Bischof Huber ruft zur Teilnahme an der Bundestagswahl auf

Baden-Baden (epd). Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat die Bundesbürger zur Stimmabgabe bei der Bundestagswahl am Sonntag aufgerufen. Wählen sei eine Christenpflicht, sagte der Berliner Bischof am Samstag im Südwestrundfunk (SWR). Eine Wahlempfehlung an evangelische Christen zugunsten einer bestimmten Partei lehnte Huber jedoch ab. Zur Mündigkeit von Christen gehöre es, die Konzepte der Parteien kritisch zu prüfen. Dabei sei auch darauf zu achten, ob die Parteien ihre Versprechen einhielten.

Ein wichtiges Kriterium für die Wahlentscheidung sei die Nachhaltigkeit, sagte Huber. Politik, Gesellschaft und Kirchen müssten "unseren Kindern und Enkeln eine zukunftsfähige Gesellschaft hinterlassen". Dazu gehöre auch das Bemühen um mehr soziale Gerechtigkeit. Nach der Wirtschaftskrise müsse die soziale Marktwirtschaft so weiterentwickelt werden, dass sich als "gerechtigkeitsfähig" erweise.

Zu den wichtigen Aufgaben des neuen Bundestages zählt der Berliner Bischof das Miteinander der Generationen, die Bildung, die Gerechtigkeits-Verantwortung im eigenen Land und weltweit, sowie den Klimaschutz. Diese großen Herausforderungen könnten nicht nur mit technischen und politischen Lösungen beantwortet werden. Sie setzten auch einen gesellschaftlichen Dialog über das Bild von menschlichem Zusammenleben voraus.

Der EKD-Ratsvorsitzende Huber unterstrich, dass die Demokratie für die evangelische Kirche die einzig denkbare Staatsform sei. Dem christlichen Bild vom Menschen stehe sie am nächsten und korrigiere Fehler im Wechsel von Regierung und Opposition, mit der Kontrolle der Macht und der Unabhängigkeit der Gerichte.

26. September 2009


Das Interview im Wortlaut:

Interview der Woche mit Bischof Wolfgang Huber

SWR: Bischof Wolfgang Huber, am Sonntag sind rund 62 Millionen Bürger zur Bundestagswahl aufgerufen. Zur Europawahl Anfang Juni haben auch evangelische Kirchen zur Stimmabgabe aufgerufen, was aber bezogen auf die konkrete Beteiligung offenbar wenig genutzt hat. Ist Wählen plötzlich eine neue Christenpflicht?

W. H.: Wählen war schon immer eine neue Christenpflicht. Wir haben das schon in unserer Demokratie-Denkschrift vor 25 Jahren gesagt: Die Kirchen zusammen haben es vor drei Jahren in ihrem Text ‚Demokratie braucht Tugenden‘ deutlich unterstrichen, dass es eine Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger dafür gibt, ihre Wahlmöglichkeit auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Es ist bedauerlich, dass das nicht bei allen Wahlen passiert. Es gibt große Unterschiede zwischen Kommunalwahlen, Landtagswahlen, Bundestagswahlen. Die Europawahlen sind bedauerlicherweise besonders abgefallen. Aber bei der Bundestagswahl bin ich sicher, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher sein wird.

SWR: Die katholische Kirche hat früher in Hirtenbriefen die Gläubigen gezielt aufgerufen, nur die Parteien mit dem berühmten "C" im Namen zu wählen. Ist aus Ihrer Sicht jede Partei hierzulande für evangelische Menschen wählbar?

W. H.: Es gibt für evangelische Christen keine Verpflichtung auf eine bestimmte Partei, aber sehr wohl auf eine kritische Prüfung dessen, was die politischen Parteien vorhaben. Und auch eine kritische Prüfung, ob sie auch einhalten was sie versprechen. Aber die Entscheidung des Einzelnen wird nicht durch bischöfliche Hirtenworte in der evangelischen Kirche vorweggenommen. Sondern die Mündigkeit der Christen wird in Anspruch genommen, zu prüfen und dann zu entscheiden, was sie für das Beste halten.

SWR: Welche Entscheidungskriterien empfehlen Sie denn den Wählenden?

W. H.: Ich empfehle ganz besonders das Entscheidungskriterium der Nachhaltigkeit. Also nicht nur an die nächsten vier Jahre denken, sondern die Frage stellen: Was müssen wir heute tun damit wir auch unseren Kindern und Enkeln eine zukunftsfähige Gesellschaft hinterlassen? Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass Frieden und Menschenrechte auch heute wichtige Kriterien bleiben. Es ist ganz deutlich, dass wir uns in der Gesellschaft um mehr Gerechtigkeit bemühen müssen und die soziale Marktwirtschaft so aufnehmen und weiterentwickeln, dass sie nach der Krise, die wir gegenwärtig durchleben, sich tatsächlich als gerechtigkeitsfähig erweist.

