Bischof Kähler: Neues Interesse an Spiritualität und Abendmahl

Freiburg (epd). In der evangelischen Kirche lässt sich nach Ansicht von Bischof Christoph Kähler ein neues Interesse an Spiritualität feststellen. Diese zunehmende spirituelle Aufmerksamkeit sei ebenso zu begrüßen wie die neue Abendmahlsfrömmigkeit, sagte der stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) der Zeitschrift "Herder-Korrespondenz" (Dezember-Ausgabe).

Ausdrücklich unterstützte der Thüringer Landesbischof die in dem evangelischen Reformprozess "Kirche im Aufbruch" angestrebte Qualitätssteigerung durch EKD-weite Kompetenzzentren. "Wir wollen unsere kirchliche Arbeit sorgsamer und aufmerksamer tun, und zwar in der Breite", sagte Kähler.

Mit Verweis auf der kirchliche Situation in Ostdeutschland wandte sich der stellvertretende Ratsvorsitzende gegen das Stichwort vom "Wachstum gegen den Trend". In den ostdeutschen Landeskirchen müssten vielmehr für die laufenden Verkleinerungsprozesse geistliche Wege gefunden werden, die das Erreichbare auch positiv würdigen: "Es gibt eine Art von protestantischer Miesepetrigkeit, die wir durch eine Kultur der Anerkennung ersetzen sollten." Für diesen Mentalitätswechsel gebe es Anzeichen, sagte Kähler. Er fügte hinzu: Es braucht den produktiven Wettbewerb unter Christen und auch unter Kirchen."

Zum evangelisch-katholischen Verhältnis sagte der Landesbischof: Wir sind als Christen in dieser Gesellschaft nicht katholisch gegen evangelisch aufgestellt, sondern haben eine gemeinsame Aufgabe." Beide große Kirchen erlebten einen Schwund an kirchlicher Selbstverständlichkeit. Deshalb werde auf evangelischer und katholischer Seite versucht, die Bindungskraft der jeweiligen Kirche zu stärken.

Kähler wies Aussagen von Papst Benedikt XVI. zurück, der in seiner Regensburger Rede "die Grundübel der Moderne" dem Protestantismus angelastet habe. Protestanten und Katholiken müssten stattdessen miteinander herausstellen, dass demokratische Werte auf christliche Grundlage gewachsen seien. "Wir sollten einander jeweils unsere Erfolge und Stärken gönnen", empfahl der Landesbischof.

27. November 2008


Das Interview im Wortlaut:

Herder-Korrespondenz 12/2008

„Anzeichen für einen Mentalitätswechsel“

Ein Gespräch mit dem EKD-Ratsmitglied Bischof Christoph Kähler

Nächstes Jahr wird ein neuer Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt. Wie nehmen sich die Veränderungen in der evangelischen Kirche aus, die der seit 2003 amtierende Rat angestoßen hat? Wo steht der deutsche Protestantismus heute, und welches sind die spezifischen Probleme der Kirche in Ostdeutschland? Darüber sprachen wir mit dem Stellvertretenden Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Christoph Kähler (Eisenach). Die Fragen stellte Ulrich Ruh.

HK: Herr Bischof Dr. Kähler, die EKD war in den letzten Jahren in mehrfacher Hinsicht eine Baustelle: Es wurde an Kirchenfusionen gearbeitet, das Verhältnis zwischen der EKD und den kirchlichen Zusammenschlüssen wurde neu geordnet, zuletzt hat man einen umfassenden kirchlichen Reformprozess begonnen. Haben sich diese Bemühungen schon ausgezahlt?

Kähler: Wir haben in der EKD Dinge angepackt, die eigentlich seit Jahrzehnten anstanden. Bischof Klaus Engelhardt hat in seinem letzten Bericht als Ratsvorsitzender vor zehn Jahren gesagt, es müsste doch mehr an Gemeinsamkeit zwischen den gliedkirchlichen Zusammenschlüssen zu machen sein. Dieser Anstoß wurde zunächst nicht aufgegriffen. Jetzt gab es einen Kairos für grundlegende Reformvorhaben, sowohl für die bessere Verzahnung der Arbeit der EKD und der Zusammenschlüsse wie für die Entwicklungen in der mitteldeutschen Kirchenlandschaft, die letztlich aus der Not geboren sind. Die Zeitumstände haben dabei geholfen, jetzt das zu regeln, was zu regeln war.

