Präses Schneider: Tempo im Internet kann schädlich sein

Frankfurt a.M. (epd). Der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, warnt vor den Folgen beschleunigter Kommunikation im Internet. "Kommunikation gelingt nur dann, wenn sie mit der nötigen Ruhe vollzogen wird. Das Tempo kann schädlich sein", sagte der rheinische Präses dem Internetportal "evangelisch.de".

"Man muss das Netz mit Sinn und Verstand nutzen und sich ganz genau überlegen, was inhaltlich dafür infrage kommt", sagte Schneider in dem am Dienstag veröffentlichten Interview. Er warnte davor, Beziehungen dadurch zu "chaotisieren, dass sie schnell werden, dass man nicht mehr abwarten, hören, bedenken kann".

In der Arbeit von Kirchengemeinden gebe es Bereiche, die aus Sicht Schneiders durch Kommunikation im Internet nicht ersetzt werden können: "Ich denke dabei an Trauerarbeit, an Seelsorge und an bestimmte Geburtstage", sagte er. Für die Gremienarbeit in Kirchen indes sieht Schneider Vorteile, Transparenz und Beteiligung könnten im Internet leichter organisiert werden.

Schneider räumte ein, dass er persönlich noch zurückhaltend gegenüber dem Internet sei. Zwar habe er keine Vorbehalte, doch die "spontane Vertrautheit" mit diesem Medium fehle, "dies muss quasi nachgelernt werden". Zudem empfinde er E-Mails distanzierter als Briefe: "Der Brief scheint mir schlicht näher und hat einen höheren Grad an zwischenmenschlicher Verbindlichkeit als das Netz. Das ist objektiv sicher nicht so, aber ich empfinde es so."

24. August 2010


Das Interview im Wortlaut:

Schneider: "Kommunikation gelingt nur mit nötiger Ruhe"

Neue Medien dringen auch in den Bereich der Kirche vor. Wie lässt sich umgehen mit Mails, Chats, Twitter? Wie lassen sich diese Dienste sinnvoll - zum Nutzen der Menschen - einsetzen? Darüber sprachen wir mit dem amtierenden Ratsvorsitzenden der EKD und Präses Nikolaus Schneider.

Die Fragen stellte Melanie Huber

Herr Präses Schneider, zum Einstieg in unser Gespräch würde mich interessieren, wie Sie persönlich das Internet nutzen.

Nikolaus Schneider: Das Internet nutze ich zum einen zur Information. Ich besuche die Internetdienste von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Und ich nutze das Internet zur Recherche. Wenn mich ein Thema interessiert, bereite ich dies mit Hilfe der verschiedenen Angebote auf. Ich nutze das Web ferner zur Kommunikation, und zwar sowohl dienstlich wie auch privat – im dienstlichen Bereich zu einem erheblichen Teil, privat spielt es eine deutlich geringere Rolle als die klassische schriftliche oder telefonische Kommunikation. Ich schreibe zum Beispiel privat mehr Briefe als E-Mails, das sind sicher rund drei, vier Briefe pro Woche. Und auch hier im Haus schreibe ich ganz viel Karten, pro Tag mindestens eine.

Was macht für Sie den größten Unterschied aus zwischen der klassischen Kommunikation und der über das Internet?

Schneider: Ich merke, dass ich mit diesem Medium nicht groß geworden bin, es ist mir nach wie vor emotional fremd; das Telefon übrigens auch, dazu habe ich immer noch eine gewisse Distanz, denn ich war bereits 14 oder 15 Jahre alt, als meine Eltern ein Telefon bekamen. Und der Umgang mit dem Netz ist natürlich etwas, was ich im Alter dazu gelernt habe. Die spontane Vertrautheit mit diesem Medium fehlt mir, dies muss quasi nachgelernt werden. Ich nutze es einfach über den Kopf, je nach meinen Bedürfnissen. Aber Vorbehalte habe ich nicht, und ich sehe ganz klar die kulturelle und politische Bedeutung des Netzes. Doch es ist immer noch ein Extra-Schritt, den ich gehen muss, und ich empfinde das Internet als technischer und distanzierter als einen Brief. Der Brief scheint mir schlicht näher und hat einen höheren Grad an zwischenmenschlicher Verbindlichkeit als das Netz. Das ist objektiv sicher nicht so, aber ich empfinde es so.

Es gibt jedoch auch zahlreiche Menschen, für die das Internet eine viel größere Rolle spielt und die zugleich kirchlich sehr engagiert sind, das Web auch zum Austausch über Glaubensinhalte nutzen. Wie kann sich unsere Kirche diesen gegenüber im Internet weiter öffnen und neue Räume und Angebote schaffen?