SWR: Inzwischen wird die Zahl derer die generell ihre Stimme verweigern größer. Sehen sie entweder nicht was sie mit ihrem Kreuz auf dem Wahlzettel noch anrichten können, oder haben die Menschen Schwierigkeiten sich zu entscheiden, weil vor allem die großen oder bekannteren Parteien in ihrem Profil bei allen Unterschieden doch sehr ähnlich geworden sind?

W. H.: In manchen Hinsichten sind die Parteien ähnlicher geworden. Ähnlich sind sie aber vor allem darin, dass ihr Handeln von einem hohen Maß von Unsicherheit geprägt ist. Wir haben das in der Wirtschaftskrise erlebt, dass große Räder in Bewegung gesetzt worden sind, Milliardenbeträge bewegt worden sind. Niemand weiß, wann das tatsächlich Folgen hat und was es bewirkt. Niemand weiß im Übrigen auch, wie die gewaltigen Schulden die dadurch aufgehäuft werden, wie diese Schulden eines Tages abgetragen werden sollen. Ich glaube, diese Dimension der Ungewissheit macht viele Menschen zurückhaltend, der einen oder der anderen Partei ihre Stimme zu geben.

SWR: Sehen Sie, Herr Ratsvorsitzender, wie manche Experten auch, die Gefahr einer zunehmenden Politik-Verdrossenheit oder sogar Demokratiemüdigkeit. Und wenn ja, worin liegen für Sie die Ursachen?

W. H.: Politik-Verdrossenheit ist kein neues Phänomen. Ich glaube, die letzten Monate haben eher manchen Menschen auch wieder neuen Respekt vor der Politik nahegelegt. Man muss auch sagen, dass die Art und Weise in der gerade in Deutschland sowohl Regierung als auch Parlament auf die Krise reagiert haben, beeindruckend waren, in dem Einsatz der gezeigt wurde. In dem Mut, der auch zum Ausdruck gekommen ist. Ich bedauere außerordentlich, dass in den letzten Monaten das überdeckt worden ist. Von einer Wahlkampfatmosphäre, bei der man den Eindruck hatte, dass wahlpolitische Punkte und Vorteile als wichtiger angesehen wurden als die Bewahrung der Menschen von drohender Arbeitslosigkeit und anderen Auswirkungen der Wirtschaftskrise. So etwas nagt an der Glaubwürdigkeit der Politik und führt dann dazu, dass in einer Situation, in der wir an sich die Chance, hatten Politik-Verdrossenheit zu überwinden, diese Politik-Verdrossenheit dann doch wiederkehrt.

SWR: Ist die Demokratie für die evangelische Kirche die einzig denkbare Staatsform?

W. H.: Die Demokratie ist für die evangelische Kirche vollkommen klar die einzig denkbare Staatsform. Das sagen wir, obwohl wir wissen, dass in früheren Phasen der Geschichte Christen sich auch zu anderen Staatsformen bekannt haben. Wir sagen mit großer Klarheit, dass die Demokratie diejenige Staatsform ist, die dem christlichen Bild vom Menschen am nächsten steht. Und zwar nicht nur darin, dass dieser Mensch zur Freiheit berufen ist, sondern auch darin, dass dieser Mensch fehlsam ist und Fehler macht. Wir brauchen deswegen wieder eine Staatsform, die Fehler auch wieder korrigiert im Wechsel von Regierung und Opposition. In der Kontrolle der Machtausübung, in der Unabhängigkeit der Gerichte. Also gerade in der Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat.

SWR: Bischof Huber, mir fällt auf, dass bekannte evangelische Christenmenschen jüngst vermehrt nicht nur zur Beteiligung an Wahlen aufriefen, sondern auch fordern, dass sich Gläubige verstärkt selbst in der Politik engagieren. Ist es Aufgabe der Kirchen, für den politischen Nachwuchs der Parteien zu sorgen?

W. H.: Es geht nicht um den politischen Nachwuchs der Parteien, sondern es geht um den politischen Nachwuchs der Demokratie. Wenn wir als evangelische Kirche sagen, jeder Christ hat den Beruf zur Politik. Und zwar als Bürger, wie auch als derjenige, der bereit ist, Mandate zu übernehmen, dann machen wir den engen Zusammenhang zwischen christlicher Verantwortung und politischer Beteiligung deutlich. Und das Mitwirken in politischen Parteien, die Bereitschaft zur Übernahme politischer Mandate ist eine der Formen, aktiv am politischen Geschick des eigenen Landes teilzunehmen.

