Ein Jahr nach dem Amoklauf in Winnenden helfen Seelsorger bei der Trauma-Verarbeitung

Von Tanja Tricarico (epd)

Winnenden (epd). Nach dem Sommer haben sie nicht mehr geweint. Sie gehen in die Schule, treffen Freunde, gehen feiern am Wochenende. Für Patrick und Robert (Namen geändert) ist der Alltag zurückgekehrt. Doch in der Nacht kommen die Bilder, und der Hall der Schüsse setzt sich in ihren Köpfen fest. Wieder und wieder.

Am 11. März 2009 saßen Patrick und Robert im Klassenzimmer nebenan, als Tim K. mit geladener Waffe die Albertville-Realschule stürmte. Während der Lehrer Matheformeln erklärte, hörten sie die ersten Schüsse. Erst viele Stunden später begriffen die beiden 16-Jährigen, was an ihrer Schule geschehen war.

Patrick und Robert kommen regelmäßig in den Jugendtreff des "Christlichen Vereins Junger Menschen" (CVJM) in Winnenden. Der Amoklauf ist immer wieder Thema. Ob Waffengesetze, ein Verbot von Computerspielen oder die neue Schulgemeinde an der Albertville-Realschule - Jugendreferentin Nadescha Arnold diskutiert viel mit den jungen Leuten.

Manchmal gibt es Tränen, dann ist sie da. "Manche wollen reden, um ihre Ängste und Trauer zu verarbeiten, manche lenken sich beim Tischkickerspielen ab", sagt Arnold. "Wir zwingen niemandem eine Betreuung auf." Vor einem Jahr war Arnold gemeinsam mit einem Dutzend freiwilliger Helfer beinahe rund um die Uhr im Jugendtreff "Torhäusle" in der Winnender Innenstadt als Ansprechpartnerin im Einsatz.

Der CVJM wollte dort nach dem Amoklauf einen Ort nur für die Jugendlichen schaffen. Ohne Polizei, ohne Presse. Damals haben die Schüler ein Transparent mit einem schwarzen Kreuz an der Hauswand befestigt. Im Sommer war die schwarze Farbe bunten Blumen und Sprüchen gewichen.

Das Transparent ist längst abgehängt, vieles ist jetzt anders im CVJM. "Wir und die Jugendlichen sind achtsamer geworden", sagt Arnold. "Wenn jemand sich zurückzieht oder bei Gemeinschaftsaktivitäten nicht mehr mitmachen will, sprechen wir ihn an."

Am Tag des Amoklaufs koordinierte Eberhard Gröner nur wenige Kilometer entfernt den Einsatz von rund 140 Helfern. Der evangelische Dekan und Vorsitzende des Arbeitskreises Notfallseelsorge schickte Seelsorger und Notfallnachsorger nach Winnenden und Wendlingen am Neckar, organisierte Gottesdienste und Trauerfeiern.

"Zwei Wochen befanden wir uns im Ausnahmezustand", sagt Gröner. Verstörte und verunsicherte Eltern, Schüler, Lehrer betreute Gröner, aber auch Notärzte oder Rettungskräfte. Die Notfallseelsorge sprach mit den Helfern, wenn der Dienst beendet war und die Bilder von weinenden Schülern sie nicht zur Ruhe kommen ließen.

Annette Kull, Notfallnachsorgerin beim Deutschen Roten Kreuz, gehörte mit zu den ersten Einsatzkräften. Sie unterrichtete gerade Religion in Stuttgart, als sie nach Winnenden geschickt wurde. "Zu Beginn konnten wir die Situation nicht einschätzen", sagt Kull. Die Betroffenen brauchten Trost, die Presse belagerte die Helfer. Zeitweise gab es keinen Handy- oder Internetempfang, was die Arbeit enorm erschwerte.

Kulls Blick geht ins Leere, verliert sich, wenn sie sich zurück erinnert. Sie hat Todesnachrichten an die Eltern überbracht und sich im Notfallzentrum in der Schwab-Halle stundenlang die Erlebnisse von Schülern und Lehrern angehört.

Sie war schon oft bei Unfällen oder Katastrophen im Einsatz. In Winnenden kam auch Kull an ihre Grenzen. Jeden Abend hat sie mit einer Vertrauensperson gesprochen, um zu verarbeiten, was sie gesehen und gehört hat. Kurz vor dem Jahrestag kommen die Bilder zurück.

"Wir sind schlecht aufgestellt, was die Nachsorge angeht", sagt Dekan Gröner. "Wir können nur wenig tun, um einer Traumatisierung in späteren Zeiten zu begegnen." Sozialarbeiter, Psychologen oder kirchliche Mitarbeiter müssten sich viel stärker vernetzen. Seit dem "Fall Winnenden" sprechen sich Landkreise und Einrichtungen in Krisen jedoch besser ab und bündeln ihre Einsätze. "Alle Helfer haben menschlich hervorragende Arbeit geleistet", sagt Gröner. "Doch aus der Gesellschaft gibt es nur wenig Anerkennung für diese Arbeit."

Die Bilder aus Winnenden verblassen, vergessen wird sie keiner. Wenn sich der Amoklauf zum ersten Mal jährt, wollen der CVJM und die umliegenden Gemeinden Gottesdienste feiern und an die Opfer erinnern. Weder Arnold noch Gröner wünschen sich eine Inszenierung des Gedenktags durch Politik, Kirche oder Presse. "Winnenden darf nicht die Stadt des Amoks bleiben", sagen beide. "Winnenden soll Zeichen für eine achtsamere Gesellschaft werden."

03. März 2010