Schneider: Ich denke, dass das Netz für uns beispielsweise bei der Gruppenkommunikation wie in der klassischen Frauenhilfsstunde, für Gemeinschaften, eine größere Rolle spielen wird. Die Menschen werden sich vermehrt per Netz zusammenschließen und austauschen können. Wir werden die Kommunikation innerhalb der Kirche zunehmend über das Internet führen, das gilt für das Amtliche wie auch innerhalb von Gemeinden, wo man keine Sitzungen ansetzen muss, sondern Diskussionen teilweise online führt. Hier befinden wir uns an einem Punkt, der unsere Gremienkultur anfragt. Als Kirche, die sehr stark über Gremien bestimmt ist und in der diese Gremien für einen hohen Grad an Transparenz und Beteiligung sorgen, haben wir mit dem Internet die Chance, genau dies, Transparenz und Beteiligung, enorm auszuweiten. Hier ist noch viel zu entwickeln.

Glauben Sie, dass Gremienmitarbeiter und Mitarbeiter der Amtskirche bereit sind, diese Transparenz zuzulassen?

Schneider: Man muss sich natürliche vertieft Gedanken über die Formen machen. Vieles, was diskutiert wird, braucht einen geschützten Raum und braucht auch den unmittelbaren Austausch, wo ich im Gespräch die Mimik, die Reaktion des Menschen mit allen seinen Sinnen und allen seinen Möglichkeiten erfahre. Manches muss ich auch mal so aussprechen können, ohne dass es gleich in alle Welt geht. Aber das sind Punkte, die wir erst entwickeln müssen. Ein erster Schritt könnte sein, bei jedem Presbyterium zu überlegen, was ins Netz gestellt werden kann, was getwittert wird, was an die Gemeinde mit Hilfe des Internets berichtet wird, so dass alle ganz schnell Anteil nehmen können und wissen, was gelaufen ist. Man muss jedoch an einer Stelle aufpassen. Kommunikation gelingt nur dann, wenn sie mit der nötigen Ruhe vollzogen wird. Das Tempo kann schädlich sein. Man kann Dinge, Prozesse, auch Beziehungen dadurch chaotisieren, dass sie schnell werden, dass man nicht mehr abwarten, hören, bedenken kann. Man muss das Netz mit Sinn und Verstand nutzen und sich ganz genau überlegen, was inhaltlich dafür in Frage kommt, wie man die Kommunikation organisiert und wer zuständig ist.

Viele Pastorinnen und Pastoren sind ja bereits heute sehr ausgelastet mit ihrer Arbeit und schaffen es kaum, alle Anfragen zu beantworten und sich intensiv um einzelne Gemeindeglieder zu kümmern. Ist es da denkbar und sinnvoll, dass sie fortan zusätzlich noch über das Web ansprechbar sind oder transparent informieren?

Schneider: Schon heute ist es so, dass viele Anfragen per E-Mail ankommen, auch bei mir sind es einige, auf die ich dann eingehe. Wir müssen sortieren, was wir über diese Art und Weise an sinnvoller Kommunikation organisieren können und was nicht. Und es kann nicht immer on top mehr werden. Die Frage ist, wie wir durch diese Form der Kommunikation bei anderen Formen Zeit einsparen können. Nur so kann es gehen. Man kann sicher einiges automatisieren, standardisieren, das spart unglaublich viel Zeit. Aber es gibt Formen der Kommunikation, die müssen persönlich sein und es bleiben. Ich denke dabei an Trauerarbeit, an Seelsorge und an bestimmte Geburtstage. Doch es wird sich durch dieses neue Kulturmedium eine neue Kultur des Gemeindelebens entwickeln. Die Geschwindigkeit muss ein menschenverträgliches Maß haben, bewusste Stopps und Pausen gehören dazu. Das heißt aber auch, dass die Gemeindeglieder dies verstehen müssen. Das Absetzen einer E-Mail heißt nicht, dass man sofort eine Antwort bekommt, und zweitens auch nicht eine individuelle Antwort. Dies muss man verabreden, jede Gemeinde sollte für sich klären, welche Regeln gelten. Diese würde ich durch das Aufsichtsgremium beschließen und transparent machen.

Bei all den E-Mails oder der Kommunikation in sozialen Netzwerken - denken Sie, dass es heute einen größeren Bedarf zum Austausch gibt?

