Erdogan geht auf Christen zu

Treffen mit Vertretern religiöser Minderheiten in der Türkei

Von Rainer Clos (epd)

Frankfurt a.M./Istanbul (epd). Das Datum war nicht frei von Symbolik: Zum christlichen Feiertag Mariä Himmelfahrt am Samstag erging an Repräsentanten der religiösen Minderheiten in der Türkei eine Einladung zum Mittagessen. Der 15. August markiert zugleich den 25. Jahrestag des Kurdenaufstandes. Dass das Arbeitsessen im Club Anadolu auf der populären Prinzeninsel vor Istanbul in den türkischen Medien am Wochenende aufmerksam registriert wurde, lag am Kreis der Teilnehmer: Neben den kirchlichen Würdenträgern fand sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayipp Erdogan begleitet von fünf Ministern und hohen Regierungsbeamten am Tisch.

Zu den Teilnehmern aufseiten der Religionsgemeinschaften gehörten Patriarch Bartholomaios I., Ehrenoberhaupt der orthodoxen Christenheit, der armenisch-apostolische Erzbischof Aram Atesyan, der syrisch-orthodoxe Metropolit Yusuf Cetin, sowie der jüdische Oberrabbiner Ishak Haleva. Türkische Zeitungen stellten einen Bezug zwischen dem Treffen des Regierungschefs mit den nichtmuslimischen Religionsvertretern und der neuen Demokratisierungsoffensive der Regierung her. Parallel fand am Jahrestag des Kurdenaufstandes eine Treffen von Innenminister Besir Atalay mit Vertretern von nichtstaatlichen Organisationen statt.

Eingeleitet wurde die Begegnung, zu der lediglich zwei regierungsnahe Journalisten zugelassen waren, mit den Religionsvertretern von der Anwältin Kezban Habemi, die für die Minderheitenrechte eintritt. Unter anderem vertrat sie die Familie des 2007 ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink. In seiner Tischrede erläuterte Erdogan, ein frommer Muslim, abermals die Grundlinien seiner Öffnungspolitik. Er verurteilte jede Form von ethnischem und religiösem Nationalismus und versicherte, seine Regierung trete für gleichen Abstand zu allen Religionsgemeinschaften ein. Defizite bei der Umsetzung dieser Linie müssten überwunden werden. Die demokratischen Reformen seien auf eine breite Unterstützung in der gesamten Gesellschaft angewiesen.

Religionsfreiheit gilt als einer der Prüfsteine bei den Reformen, die die Europäische Union im Rahmen der Beitrittsverhandlungen fordert. Dabei habe es gewisse Fortschritte gegeben, registrierte die EU-Kommission im vergangenen November in ihrem jährlichen Fortschrittsbericht.

In Begleitung von Patriarch Bartholomaios I, besuchte der Regierungschef nach dem Arbeitsessen das orthodoxe Georgskloster und ein orthodoxes Waisenhaus. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte im vergangenen Jahr die Türkei zur Rückgabe des Geländes verurteilt, das sich seit 1902 im Besitz der orthodoxen Kirche befindet. Bartholomaios habe Erdogan über die Pläne für die künftige Nutzung des Areals informiert, sagte ein Sprecher des Patriarchats dem epd.

In einem Gespräch unter vier Augen erörterten Bartholomaios und der Ministerpräsident, die sich zuletzt 2006 begegnet waren, auch die Situation des orthodoxen Priesterseminars auf der Insel Chalki, das vom türkischen Staat 1971 geschlossen worden war. Die Wiedereröffnung der Ausbildungsstätte für orthodoxe Geistliche gehört zu den Forderungen der Europäischen Union an die Türkei. Bei einem Türkei-Besuch im Frühjahr hatte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, das Priesterseminar Chalki als "Ort von hoher Symbolkraft" bezeichnet.

Eine offizielle Stellungnahme Erdogans dazu gab es nicht. Der Ministerpräsident sei für eine mögliche Lösung offen. Es gebe Bewegung, hieß es aus dem Patriarchat. Dort wurde der Meinungsaustausch des orthodoxen Patriarchen mit Erdogan positiv bewertet. Westliche Beobachter warnten vor übertriebenen Erwartungen. Die Begegnung sei ein erfreuliches Signal. Allerdings müssten den Worten des Regierungschefs auch konkrete Taten folgen, hieß es.

Die mehr als 70 Millionen Einwohnern der Türkei sind ganz überwiegend Muslime. Daneben leben nach inoffiziellen Schätzungen in der Türkei 60.000 armenische Christen, 23.000 Juden, 15.000 Syrisch-Orthodoxe, 10.000 Bahai, rund 3.000 griechisch-orthodoxe Christen, etwa 2.000 Jeziden, sowie 2.500 Protestanten und Katholiken.

17. August 2009