HK: Aber haben diese strukturellen Veränderungen auch dazu geführt, dass die evangelische Kirche an innerer Lebendigkeit und Ausstrahlungskraft gewonnen hat?

Kähler: Zumindest lässt sich feststellen, dass eine neue Aufmerksamkeit der EKD-Gliedkirchen füreinander entstanden ist. Die einzelnen Gliedkirchen merken, wo es inhaltliche Stärken anderer Landeskirchen gibt; der Austausch untereinander ist viel besser geworden. Die kleinen Königreiche bekommen so offenere Grenzen. Ich erlebe ein neues Miteinander in Bezug auf die pastoralen Fragen, die uns allen auf den Nägeln brennen und die wir nicht mehr in jeder Landeskirche einzeln lösen können.

HK: Hängt dieses neue Miteinander auch damit zusammen, dass sich frühere theologisch-politische Spannungen innerhalb der EKD offensichtlich abgeschwächt haben? Bei früheren Synodaltagungen gab es regelmäßig heftige Auseinandersetzungen zwischen Evangelikalen einerseits und „Linken“ andererseits. Davon ist heute praktisch nichts mehr zu spüren ...

Kähler: Diese Spannungen sind nicht einfach verschwunden, sie sind vielmehr bearbeitet worden. Die veränderte Atmosphäre innerhalb der EKD hat unter anderem mit der Synodaltagung 1999 zum Schwerpunktthema Mission in Leipzig zu tun. Damals haben sich etwa Evangelikale und eher liberal-protestantisch Geprägte darüber verständigt, dass Mission ein Prozess ist, der uns als Kirche konstituiert. Wenn wir nicht mehr werbend vom Glauben reden können, von dem, was Gottvertrauen für die Menschen als Lebensgrundlage bedeuten kann, sind wir nicht mehr Kirche. Es ergaben sich dadurch eine ganze Reihe inhaltlicher Verständigungen, auf denen dann auch Strukturveränderungen aufbauen konnten, die wiederum zu inhaltlichen Übereinstimmungen im Blick auf die kirchliche Arbeit führen. Es geht ja letztlich nicht um Strukturreformen, sondern darum, lebendige, anziehende Gottesdienste zu gestalten. Es geht um das Zeugnis der Kirche in Regionen, deren christliche Gemeinden kleiner werden. Hier bestehen heftige Probleme gerade im Osten Deutschlands; wir müssen sie mit Phantasie und Kreativität angehen.

„Es gibt im Rat der EKD einen ausgeprägten Willen zum Kompromiss“

HK: Auf der Ebene der EKD werden die gesamtkirchlichen Probleme sowohl vom Rat wie von der Synode bearbeitet. Man hört dabei gelegentlich die Klage, der Rat, dessen Stellvertretender Vorsitzender Sie sind, ziehe zu viel an sich und die Synode bleibe dagegen im Windschatten. Stimmt die Balance zwischen den beiden Organen?

Kähler: Das Grundproblem liegt darin, dass es nicht nur um das Gegenüber von Rat und Synode der EKD geht, sondern auch um ein Gegenüber von EKD-Synode und gliedkirchlichen Synoden. Die Synoden der Gliedkirchen bestimmen den Kurs ihrer Kirchen. In der EKD gibt es keine Zentralsynode, die die gesamte EKD einschließlich ihrer Gliedkirchen regieren könnte. Deshalb brauchen wir ein produktives Miteinander der Kirchenkonferenz, als dem Zusammenschluss der Landeskirchenleitungen, der Synode und des Rates in der EKD. Im Übrigen wird alles, was die Synode bei ihren jährlichen Tagungen anregt, vom Rat sehr ernst genommen. Aber der Rat trifft sich elf Mal im Jahr und kann deshalb intensiver arbeiten als eine Synode.