Schneider: Diesen Bedarf gab es immer. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Qualität des Austauschs. Es gibt aufgrund der Erweiterung der Beschleunigung der Kommunikation auch jede Menge Austausch, den ich als absolut überflüssig empfinde. Das merkt man schon, wenn man im ICE so manches Telefonat mithört. Man muss den klugen Umgang mit den neuen Möglichkeiten erst erlernen. Die Technik wird uns hier helfen, aber auch wir müssen an uns arbeiten.

Wie erkennt man, ob sich eine Person beispielweise "nur mal so" richtig aussprechen möchte oder schlicht Aufmerksamkeit sucht?

Schneider: Das merkt man recht flott. Es müssen Grenzen gesetzt werden. Gutes Benehmen halte ich für ausgesprochen wichtig. Die Anonymität des Netzes verleitet manche, alle Formen von Höflichkeit beiseite zu lassen. Das führt zu Verrohung, und Anstand im Netz muss gelernt werden. Ferner verleitet die Anonymität dazu, sich zu verstecken. Auch hier ist zu lernen. Sich selbst zu bremsen, erst nachzudenken, über etwas zu schlafen, bevor man drauflos schreibt – all dies gehört dazu. Bei mir gehen bei bestimmten Formen der Kommunikation sofort die roten Lichter an – das ist Häufigkeit, das ist ausladender Stil, die Vernachlässigung jeglicher Grammatik, und es sind bestimmte Uhrzeiten.

Schalten Sie Ihr Handy irgendwann aus?

Schneider: Ja. Wenn ich in wichtigen Gesprächen bin, mache ich es aus, ich schalte nicht nur auf Stumm, sonst sehe ich es noch blinken. Über Nacht mache ich im Normalfall das Handy auch aus. Wenn ich schlafe, schalte ich es auch aus. Im Urlaub ist es morgens und abends kurz an, aber ansonsten ausgeschaltet.

Ich möchte gern auf das Thema Gottesdienst zu sprechen kommen. Immer mehr Menschen schalten während eines Gottesdienstes ihr Handy an und kommunizieren direkt über soziale Netzwerke mit anderen. Was halten Sie davon?

Schneider: Mein Anspruch an den Gottesdienst ist im Normalfall, dass das Handy aus ist. So sind wir miteinander eine Gemeinde und konzentrieren uns auf unser Gespräch miteinander und mit Gott. Je nachdem, wie die Gottesdienste sind, bitte ich auch darum, das Telefon auszuschalten. Formen, bei denen das Handy regelrecht einbezogen wird, beispielsweise über eine Twitter-Wall, habe ich noch nicht erlebt. Hier müsste man fragen, welche Konzentration und Ordnung des Gottesdienstes möglich ist. Denn der Gottesdienst lebt auch von der Form, und die darf nicht zerstört werden. Aber ich würde das nicht grundsätzlich ablehnen.

Inwiefern können Sie sich vorstellen, dass so etwas wie Seelsorge über das Web, in Chats oder Foren möglich ist?

Schneider: Spontan sage ich, dass Seelsorge unmittelbar von Person zu Person ausgeht. Ich habe allerdings gelernt, dass die Telefonseelsorge enorm leistungsfähig ist. In der Stimme am Telefon schwingt ganz viel mit. Was ist aber im Netz? Im Internet höre ich keine Stimme, ich sehe keinen Menschen und es reduziert auf die Buchstabenfolge, die da ist und das Verhältnis meiner Buchstabenfolge zu der, die antwortet. Ich glaube jedoch auch, dass es die Möglichkeit gibt zu merken, was los ist – aber sehr viel eingeschränkter. Seelsorge hat ganz unterschiedliche Intensitätsgrade und Formen. Wenn man den Seelsorgebegriff ausweitet, kann ich mit Chatseelsorge als eine Form einer Seelsorge mit einem flachen Intensitätsgrad aber als sinnvoll vorstellen.

Das Bedürfnis, dass einem auch im Internet zugehört wird, dass man sich kümmert und Kirche theologisch fundiert und professionell antwortet, ist immens. Liegt darin nicht eine Chance?

Schneider: Es wird häufig so sein, dass mit einem gespielt wird, dass es nicht ernst gemeint ist, was man schreibt. Aber es wird auch Kommunikation geben, die ernst gemeint ist. Und deshalb lohnt es sich auf jeden Fall, sich zu kümmern und da zu sein. Wir müssen allerdings klug mit unseren Ressourcen umgehen. Die Gemeindepfarrer können das nicht auch noch machen. Eher die Kirchenkreise oder auch die Landeskirchen, die zu speziellen Zeiten im Web präsent sind oder, dass wir es mit der Jugendarbeit verbinden.

