Blüm verteidigt Sonntagsruhe

Frankfurt a.M. (epd). Der langjährige Bundesminister und CDU-Politiker Norbert Blüm hat die Sonntagsruhe gegen die Ausweitung der Ladenöffnung verteidigt. "Wenn ein Tag wie der andere ist und nur noch Geld und Geschäfte zählen, bewegen wir uns wieder in die Nähe unserer Vorfahren, die noch nicht Menschen waren", schreibt Blüm in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Dienstagsausgabe). Hinter der Ausweitung von Öffnungszeiten und Sonntagsarbeit sieht der frühere Sozialminister einen Versuch "zur Planierung der Gesellschaft", die eine Form von Enthumanisierung sei.

Mit dem Bestreben, kein Geschäft zu verpassen, sei der "neoliberale Imperialismus" dabei, alles zu verwirtschaften einschließlich Sonn- und Festtagen, rügt Blüm. Argumenten, wonach jeder seine "Auszeiten" individuell festlegen und seinen Sonntag selber wählen könnte, hält der Unionspolitiker entgegen, dahinter stecke ein Begriff von Freiheit ohne Bindung. Der Mensch sei jedoch kein Einzelgänger, sondern auf Gemeinschaft mit Ordnungen, Sitten und Traditionen angewiesen. "Wenn jeder selbst bestimmt, wann sein Weihnachten ist, gibt es kein Weihnachten mehr."

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juni über die Klagen der beiden großen Kirchen gegen das Ladenöffnungsgesetz des Landes Berlin verhandelt. Aus Sicht der Kirchen ist die Berliner Regelung, wonach Geschäfte an zehn Sonntagen im Jahr einschließlich der vier Adventssonntage öffnen dürfen, verfassungswidrig. Sie verweisen auf Artikel 4 des Grundgesetzes, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit ebenso garantiert wie die ungestörte Religionsausübung. Zudem berufen sie sich auf den besonderen Schutz von Sonn- und Feiertagen in Artikel 140 des Grundgesetzes. Ein Urteil wird für den Herbst erwartet.

Der Sonntag sei nicht nur ein arbeitsfreier Tag, argumentiert Blüm. Ohne seine Eigenart gehe er im "Strom der Zeit und des Lebens" unter: "Wenn alles flexibilisiert wird, löst sich vieles auf." Der Christdemokrat erinnert an die biblischen Ursprünge der Sonntagsruhe. Dabei gehe es nicht nur um die Schonung der Arbeitskraft, sondern auch um den Schutz des menschlichen Wesens.

11. August 2009


Der Beitrag von Norbert Blüm im Wortlaut:

Fremde Federn: Norbert Blüm

Sonntagsruhe

Am siebten Tage ruhte Gott, so steht es im Schöpfungsbericht. Auf sechs Werktage folgte ein Sonntag. Das ist der biblische Arbeitsschutz. Bei diesem Schutz geht es allerdings nicht nur um die Schonung der Arbeitskraft, sondern um den Schutz der Natur des Menschen, jedenfalls seines Wesens. Der Mensch ist nämlich kein Arbeitstier, das sich lediglich durch höhere Intelligenz von den übrigen Lebewesen unterscheidet. Kein Tier kennt einen Sonntag. Es lebt so vor sich hin. Erst der Mensch gliedert seine Zeit, so wie das sein erster Arbeitgeber, nämlich Gott, ihm vorgemacht hat.

Es zeichnet alle Kulturen aus, dass die Menschen ihren Alltag in Fest- und Arbeitstage teilen. Mit selbstgewählten Intervallen verschaffen sie dem Leben einen humanen Rhythmus. Aus der Tretmühle herausgehen und die Welt mit immer neuen Augen sehen hat die Kreativität, den schöpferischen Einfallsreichtum befördert. Die Muße ist die Mutter der Innovation.

Man könnte die "Auszeiten" auch individuell festlegen und jeden sich seinen Sonntag selber aussuchen lassen. So wollen die Individualisten die Gesellschaft ordnen und meinen damit, das sei Freiheit. Es ist die Freiheit ohne jede Bindung, die auch Verschrobene für die höchste Form der Freiheit halten.

Der Mensch ist jedoch kein Einzelgänger, sondern auf Gemeinschaft angewiesen. Diese kommt nicht ohne Ordnungen, Sitten und Traditionen aus. Auch "Zeit" ist als Verhaltensorientierung kein Zeitbrei, sondern gegliedert. Sie ordnet nicht nur individuelles Verhalten, sondern auch soziales. Wenn jeder nur seine eigene Zeitordnung hätte, könnten wir zum Beispiel keine Fahrpläne vereinbaren. Wenn jeder selbst bestimmt, wann sein Weihnachten ist, gibt es kein Weihnachten mehr. Die Zeit ist eine soziale Ordnungsmacht.

Der Sonntag ist nicht nur ein arbeitsfreier Tag, sondern auch sonst anders als die übrigen Tage. Ohne seine Eigenart verliert er seine Existenzberechtigung, geht er im Strom der Zeit und des Lebens unter. Wenn alles flexibilisiert wird, löst sich vieles auf. Familien können sich dann nur noch im Vorbeigehen treffen.

Im Krampf, kein Geschäft zu verpassen, ist der neoliberale Imperialismus dabei, alles zu verwirtschaften; Sonn- und Festtage inklusive. Das ist ein versteckter Versuch zur Planierung der Gesellschaft, die eine Variante der Enthumanisierung ist.

Wahrscheinlich ist der Mensch zuerst "Homo Ludens" gewesen, bevor er "Homo Faber" werden konnte. Mensch wurde er nämlich nicht erst, indem er Bauwerke erstellte. Das besorgen Termiten, Ameisen und Bienen zum Teil kunstvoller. Mensch wurde er, indem er sprechen lernte, Lieder sang und nach Gott Ausschau hielt. Sein Überschuss an Emotionen und Phantasien drängte ihn aus der Reihe der Tierwelt. Seine Gefühle musste der Mensch bändigen, um überleben zu können.

Dafür musste er sich selber Regeln schaffen und Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen. Die Werkzeuge, mit denen er die Natur bearbeitete, kamen später. Den Faustkeil für das Erkennungszeichen des Menschen zu halten ist eine archäologische Falle. Seine Lieder konnten dem Menschen im Unterschied zum Beil nicht mit ins Grab gelegt werden. Aus solchen Funden zu schließen, die "Kunst" komme nach der "Arbeit", ist ein Fehlschluss. Der Sonntag ist ein Kunstgebilde, das die Fessel der Natur, an die der Mensch gebunden ist, lockert.

Der "Homo Faber" ist eine Spätgeburt der Menschheitsentwicklung und der "Homo Oeconomicus" eine neuzeitliche Degenerationserscheinung, deren Eltern Kapitalismus und Sozialismus sind.

Der Angriff auf den Sonntag ist also mehr als nur eine Zeitverwendungsfrage. Wenn ein Tag wie der andere ist und nur noch Geld und Geschäfte zählen, begeben wir uns wieder in die Nähe unserer Vorfahren, die noch nicht Mensch waren.

Dass die Geschäfte in der Adventszeit an keinem Tag mehr geschlossen sein sollen, ist ein Vorschlag, der verblendeter nicht sein könnte. Warum sollte ein Käufer, der an sechs Tagen in der Woche kein Weihnachtsgeschenk kaufen konnte, es ausgerechnet nur am siebten Tag können? Versucht nicht, die Leute für dumm zu verkaufen.

Der Verfasser war Mitglied des Bundestages (CDU) und von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Quelle: FAZ vom 11. August 2009