Präses Schneider: Kindesmissbrauch betrifft ganze Gesellschaft

Bonn (epd). Der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, hält Kindesmissbrauch für ein Problem der gesamten Gesellschaft. Das werde immer deutlicher, auch wenn der "Fokus der öffentlichen Wahrnehmung in erster Linie auf der katholischen Kirche" liege, schreibt der rheinische Präses in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" (Ausgabe vom 1. April).

"Die zahlreichen Aufdeckungen abscheulichen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen schockieren. Es ist beschämend, dass viele der publizierten Vorfälle in kirchlichen Einrichtungen spielten", schreibt Schneider. Es stehe zu hoffen, dass der Runde Tisch der Bundesregierung das Problem ehrlich und offen und besonders unter dem Blickwinkel der Vorbeugung behandelt.

Angesichts der Debatte um Hartz-IV-Leistungen sieht der oberste Repräsentant der deutschen Protestanten die soziale Balance in Deutschland in Gefahr. Dass Armut von Kindern zunehme, sei ein Skandal, "mit dem wir uns nicht abfinden können".

"Skandalös ist auch, dass weiterer Druck auf Arbeitslose gefordert wird, ohne dass Beschäftigung angeboten werden könnte", schreibt Schneider. Druck auf Arbeitslose schaffe keine Arbeitsplätze. Eine wirksame soziale Strukturpolitik und ein individueller Qualifikationsmix aus Fördern und Fordern müssten synchron gehen. "Daran fehlt es bisher", kritisiert Schneider.

31. März 2010


Der Beitrag im Wortlaut:

KIRCHE HEUTE

Am Puls der Zeit

Missbrauch, Afghanistan-Krieg, Kinderarmut – gerade in düsteren Momenten muss sich die Osterbotschaft bewähren.

VON NIKOLAUS SCHNEIDER

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/ durch des Frühlings holden, belebenden Blick" – selten schienen die Sätze aus Goethes "Osterspaziergang" so gut zu passen wie in diesem Jahr. Monatelang hatten Eis und Schnee das Land fest im Griff. Aber unter dem Eis und Schnee grünte keineswegs nur "Hoffnungsglück", sondern es kam auch Düsteres zum Vorschein. Kirchen und Gesellschaft stehen unter dem Eindruck erschütternder Erkenntnisse über Kindesmissbrauch, deren Heftigkeit und Uferlosigkeit viele erschreckt haben und deren Tragweite noch nicht zu ermessen ist. Sie sehen mit Sorge, dass Afghanistan und viele andere Weltgegenden weit entfernt von Frieden und Stabilität sind. Und sie haben in den vergangenen Wochen eine Diskussion über Armut und Hartz IV erlebt, deren Zungenschlag befremdet.

Die zahlreichen Aufdeckungen abscheulichen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen schockieren. Es ist beschämend, dass viele der publizierten Vorfälle in kirchlichen Einrichtungen spielten. Doch auch wenn der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung in erster Linie auf der katholischen Kirche lag, so wird immer deutlicher, dass Kindesmissbrauch ein Problem der ganzen Gesellschaft ist. Es steht zu hoffen, dass der Runde Tisch, der noch in diesem Monat auf Initiative mehrerer Bundesministerien und unter Einbeziehung vieler gesellschaftlicher Kräfte zusammenkommen soll, das Problem ehrlich und offen und besonders unter dem Blickwinkel wirksamer Prävention behandelt.

"Nichts ist gut in Afghanistan" – Anfang des Jahres löste ein Predigtsatz Diskussionen aus. Margot Käßmann hat für diesen Satz zunächst viel Kritik, aber dann wachsende Zustimmung bekommen, denn er richtete sich niemals gegen Soldatinnen und Soldaten, die dort unter schwersten Bedingungen Dienst tun, sondern gegen eine Politik, der die klare Richtung fehlte und in der die unerlässlichen Elemente des zivilen Aufbaus ins Hintertreffen zu geraten drohten. Die Ergebnisse der Londoner Afghanistankonferenz Ende Januar mit ihrem Votum für mehr zivile Friedensarbeit haben gezeigt, dass die kirchlichen Bedenken richtig waren.

Sehr befremdet hat die Diskussion über Hartz-IV-Empfänger. Sie wurde angestoßen, nachdem das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 ein wichtiges Urteil zu diesem Thema gesprochen hatte, das dem Gesetzgeber für dieses Jahr reichliche Aufgaben beschert hat. Dem Bundesverfassungsgericht ist zu danken, denn es hat in seinem Urteil herausgestellt, dass besonders Armut von Kindern in diesem Land bisher unzureichend wahrgenommen und bekämpft wird. Die Menschen und an ihrer Seite die Kirchen sollten sehr genau beobachten, wie die Politik die Aufgaben erfüllt, die das Karlsruher Urteil ihr stellt.

Dass Armut von Kindern in unserem Lande wächst, ist ein Skandal, mit dem wir uns nicht abfinden können. Skandalös ist auch, dass weiterer Druck auf Arbeitslose gefordert wird, ohne dass Beschäftigung angeboten werden könnte. Druck auf Arbeitslose kann keine Arbeitsplätze herbeizaubern. Wirksame soziale Strukturpolitik und ein individueller Qualifikationsmix aus Fördern und Fordern müssten synchron gehen. Daran fehlt es bisher.

Das Bemühen um soziale Balance ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil der Erfolgsgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es steht etwas auf dem Spiel. Gerade die Kirchen dürfen nicht nachlassen, Regierende und Regierte zur Verantwortung zu rufen und sie dabei an "Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit" zu erinnern, wie es in der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung steht. Dort ist der Auftrag der Kirche im Bezug auf das Gemeinwesen treffend niedergelegt. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ihn in einer Schrift zur Finanz- und Wirtschaftskrise so aktualisiert: "Der Leitsatz für die kirchliche Einmischung in die Politik lautet: Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen."

Die Kirche, heißt es in der fünften Barmer These, "vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt". Durch alles Leid geht der christliche Glaube auf Ostern zu. Das ist "das unterscheidend Christliche", das der Theologe Eberhard Jüngel so formulierte: "Der christliche Glaube ist diejenige menschliche Einstellung zu Gott, in der sich der Mensch darauf verlässt, dass Gott Mensch geworden ist und bleibt, damit der Mensch menschlich sein und immer menschlicher werden kann." Getragen von dieser Gewissheit, bleibt die Kirche am Puls der Zeit und nahe bei den Menschen.

Nikolaus Schneider ist rheinischer Präses und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Quelle: Rheinischer Merkur vom 01. April