Runder Tisch Heimkinder hat Arbeit aufgenommen

Berlin (epd). Der Runde Tisch zur Aufarbeitung des Schicksals von Heimkindern der 50er und 60er Jahre hat seine Arbeit aufgenommen. Es gehe um Entschuldigungen und die Frage, ob eine Entschädigung der Betroffenen möglich sei, sagte die Vorsitzende Antje Vollmer (Grüne) bei der Eröffnungssitzung am Dienstag in Berlin.

"Wir werden alles prüfen und nichts garantieren", betonte Vollmer. Der Runde Tisch, an dem ehemalige Heimkinder, Vertreter von Bund, Ländern, Kirchen und aus der Jugendhilfe teilnehmen, will zuerst die Betroffenen anhören. Dann sollen die Institutionen zu Wort kommen, die damals die Träger der Heime waren. Dazu gehören in erster Linie die beiden großen Kirchen. Schließlich sollen die rechtlichen Verantwortlichkeiten geklärt und mit Hilfe von Wissenschaftlern eine zeitgeschichtliche Einordnung vorgenommen werden, erläuterte Vollmer.

In einem Jahr will der Runde Tisch, der alle zwei Monate für je zwei Tage zusammenkommen will, einen Zwischenbericht vorlegen. Ende 2010 soll die Arbeit beendet werden. "Mein Ziel ist es, zu einem Konsens zwischen allen Beteiligten zu kommen", sagte die Vorsitzende und ehemalige Vizepräsidentin des Bundestags.

Zu Beginn der Sitzung schilderten drei ehemalige Heimkinder ihre Schicksale und forderten eine finanzielle Entschädigung. Viele von ihnen seien in den Heimen zur Arbeit gezwungen worden, ohne Lohn zu erhalten. Die Heime hätten auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.

Die Vertreter der Verbände und Kirchen drückten ihr Bedauern und Mitgefühl aus. Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sagte der Vizepräsident des Kirchenamtes, Hans Ulrich Anke, die EKD habe ein hohes Interesse an Aufklärung und der Aufarbeitung des Themas und hoffe, das der Runde Tisch ein Zeichen der Versöhnung setzen könne. Alle Kirchenvertreter sowie Caritas und Diakonie zeigten Bereitschaft, Akten aus der damaligen Zeit zur Verfügung zu stellen.

Es bestehe großes Interesse daran, das Ausmaß der Misshandlungen der Heimkinder festzustellen und zu klären, ob sie in Verbindung mit pädagogischen Konzepten gestanden hätten, sagte Johannes Stücker-Brüning von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Die Bischofskonferenz werde sich ergebnisoffen am Runden Tisch beteiligen.

In Waisen- und Fürsorgeheimen waren in den 50er und 60er Jahren Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen untergebracht. Die Gründe für ihre Einweisung waren oft nichtig, wie etwa Schulschwänzen oder Aufmüpfigkeit. Vielfach wurden sie geschlagen, zur Arbeit gezwungen und sexuell misshandelt. Häufig erhielten sie keine Schulbildung. Die Opfer hatten jahrzehntelang geschwiegen.

17. Februar 2009


Vom Enthüllungsbuch zum Runden Tisch für ehemalige Heimkinder - (Hintergrund)

Berlin (epd). Das Schicksal der Heimkinder im Nachkriegsdeutschland rückt im Februar 2006 mit einem Paukenschlag ins öffentliche Bewusstsein: "Spiegel"-Autor Peter Wensierski veröffentlicht sein Buch "Schläge im Namen des Herrn". Er gibt den Opfern eine Stimme und thematisiert das Los von mehr als einer halben Million Kindern in staatlichen und kirchlichen Heimen. Seine Recherchen belegen: Bis in die 70er Jahre hinein wurden die Insassen westdeutscher Waisen- und Fürsorgeheime oft seelisch und körperlich misshandelt sowie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.

Wensierski spricht vom "größten Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde". Viele Jugendliche seien "geschlagen, erniedrigt und eingesperrt" worden, berichtet Wensierski. Ein Schicksal, das Hunderttausende Menschen betreffe, die heute zwischen 40 und 68 Jahre alt seien. Viele, so der Autor, leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham - selbst gegenüber Angehörigen.

Die Vorwürfe und das breite Echo in den Medien schrecken die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas auf. Sie sind als Träger von Einrichtungen in das dunkle Kapitel der Nachkriegsgeschichte verstrickt und bis dahin kaum als Aufklärer in eigener Sache in Erscheinung getreten. Schwer lasten auf ihnen die Vorwürfe, Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, hätten in den Heimen mit aller Härte agiert.

Rasch setzt ein Umdenken ein: Die Träger der Heime beschäftigen sich selbstkritisch mit dem Thema, heutige Heimleiter entschuldigen sich bei den Opfern. Im März 2006 sagt der damalige Diakonie-Chef Jürgen Gohde: "Wir wollen nichts beschönigen, verharmlosen oder ungeschehen machen." Zugleich kündigt er eine unabhängige Studie an, in der die Diakonie die Missstände in Kinderheimen der Nachkriegszeit untersuchen lässt. Auch sein Nachfolger Klaus-Dieter Kottnik zeigt sich betroffen: Es tue ihm "unendlich leid", dass Kinder ihre Zeit im Heim als Leidenszeit erlebt hätten, sagt er im September 2008.

Im Mai 2006 beantragt die SPD-Bundestagsfraktion im Petitionsausschuss eine Anhörung ehemaliger Heimkinder. Am 11. Dezember berichten neun Opfer im Ausschuss nichtöffentlich über ihre schlimmen Erfahrungen in Erziehungsanstalten. Mit einer Petition im Bundestag will der Verein der ehemaligen Heimkinder erreichen, dass die Betroffenen als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt und entschädigt werden.

Der Petitionsausschuss des Bundestages verabschiedet im November 2008 mit den Stimmen aller Fraktionen eine Empfehlung, wonach die Bundesregierung einen Runden Tisch zur Aufarbeitung des Leids der Heimkinder einrichten soll. Der Bundestag stimmt am 4. Dezember zu. Vorsitzende des Gremiums wird die frühere Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer (Grüne). Dem Runden Tisch gehören Vertreter des Vereins der früheren Heimkinder, kirchlicher und nichtkirchlicher Heimträger, der Länder sowie Experten an. Das Gremium soll auch klären, ob und wie frühere Heimkinder entschädigt werden können. Die Auftaktsitzung findet am 17. Februar 2009 statt. Ein Abschlussbericht ist für 2010 geplant.

17. Februar 2009