Nikolaus Schneider erkennt Umdenken in Integrationspolitik

 Hannover (epd). Nach Ansicht des amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, gibt es ein Umdenken in der deutschen Politik beim Thema Integration. In jüngster Zeit sei die Politik aufgewacht, es gebe einen Aufbruch zu vernünftiger Integrationspolitik, sagte Schneider der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". "40 Jahre geschah da in Deutschland fast nichts", kritisierte der rheinische Präses.

Thilo Sarrazin indes habe mit "schroffen Verkürzungen" unseriös Wirbel entfacht und dabei bestimmte Bevölkerungsgruppen beleidigt. "Ansichten aus der Genetik einfach ins Soziale zu übersetzen, das geht meines Erachtens gar nicht", sagte der oberste Repräsentant im deutschen Protestantismus.

Bei Sarrazins Thesen stelle sich die Frage, wie seriös es sei, aus statistischem Material Aussagen für die ferne Zukunft abzuleiten. Sätze wie "Wir schaffen uns ab" oder "Wir werden dumm" seien keine redlichen Aussagen. "Wir schaffen uns nicht automatisch ab, wir werden auch nicht automatisch dumm. Es gibt Probleme, mit denen müssen wir uns auseinandersetzen. Aber nicht so", forderte Präses Schneider.

Der frühere Berliner Finanzsenator und heutige Bundesbankvorstand Sarrazin war wegen seiner provokanten Thesen zur Integration von Muslimen in Deutschland und zur Erblichkeit von Intelligenz in die Kritik geraten. Die Bundesbank hatte am Donnerstag beschlossen, beim Bundespräsidenten die Abberufung Sarrazins zu beantragen.

Schneider erklärt sich den starken öffentlichen Widerhall auf Sarrazins Aussagen in den apokalyptischen Beschreibungen der Zukunft. "Das Ausmalen des Endes mit dieser Lust am Untergang - das scheint manchen zu faszinieren. Mich nicht", sagte der evangelische Theologe.

03. September 2010


Das Interview im Wortlaut:

Nachgefragt

"Wir schaffen uns nicht ab"

Herr Präses Schneider, der Vorstand der Bundesbank hat die Entlassung Thilo Sarrazins beantragt. Halten Sie das für geboten?

Das müssen andere entscheiden. Aber für mich hat Thilo Sarrazin bei der Beschreibung der Schwierigkeiten, die wir bei der Integration haben, eine rote Linie überschritten.

Welche rote Linie hat er überschritten?

Da ist zum einen sein Umgang mit statistischem Material, bei dem man sich schon die Frage stellen kann, wie seriös ist das, wenn man Aussagen in eine sehr ferne Zukunft stellt. Zudem überschreiten Spitzensätze wie "Wir schaffen uns ab" oder "Wir werden dumm" meiner Ansicht nach schon die Linie einer redlichen Aussage. Das ist doch übertrieben, das kann er doch gar nicht sagen. Wir schaffen uns nicht automatisch ab, wir werden auch nicht automatisch dumm. Es gibt Probleme, mit denen müssen wir uns auseinandersetzen. Aber nicht so.

Was geht Ihrer Meinung nach gar nicht?

Ansichten aus der Genetik einfach ins Soziale zu übersetzen, das geht meines Erachtens gar nicht. Kommentatoren haben zu Recht kritisiert, dass Sarrazin vulgär sozialdarwinistische Ansichten bedient, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnen.

Was meinen Sie damit?

Er beleidigt bestimmte Bevölkerungsgruppen und äußert Vorstellungen, die sie in ihren Lebensrechten einschränken.

Nun gibt es auch einige, die sagen, der Fall Sarrazin zeige mal wieder, man dürfe in Deutschland nicht alles sagen?

Sie dürfen in Deutschland alles sagen. Viele benennen Probleme der Integration, aber beleidigen dabei nicht ganze Bevölkerungsgruppen. Es ist doch Konsens, dass wir bei der Integration mindestens eine ganze Generation vernachlässigt haben. 40 Jahre geschah da in Deutschland fast nichts. Aber es ist doch gut, dass die Politik in letzter Zeit aufgewacht ist und es einen Aufbruch zu einer vernünftigen Integrationspolitik gibt. Insofern spricht Sarrazin Probleme an, vor denen man nicht die Augen verschließen sollte. Aber dieser Wirbel, den er eben mit schroffen Verkürzungen entfacht hat, ist unseriös.

Wie erklären Sie sich den gewaltigen Widerhall, den Sarrazin gefunden hat?

Zuspitzungen finden häufig viel Widerhall: eine apokalyptische Beschreibung der möglichen Ergebnisse, die aber als Realität vorgestellt wird, das Ausmalen des Endes mit dieser Lust am Untergang – das scheint manche zu faszinieren. Mich nicht.

Interview: Michael B. Berger

Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 03. September