HK: Wie verläuft dann die Meinungsbildung im Rat der EKD? Gibt es heftige Diskussionen und Flügelkämpfe, oder wird man sich in der Regel bei den jeweiligen Fragen schnell einig?

Kähler: Jedes Kollegium, das ich bisher auch im weltlichen Raum erlebt habe, hat die Aufgabe, unterschiedliche Gesichtspunkte so zu repräsentieren, dass Pro und Contra vernünftig abgewogen werden. Das geschieht im Rat regelmäßig. Der Rat würde seine Aufgabe verfehlen, wenn nicht auch bei schwierigen Abwägungsentscheidungen beide Waagschalen bestückt würden. Der Ratsvorsitzende hat die Gabe, Argumente, die in der Debatte geäußert und nach langem Austausch der Argumente fast schon wieder vergessen sind, wieder aufzunehmen. Und es gibt im Rat einen ausgeprägten Willen zum Kompromiss und die Bereitschaft, die sinnvollen Lösungen dann auch miteinander zu vertreten. Es gibt in der Regel keine Kampfabstimmungen, der Rat fällt die allermeisten Entscheidungen im Konsens.

HK: Einer der Schwerpunkte für den Rat war in den letzten Jahren die kirchliche Selbstvergewisserung in zentralen Punkten. Dem sollten nicht zuletzt die Orientierungshilfen zu Taufe und Abendmahl dienen. Haben diese Texte ihr Ziel erreicht?

Kähler: Die Schrift über das Abendmahl war vor allem nötig, weil wir als evangelische Kirche klare Aussagen im Blick auf den ersten Ökumenischen Kirchentag brauchten. Wir haben den Text in ökumenischer Absicht geschrieben: Kardinal Karl Lehmann kannte den Entwurf und hat sich positiv dazu geäußert. Ähnliche ökumenische Abstimmungsprozesse haben zum Thema Taufe stattgefunden; die Taufe wird ja inzwischen auch von allen Kirchen in Deutschland gegenseitig anerkannt. Das zeigt: Die Selbstvergewisserung, wie wir sie an diesen und an anderen Punkten als evangelische Kirche unternehmen, soll, soweit es geht, im Konsens oder zumindest in Abstimmung mit der katholischen Kirche bewerkstelligt werden. Es gab und gibt auch Bemühungen, die orthodoxen Kirchen und die Freikirchen mit einzubeziehen. Wir sind als Christen in dieser Gesellschaft nicht katholisch gegen evangelisch aufgestellt, sondern haben eine gemeinsame Aufgabe.

HK: Das Impulspapier zum vom Rat der EKD angestoßenen Reformprozess trägt den Titel „Kirche der Freiheit“. Dadurch wird zumindest der Eindruck erweckt, die evangelische Kirche wolle den Begriff Freiheit als konfessionelles Unterscheidungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen. Ist das wirklich angezielt?

Kähler: Das kann schon deshalb nicht sein, weil es für das Freiheitsverständnis eine gemeinsame biblische Grundlage gibt, wie sie etwa bei Paulus im Galaterbrief zum Ausdruck kommt, wo es heißt: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit.“ Wir können und wollen dieses Motto nicht allein für die evangelische Kirche in Anspruch nehmen. Der Ratsvorsitzende der EKD hat in seinem Vortrag beim Zukunftskongress Anfang 2007 sehr viel zur Klärung in diesem Punkt beigetragen: „Kirche der Freiheit“ ist nicht antirömisch oder antikatholisch gemeint. Vielmehr soll deutlich werden, dass es sich dabei um ein gemeinchristliches Anliegen handelt, das wir in unserer Gesellschaft besonders vertreten müssen. Ich bin deshalb auch nicht glücklich darüber, dass man gelegentlich unterstellt, wir meinten mit „Kirche der Freiheit“ gar keine christliche Freiheit, sondern einen liberalistisch-ethischen Individualismus.

„Wir sollten einander jeweils unsere Erfolge und Stärken gönnen“

HK: Auf katholischer Seite hält man der evangelischen Kirche aber zumindest unterschwellig vor, sie wolle sich doch gegen das katholische Christentum profilieren, sozusagen aus Neid auf die in mancher Hinsicht stabilere kirchliche Schwester.