Wir haben vor diesem Termin einen Aufruf bei evangelisch.de, auf Facebook und Twitter gestartet, uns Fragen an Sie zu schicken. Einige davon habe ich mitgebracht und würde Ihnen diese nun gern stellen.

Eine Frage lautet zum Beispiel: Die Volksparteien lösen sich auf. Die Volkskirche auch? Kann das flächendeckende Parochialprinzip beibehalten werden?

Schneider: Es gibt schon jetzt Ausnahmen, und das hat etwas mit der Mobilität der Menschen zu tun. Wir müssen da Gemeinden bilden, wo Menschen sind. Das Parochialprinzip setzt voraus, dass Sie immer oder längerfristig an einem Ort sind. Da, wo Mobilität herrscht, müssen wir uns anpassen. Es gibt Aufweichungen wie in den Citykirchen und man kann auch eine Krankenhausgemeinde als Gemeinde verstehen. Zurückhaltend sind wir hingegen bezogen auf Gemeinden, die sich um eine einzelne Person bilden. Wir wollen keinen Starkult. Und wir sind zweitens bei den Richtungsgemeinden zurückhaltend. Denn es ist eine große Stärke der Parochialstruktur, dass sie Menschen mit unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen und Einstellungen und auch Menschen unterschiedlicher sozialer Schichtung zusammenbringt. Wir sind eigentlich die einzigen, die so was noch leisten.

Es folgt nun eine längere Frage: Am Geld merkt man es immer zuerst: Unsere finanzielle Gemeindesituation ist desolat, und wir sind damit nicht allein. Aber es gelingt uns auch immer weniger, die Menschen für das Gemeindeleben zu interessieren. Muss sich Kirche neu erfinden, wenn es für eine 2.000 alte Idee mit "weiter so" nicht mehr weitergeht?

Schneider: Mit "weiter so" ging es nie weiter. Wir haben immer gesagt, dass wir eine Kirche sind, die sich immer verändert und sich immer verändern will. Wir wollen das alte Evangelium heute sagen. Das geht auch nicht anders, sonst würden wir zum Museum werden. Bezogen auf die finanzielle Situation kann ich nur sagen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Wir haben alle das Problem, dass Finanzmittel zurückgehen. Nicht, weil uns die Menschen in Scharen weglaufen, sondern aus zwei Gründen. Der Anteil der Deutschen und damit der christlichen Bevölkerung wird schlicht weniger. Das können wir nicht ändern. Mit dieser Situation muss man umgehen, und es ist durchaus möglich, sich umzuschauen und zu gucken, welche Möglichkeiten es gibt, mit schwierigen finanziellen Situationen erfolgreich umzugehen.

Jetzt möchte jemand Folgendes wissen: Viele Menschen nehmen den evangelischen Gottesdienst als sehr nüchtern oder auch als wortlastig wahr. Manche, die nach einer kontemplativen oder auch zeichenhaften Spriritualität suchen, wenden sich dann der katholischen Kirche zu. Welche Antwort hat die evangelische Kirche für Menschen auf der Suche nach tiefer und ganzheitlicher Spiritualität?

Schneider: Mit Geduld suchen. Wir haben auch im evangelischen Bereich Gemeinden, die diese Form von Spiritualität auch in Gottesdienst pflegen. Auf evangelisch.de gibt es beispielsweise Hinweise dazu.

Die letzte Frage lautet: Die evangelische Kirche hat als "Volkskirche" staatsähnliche Strukturen. Die Gesellschaft wird jedoch immer säkularer. Der Glaube "verdunstet", das Christentum verschwindet mehr und mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein. Nicht nur im Osten Deutschlands werden Christen zu einer Minderheit. Und doch haben viele Menschen eine Sehnsucht nach Religiosität, finden aber keine Heimat in den Kirchen. Wie muss sich die evangelische Kirche - sowohl in ihren Strukturen wie auch im Selbstverständnis und in der konkreten Arbeitsweise - verändern, um auf diese Situation zu reagieren?

Schneider: Unsere volkskirchliche Struktur ist nicht einfach die Nachbildung des Staates, aber sie hat natürlich einen Bezug zu den staatlichen Strukturen. Das hat aber auch große Stärken – die Stabilität, die Verlässlichkeit der gemeindlichen Arbeit. Deshalb würde ich diese Strukturen nicht so schnell aufgeben, sondern sie eher nutzen.

Quelle: www.evangelisch.de