gehen", warnte er. Die Ökologie- und die Gerechtigkeitsfrage müssten zusammen betrachtet werden. Die Studie hat der EED zusammen mit "Brot für die Welt" und dem Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND) in Auftrag gegeben. Sie wurde vom Wuppertal-Institut erstellt.

Buchhinweis: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, Hrsg: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst; Fischer Taschenbuch Verlag, 650 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-596-17892-6.

09. Oktober 2008

Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt


Das Interview im Wortlaut:

Plädoyer für Selbstbegrenzung

EED-Vorsitzender Bonin erhofft sich eine lebhafte Debatte über die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland"

Mit Bonin sprach Elvira Treffinger.

epd: Entwicklungsorganisationen bekämpfen die Armut in Afrika. Dass sie sich mit Deutschland befassen, ist ungewöhnlich. Wie kam es, dass EED und "Brot für die Welt" zusammen mit dem BUND die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" in Auftrag gaben?

Bonin: Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeiten kann man nicht mehr über Veränderungen in einem Teil der Welt allein sprechen. Das ist spätestens seit Beginn der neuen Klimadebatte Ende 2006 klar geworden. Wenn unsere Autos, Fabriken und Heizungen mehr Kohlendioxid in die Luft pusten, leiden weltweit die Menschen darunter, die auf Inseln oder in Flussdeltas leben. In Afrika südlich der Sahara können Lebensbedingungen völlig verändert oder sogar zerstört werden.

epd: Sind die Gefahren des Klimawandels nicht längst bekannt? Warum braucht es dafür eine neue 650 Seiten dicke Studie?

Bonin: Es findet keine wirkliche Debatte statt. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist sehr kurzlebig. Heute sprechen alle über die Bankenkrise, aber nicht mehr über die Umwelt. Wir müssen eine tiefere, längerfristige Debatte haben, die auf gesellschaftliche Veränderungen abzielt. Die Elemente müssen die Nord-Süd-Perspektive und die Umweltperspektive sein. Wir möchten eine neue Debatte anstoßen und dazu Tausende von Veranstaltungen organisieren.

epd: Was ist die zentrale Botschaft der Studie?

Bonin: Die erste Botschaft ist, dass wir diese Debatte über die Zukunft unseres Landes angesichts des Klimawandels und der wachsenden Armut in der Welt brauchen. Zweitens: Wie wir mit der Natur umgehen, ist nicht allein eine technische Frage, sondern eine Gerechtigkeitsfrage. Jeder Mensch hat als Weltbürger oder Weltbürgerin ein gleiches Recht, auf dieser Erde in Würde zu leben, ob in Deutschland, in China, in Mali oder Guatemala. Und der Klimawandel, den vor allem wir in den Industrieländern verursacht haben, bewirkt, dass vor allem die Menschen im Süden darunter leiden. Das ist ungerecht.

epd: Was folgt aus diesem Unrecht?

Bonin: Die Frage ist: Was können wir tun? Was soll geschehen? Müssen oder können wir unser Leben, unsere Wirtschaft, unsere Kultur ändern? Wir haben keine fertigen Rezepte, aber wir geben konkrete Anhaltspunkte. Es geht um die drei Prinzipien "besser, anders und weniger".

epd: Gibt es unbequeme Wahrheiten in der Studie?

Bonin: Wenn Technik effizienter ist, können wir vieles besser, also mit weniger Aufwand erreichen. Anders heißt: Nicht die letzten verbliebenen Ölvorräte im Auto verbrennen, sondern abernten, was uns die Sonne täglich gibt. Die Kultur des Segelns, also die Nutzung des Windes, steht als Beispiel für Selbstbegrenzung. Das ist für viele nicht bequem, die Lust haben, mit großen Geschwindigkeiten und üppigen Heizungen zu leben. Drittens: Kann nicht ein einfacheres Leben ein besseres Leben sein? Fahrrad fahren kann intensiver sein als der Geschwindigkeitsrausch. Warum trinken wir Mineralwasser, wenn die Qualität unseres Leitungswassers viel besser ist?

epd: Ist die Studie ein Plädoyer für Genügsamkeit?

Bonin: Nein, sie ist eher ein Plädoyer für Selbstbegrenzung. Ein Plädoyer für veränderte Ansprüche, nicht niedrigere, sondern vielleicht sogar höhere.

epd: Was sind die größten Streitpunkte? Wo erwarten Sie Kontroversen?

Bonin: Wir wollen die Ökologie- und die Nord-Süd-Perspektive verbinden. Wenn man die Gerechtigkeitsfrage wirklich ernst nimmt, ist das eine ziemlich kontroverse Frage: Wollen und können wir uns ändern, damit es anderen anderswo besser geht? Wenn wir unseren Lebensstil ändern, darf das aber nicht auf Kosten der Armen bei uns gehen. Armutsbekämpfung in den Ländern des Südens und bei uns muss zusammen gesehen werden. Wer sind bei uns die Opfer der Armut? Und umgekehrt: Wer verdient im Süden? Das ist eine neue Perspektive.

epd: Ist es nicht ein Grundproblem, dass die Zusammenhänge zwischen Armut und Umweltzerstörung zwar bekannt sind, aber dennoch kaum etwas geschieht?

Bonin: Wir wissen vielfach nicht, was alles schon passiert. Es gibt viele Initiativen, die in Kommunen etwas verändern wollen, etwa im Bereich Ökologie oder Verkehr. Das Buch sagt: Guckt euch doch an, was bereits passiert. Das ist eine Ermutigung, mitzumachen. Es geht nicht nur um die Politiker, sondern um jeden einzelnen. Wenn viele etwas tun, bewirkt das mehr.

epd: Was verändert die Finanzkrise?