Kähler: Beide großen Kirchen in Deutschland erleben einen Schwund an kirchlicher Selbstverständlichkeit, an kirchlicher Sitte, der uns nur beide betrübt machen kann. Das belegen auch die von der katholischen Kirche veröffentlichten Daten zum kirchlichen Leben. Grundsätzlich geht es uns darum, die Bindungskraft der evangelischen Kirche zu stärken, wie es auch auf katholischer Seite versucht wird. Wir fühlen uns allerdings nicht gut verstanden, wenn wie in der berühmten Regensburger Rede Benedikts XVI. die Grundübel der Moderne dem Protestantismus angelastet werden. Damit wird sowohl Freiheit als Dimension christlichen Lebens verkannt wie der Beitrag evangelischer Kirche und Theologie zur Förderung dessen, was für uns an der Moderne unverzichtbar ist. Wir müssen miteinander herausstellen, dass demokratische Werte auf christlicher Grundlage gewachsen sind, und ebenfalls miteinander die Frage stellen, wie andere Religionen demokratische Werte aus ihren Grundentscheidungen heraus befördern können.

HK: Ende September hat die EKD die „Lutherdekade“ eingeläutet, die im Reformationsjubiläum im Jahr 2017 gipfeln soll. Damit kommt automatisch vieles auf die Tagesordnung, bei dem die Kirchen und Konfessionen unterschiedliche Akzente setzen, vor allem die Frage nach der Bewertung der Gestalt Martin Luther beziehungsweise der Reformation.Wie kann es gelingen, das Reformationsjubiläum und seine Vorbereitung ökumenisch offen zu feiern?

Kähler: Wir sollten einander jeweils unsere Erfolge und Stärken gönnen, gemäß einem Liedvers von Paul Gerhardt: „Lass mich mit Freuden ohn alles Neiden sehen den Segen, den du wirst legen in meines Bruders und Nähesten Haus“! Das haben wir so praktiziert aus Anlass der Wahl von Benedikt XVI. und beim Weltjugendtag in Köln. Für uns wiederum ist die Entdeckung der Rechtfertigung durch Martin Luther etwas, das wir feiern können und auch feiern wollen. Wir wollen das gerne zusammen mit unseren katholischen Schwestern und Brüdern tun.

HK: Inwieweit kann das alte Kontroversthema Rechtfertigung Katholiken und Protestanten heute verbinden?

Kähler: Wir müssen heute gemeinsam immer wieder neu darüber nachdenken, wie wir die Botschaft von der Rechtfertigung so verkünden können, dass sie den Glauben, das Gottvertrauen der Menschen in unseren Gemeinden stärkt. In dieser Hinsicht gibt es noch viel zu tun. Ich war gerade auf der Bistumswallfahrt in Erfurt und habe dort einen Vortrag über das evangelische Verständnis der Rechtfertigung gehalten. Danach meinte ein katholischer Pfarrer, er habe noch nie über die Rechtfertigung gepredigt. Darauf fragte ich ihn: Sie haben doch sicher regelmäßig über das Gleichnis vom verlorenen Sohn gepredigt. Das bejahte er natürlich. Und ich konnte ihn darauf hinweisen, damit habe er über das biblische Motiv gepredigt, das wir Evangelische mit dem oft schwer verständlichen Ausdruck Rechtfertigung belegen. Es geht nicht um den Begriff, sondern darum, dass wir von der freien Gnade Gottes reden, davon, dass sich Gott der verlorenen Menschen erbarmt. Das müssen wir in Formen tun, die die Menschen verstehen. Auf dieser Grundlage wünsche ich mir einen produktiven Wettbewerb um die beste Rechtfertigungspredigt.

„Zum Thema Kirche und Amt braucht es noch Verständigungsprozesse“

HK: Was bleibt dann noch als spezifisch protestantisch, als Unterscheidungsmerkmal, das die evangelische Kirche und Theologie in einem solchen Wettbewerb herausstellen könnte oder sogar müsste?