SWR: Viele Menschen wundern sich heutzutage, nicht zuletzt wegen der Trennung von Staat und Kirche, wenn die Kirchen Forderungen an die Politik richten. Etwa wenn es um Hartz IV geht oder um Bildung an den Schulen. Mit welchem Recht mischen Sie sich als oberster Repräsentant der evangelischen Kirche in Deutschland immer wieder in die politische Debatte ein? Vor allem um eigene Interessen zu wahren beziehungsweise für ihn nahestehende Gruppen Lobbyarbeit zu betreiben?

W. H.: Da muss man ganz von vorne anfangen. Die Formel von der Trennung zwischen Staat und Kirche ist keine besonders glückliche Beschreibung der wechselseitigen Unabhängigkeit von Kirche und Staat. Die ist nämlich so geartet, dass trotzdem die öffentliche Verantwortung der Kirchen anerkannt wird. Und anerkannt wird, dass Religion nicht nur eine Privatsache ist, sondern dass sie auch öffentliche Dimensionen hat. Wir haben die Aufgabe der Kirche nie dahin gehend verstanden, dass die Kirche ein politischer Akteur neben anderen Akteuren ist. Wir haben immer gesagt, die Aufgabe der Kirche ist nicht Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen. Wir haben uns immer darum bemüht, die Grunddimension politischen Handelns, die Tiefendimension, um die es bei den politischen Fragen geht, herauszuarbeiten. Und daraus dann im einen oder anderen Fall auch ganz praktische Konsequenzen zu ziehen. Dann und wann gibt es auch einmal eine Situation, in der die Kirche beherzt im eigenen Namen und Interesse etwas fordern muss. Aber schon wenn Sie das Thema Religionsunterricht anschauen, dann geht es nicht darum, dass die Kirche dabei eine bestimmte Stellung verteidigen will, sondern dass sie ihrer Verantwortung gerecht werden will. Die darin liegt, dass Religion ein wichtiges Thema von Bildung ist. Dass aber der Staat angesichts der Religionsfreiheit dafür nicht selber die inhaltliche Verantwortung übernehmen kann, sondern die Kirchen hier eintreten müssen und ihrer Verantwortung gerecht werden müssen. Also schon beim Thema Religionsunterricht, das uns lange beschäftigt hat, geht es nicht um ein kirchliches Sonderinteresse. Nehmen Sie das andere Beispiel, dass uns auch in letzter Zeit intensiv beschäftigt hat, das Thema des Sonntagsschutzes. Auch da will nicht die Kirche sozusagen ein eigenes Privileg verteidigen, sondern sie tritt ein für ein wichtiges Element unserer Sozialkultur. Für ein hohes Verfassungsgut, nämlich den Schutz der Sonn-und Feiertage im Interesse der Gesellschaft im Ganzen.

SWR: Welche Aufgaben sehen Sie für den neuen Bundestag? Unabhängig von der Tagespolitik und dem genauen Ausgang der Wahl. Oder fragen wir genereller, welchen Beitrag hat die Politik in unserem Staat zu leisten? Welchen die Bevölkerung und welchen die Kirchen?

W. H.: Das wirkt ineinander. Wir brauchen eine Politik, die die Zivilgesellschaft dazu ermutigt, selber auch aktiv zu werden. Und die großen Wertedebatten unserer Gesellschaft mitzuführen. Wir brauchen eine Zivilgesellschaft auf der anderen Seite, die auch tatsächlich den Anspruch, hat Politik zu beeinflussen. Und wir brauchen eine Kirche, die mehr sein will als nur eine Bundesagentur für Werte, nämlich die Wahrheit des christlichen Glaubens verkündigt. Und von daher auch in Gesellschaft und Staat einwirkt. Und das angesichts einer Situation, in der wir ohne jeden Zweifel vor ganz großen Herausforderungen stehen. Das Miteinander der Generationen angesichts des demographischen Wandels. Die Bildungsaufgabe in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft. Die Gerechtigkeitsverantwortung angesichts wachsender Gegensätze zwischen Arm und Reich in unserem eigenen Land und weltweit. Die Zukunftsverantwortung angesichts des Klimawandels. Das sind vier Beispiele für die großen Herausforderungen, die nicht nur mit technischen, politischen Lösungen beantwortet werden können, sondern um deren Willen wir einen großen gesellschaftlichen Dialog brauchen über das Bild von Gesellschaft, über das Bild von menschlichem Zusammenleben, mit dem wir in die Zukunft gehen wollen. Das steht jetzt an. Ich hoffe, diese Aufgabe wird auch angepackt.

Quelle: SWR vom 26. September 2009