Bonin: Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir weiterdenken als unsere Rechenstifte uns das heute sagen. Das Buch hat die These: Es muss der Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zurückgewonnen werden. Eine chaotische Wirtschaft - und der internationale Handel ist ja fast nicht reguliert - geht auf Kosten der Schwachen. In der Charta der Welthandelsorganisation sind keine Menschenrechte erwähnt.

09. Oktober 2008


Solar und solidarisch

Mit der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" fordern Hilfswerke und Umweltschützer einen Politikwechsel

Von Elvira Treffinger

Berlin (epd). Mit einer Studie wollen kirchliche Hilfswerke und Umweltschützer eine große Debatte anstoßen: Sie plädieren für einen Kurswechsel in der Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik. Klimawandel, Globalisierung und wachsende Armut erfordern neue Antworten, lautet die zentrale These der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt", die an diesem Dienstag in Berlin vorgestellt wird. Es bleibe nicht mehr viel Zeit, den Klima-Kollaps abzuwenden. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten verleihen dem Buch zusätzlich brisante Aktualität.

"Kleine Kurskorrekturen reichen nicht", mahnen die Herausgeber, der Evangelische Entwicklungsdienst, "Brot für die Welt" und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). In der Studie wird das Modell eines ökologischen und fairen Wohlstands skizziert, der Zwang zum Wachstum hinterfragt. Für die Wirtschaft werden Menschenrechte und die Belastbarkeit der Ökosysteme als Leitplanken gesetzt. "Die Rechte der Menschen und das Lebensnetz der Natur sind wichtiger als Güter und Geld", sagen die Autoren des Wuppertal-Instituts, die unter Federführung des Soziologen und Theologen Wolfgang Sachs die 650-Seiten-Studie erstellt haben.

In der Finanzpolitik wird eine Umkehr gefordert, hin zum Primat eines von der Politik gesetzten Regelwerks. "In jedem Fall verlangt der Kurswechsel auf Zukunftsfähigkeit den endgültigen Abschied vom Neoliberalismus", heißt es. Die Rede ist vom "Ende einer Epoche, die die Märkte und ihre Hauptakteure, die Unternehmen, als Schrittmacher einer besseren Zukunft betrachtet hat". Die Deregulierung habe bei den Armuts- und Umweltproblemen versagt, aber zu einer ungeheuren Machtkonzentration der Finanzjongleure geführt.

Die Autoren befürworten Öko-Steuern, Mindestlöhne und eine konsequente Armutsbekämpfung. "Wenn die Preise die ökologische Wahrheit sprechen, werden Wasser, Strom, Heizöl, Treibstoff, Transport, Lebensmittel teurer werden", erläutern sie. Um die Ungleichheit nicht zu vertiefen, müssten diese Steuereinnahmen den Bürgern als Öko-Bonus oder als Finanzquelle für soziale Grundsicherung zurückgegeben werden: "Eine Umweltpolitik, die sich nicht gleichzeitig um Sozialpolitik kümmert, wird keinen Erfolg haben." Wenn in Deutschland die Armutsrisiken wachsen, sinkt die Bereitschaft, den Lebensstil zu ändern.

In die Studie eingestreute "Zeitfenster" malen aus, wie die angestrebte "solar-solidarische Zivilisation" 2022 aussehen könnte: Ehemalige Ölscheichs, die Solarstrom in der Wüste erzeugen, Bauernhöfe in Deutschland, die nach dem Verbot der Massentierhaltung ökologisches Gemüse anbauen, und Staatschefs, die eine neue Welthandelsorganisation gründen: Sie soll den Handel koordinieren statt ihn zu liberalisieren.

Entwicklungspolitik für den Süden der Welt ist für die Autoren der Studie zuallererst Klimaschutz im Norden. "Jahrzehntelange Kampagnen gegen die Armut bis hin zu den Millenniumsentwicklungszielen werden zu Makulatur, wenn aufgrund der Erderwärmung Hunderte Millionen Arme mit Fluten oder Dürren, Nahrungsmangel oder Krankheiten zu kämpfen haben", warnen sie.

Im Weltmaßstab genießt erst ein Viertel der knapp sieben Milliarden Erdbürger die Früchte des Fortschritts. Wollten die anderen drei Viertel zum heutigen verschwenderischen Konsumstil aufholen, seien die Grenzen der Umwelt, der Rohstoffe und Energievorräte schnell erreicht, warnen die Verfasser der Studie. Das Buch ist ein Plädoyer für Selbstbegrenzung, für eine "Reform des Reichtums". Die Leitprinzipien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz stehen für einen bewussten Lebensstil des "besser, anders und weniger". Die Bürger sollen von Verbrauchern zu Gebrauchern werden, Ressourcen schonen, Energie sparen, Mobilität begrenzen, auf Solarstrom umsteigen, Erwerbsarbeit fair teilen und alle an sozialer Sicherung teilhaben lassen.

Gegen eine "Allianz aus Gleichgültigkeit und Eigennutz" setzen die Autoren der Studie Ermutigung: In Schlaglichtern werden unterschiedlichste "zukunftsfähige" Initiativen porträtiert: Erfolgreiche City-Velos in Paris, Grünes Management, Klimaschutz in Augsburg und Autofreies Bauen in Hamburg. Der Wandel sei bereits im Gang, und jeder einzelne sei gefragt: "Politik ist mehr als Staat."

09. Oktober 2008