Kähler: Wir haben beispielsweise in der evangelischen Kirche eine spezifische Auffassung vom Priestertum aller Glaubenden und damit von der Urteilsfähigkeit der Gemeinde. Das heißt ganz praktisch: Ich kann als evangelischer Bischof einen Gottesdienst, den ich nicht leite, besuchen und das Abendmahl empfangen. Das kann ein katholischer Bischof nicht, weil er immer im Amt ist und grundsätzlich der Eucharistie vorstehen muss, wenn er bei einem Gottesdienst anwesend ist. Das bedeutet wiederum nicht, dass wir in der evangelischen Kirche das Amt, Gottes Wort zur Zeit wie zur Unzeit auszurichten, nicht kennen. Die Pastorin oder der Pfarrer muss auch gegenüber einer Gemeinde gelegentlich deutlich sagen können, dass sie sich theologisch gesehen auf dem Holzweg befindet. Also braucht es zum Thema Kirche und Amt noch Verständigungsprozesse zwischen evangelischer und katholischer Kirche, die keinesfalls ausgestanden sind.

HK: Für die evangelische Kirche in Deutschland brachte die politische Wiedervereinigung vor fast zwanzig Jahren die Integration der ostdeutschen Landeskirchen in die Strukturen der EKD. Diese Integration verlief in den ersten Jahren nicht ohne Schwierigkeiten, die aber inzwischen überwunden sind. Wie sieht heute das „Standing“ der östlichen Gliedkirchen innerhalb der EKD aus?

Kähler:Wir können als Kirchen in West- und Ostdeutschland nicht ständig das gegenseitige Verhältnis zum Thema machen. Die westdeutschen Landeskirchen haben ein hohes Maß an Verantwortung für die ostdeutschen übernommen und tragen sie noch immer. Wir könnten ohne die massive finanzielle Unterstützung der westdeutschen Landeskirchen heute in der gegenwärtigen Form nicht existieren.

„Die Verantwortung der ostdeutschen Gemeinden für sich selbst stärken“

HK:Woran liegt das vor allem?

Kähler:Wir haben in Ostdeutschland Kirchengebäude, die von 100 Prozent der Bevölkerung gebaut wurden. Heute gehören aber der Kirche oft nur zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Einwohner an. Sie könnten diese enormen Baulasten nicht tragen, wenn es nicht Unterstützung sowohl von den westdeutschen Landeskirchen wie von der öffentlichen Hand gäbe. Ohne diese Hilfe müssten wir viele Dorfkirchen aufgeben. Damit würden ganze Landstriche zur Kirchenwüste, was keiner von uns wollen kann. Ich wäre natürlich froh, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Christen größer wäre, weil es kein erstrebenswerter Zustand ist, dass wir unsere kirchlichen Haushalte zum Teil fremd finanzieren. Aber ich sehe im Augenblick keine Lösung, die das auf absehbare Zeit zum Besseren wenden könnte. Wir bemühen uns allerdings Schritt für Schritt, die Verantwortung unserer Gemeinden für ihr eigenes Leben zu stärken.

HK: Gibt es überhaupt etwas, was die evangelischen Kirchen in Westdeutschland von den östlichen Kirchen sozusagen im Gegenzug lernen, wovon sie durch den Kontakt mit ihnen profitieren könnten?

Kähler: Die Fusion der Thüringer Landeskirche und der Kirchenprovinz Sachsen zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland – kurz EKM – ist sicher kein kopierbares Modell. Aber dieser zehn Jahre dauernde Prozess macht vielleicht anderen Mut, sich den Realitäten zu stellen und sie zu gestalten, solange sich dafür noch die Spielräume bieten. Wir haben der Tatsache ins Auge gesehen und sehen müssen, dass jede unserer beiden Partnerkirchen jährlich 10 000 Mitglieder verliert. Mit der Fusion haben wir uns aus dem Lamentieren darüber befreit, sind neu aufgebrochen. Jeder muss seine Probleme analysieren und dann versuchen, daraus die entsprechenden Lösungen zu entwickeln. Dabei kann es einzelne Bausteine geben, die andernorts schon erprobt wurden. So führten wir beispielsweise eine pfiffige Wiedereintritts-Kampagne durch, die einigen Erfolg hatte: Neben 300 Wiedereintritten sind die Austrittszahlen im Zug der Kampagne deutlich gesunken, weil sich das öffentliche Image der Kirche offenbar verbessert hat. Diese Kampagne haben wir auch anderen Kirchen angeboten; das ist auch genutzt worden.

„Wir müssen uns über die Essentials von Politik aus christlicher Verantwortung verständigen“

HK: Noch so gute Kampagnen haben aber nicht dazu geführt, dass die evangelischen Kirchen in nennenswertem Umfang zahlenmäßig gewachsen wären. Stoßen missionarische Bemühungen auf taube Ohren?

Kähler: Es wird auf Jahrzehnte eine Differenz zwischen der kirchlichen Landschaft in Westdeutschland und der in Ostdeutschland bestehen bleiben. Die kirchenzerstörerische Arbeit des Nationalsozialismus ist in Ostdeutschland unmittelbar von der Staatspartei der DDR unter anderem ideologischem Vorzeichen weitergeführt worden. Ich hatte beispielsweise einen früheren Nazi als Lehrer in Staatsbürgerkunde, der uns den  „Antifaschismus“ beizubringen versuchte – mit alten Methoden! Die dauerhafte Zerstörung von kirchlichem Bewusstsein und kirchlichen Strukturen lässt sich durch die Arbeit einer Generation nicht wieder gutmachen.Wir erleben im Osten inzwischen allerdings ein neutraleres Verhalten, nicht mehr das kirchenkämpferische von früher. Junge Leute fragen uns: Was macht ihr da eigentlich? Es ist auch zu beobachten, dass Eltern durch ihre Kinder, die kirchliche Kindergärten oder Schulen besuchen, neu ins Fragen darüber kommen, wie sie eigentlich leben. Entsprechende Veränderungen sind aber nur durch persönliche Kontakte und Entscheidungen zu erreichen.

HK: Welche Rolle spielen denn in Ostdeutschland die konfessionellen Differenzen zwischen katholischer und evangelischer Kirche? Werden sie in der Bevölkerung überhaupt wahrgenommen?

Kähler:Wir hatten zu DDR-Zeiten Glück, wenn unsere Kinder in der Schulklasse noch andere christliche Kinder erlebten. Es war dann ziemlich egal, ob diese Kinder zu einer Freikirche gehörten oder zur katholischen Gemeinde. Jetzt machen wir hin und wieder Differenzerfahrungen mit der katholischen Kirche, die wir aber miteinander zu besprechen haben. Es schadet uns, wenn katholische und evangelische Christen und ihre Kirchen gerade auch in der Politik mit unterschiedlicher Stimme sprechen.

HK: Und was wäre stattdessen geboten?

Kähler:Wir müssen uns darüber verständigen, was die Essentials von Politik aus christlicher Verantwortung sind. In dieser Hinsicht sind noch Klärungsprozesse erforderlich. Wir erleben im Übrigen, dass die Generation von Christen, die in der Wendezeit politische Verantwortung übernommen hat, jetzt allmählich in den Ruhestand geht. Die Frage erhebt sich, wer ihnen folgt. Wir hatten in den neunziger Jahre einen Aderlass von Aktiven in der Kirche zugunsten der Politik. Wir holen ihn jetzt wieder auf, indem in Gemeindekirchenräten und Synoden ein Generationswechsel stattfindet, da engagierte jüngere Menschen nachrücken. Ob ein solcher Wechsel auch beim politischen Personal klappt, ist eine offene Frage.

HK: Wie kann sich die evangelische Kirche – gleich ob in den neuen oder in den alten Bundesländern in Politik und Öffentlichkeit überhaupt bemerkbar machen? Entsprechende Stellungnahmen von kirchlichen Gremien, etwa der Synode der EKD, haben in der Regel kaum öffentliche Resonanz ...

Kähler: Um es mit Paul Tillich zu sagen: Niemand kann eine Antwort verstehen, wenn es nicht eine Antwort auf eine zuvor gestellte Frage ist. Wir müssen mutiger über unsere Probleme reden, Konflikte benennen, zeigen wo wir unsicher sind und um Positionen ringen. Wenn wir es nicht scheuen, diese Prozesse zu kommunizieren, wird man sehen, dass wir am Puls der Zeit sind, uns aber die Antworten nicht zufliegen. So wird auch die Achtung vor unseren Stellungnahmen steigen.

„Es lässt sich eine neue spirituelle Aufmerksamkeit feststellen“

HK: Die EKD hat kürzlich eine Denkschrift mit der Überschrift  „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ veröffentlicht, die Klärungen zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche versucht. Inwiefern war eine solche Positionsbestimmung an der Zeit?

Kähler: Man muss ab und zu Abstand zu sich selbst gewinnen. Die Kirche produziert so viel Papier, dass sich einerseits die selbstkritische Frage nahe legt, ob alle Stellungnahmen wirklich nötig sind. Wir müssen andererseits immer wieder überlegen, wo es neue Herausforderungen gibt, die möglicherweise eine Äußerung in Form einer Denkschrift nötig machen könnten. Die Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ klärt, wann, wer, wo und wozu reden soll. Das war zunächst ein innerkirchlicher Klärungsprozess. Aber es ist kein Schaden, wenn dadurch auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, dass die Kirche sich nicht zu allem und jedem äußert, sondern dass sie nach entsprechenden Kriterien vorgeht.

HK: Die EKD hat sich nicht nur vorgenommen, gegenüber der Öffentlichkeit deutlicher Themen zu setzen, sondern zielt auch auf eine stärkere spirituelle Ausstrahlung durch Qualitätssteigerung bei ihren Angeboten, damit auf ein „Wachstum gegen den Trend“. Wie sehen Sie die Chancen, dass solche Hoffnungen in einem überschaubaren Zeitraum in Erfüllung gehen?

Kähler: Es lässt sich auf jeden Fall eine neue spirituelle Aufmerksamkeit feststellen. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: In meiner Generation war die Frage, ob man einen Spiritual, Seelsorger oder Supervisor habe, eher ungewöhnlich. Ich stelle diese Frage jetzt jedem und jeder, die ich ordiniere, und ich erlebe junge Menschen, die sie mit großer Selbstverständlichkeit bejahen. Diesen Umschwung zu Gunsten der spirituellen Aufmerksamkeit für das eigene Leben kann ich nur begrüßen, ebenso wie die neue Abendmahlsfrömmigkeit, die von den Kirchentagen in die Gemeinden hineingewirkt hat. Das hätte vor fünfzig Jahren niemand vorauszusagen gewagt. Man kann auf diesem Gebiet Dinge, die im Gange sind, unterstützen, sie aber nicht durch Resolutionen erzwingen.

„Es braucht den produktiven Wettbewerb unter Christen und auch unter Kirchen“

HK: Und was ist mit der jetzt unter anderem durch EKD-weite Kompetenzzentren angestrebten Qualitätsverbesserung?

Kähler: Wir wollen unsere kirchliche Arbeit sorgsamer und aufmerksamer tun, und zwar in der Breite. Darüber besteht ein großer Konsens, und es gibt einen munteren Austausch zwischen den Landeskirchen wie zwischen einzelnen Regionen. Das Stichwort vom Wachsen gegen den Trend benutze ich persönlich nicht, weil es gerade in Ostdeutschland mit seinen weitergehenden Abbruchprozessen den ehren- und hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeitern ein Ziel setzt, das sie schlechterdings nicht erreichen können. Wir müssen vielmehr die laufenden Verkleinerungsprozesse mit unseren Gemeinden gestalten und dafür auch geistliche Wege finden, auf denen das Erreichbare auch positiv gewürdigt wird. Es gibt eine Art von protestantischer Miesepetrigkeit, die wir durch eine Kultur der Anerkennung ersetzen sollten. Ich sehe hier durchaus Anzeichen für einen Mentalitätswandel, der sich allerdings nicht in einigen wenigen Jahren bewerkstelligen lässt. Es braucht den produktiven Wettbewerb unter Christen und auch unter Kirchen. Für die Bewältigung der drängenden Aufgaben, die sich in dem Dreieck „Gerechtigkeit – Frieden – Bewahrung der Schöpfung“ ausmachen lassen, hat niemand ein Patentrezept.