Früherer EKD-Ratsvorsitzender Engelhardt würdigt DDR-Kirchen

Karlsruhe (epd). Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und badische Altbischof Klaus Engelhardt hat die Rolle der Kirchen in der DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit hervorgehoben. Die Kirchen hätten der Unzufriedenheit der Menschen einen Resonanzboden gegeben, in der aufgeregten Situation aber auch mäßigend gewirkt, sagte Engelhardt in einem Interview, das die badische evangelische Landeskirche am Donnerstag verbreitete.

"Im Herbst 1989 ging man erst in die Kirche und dann auf die Straße", sagte Engelhardt. Deshalb seien die Menschen nicht mit Steinen auf die Demonstrationen gezogen, sondern mit Kerzen. Aus Anlass des 20. Jahrestags der deutschen Einheit lobte er, die Kirche in der DDR sei im entscheidenden Augenblick politisch auf der Höhe gewesen und habe ihr Handeln dabei immer theologisch reflektiert.

Engelhardt, der als EKD-Ratsvorsitzender von 1991 bis 1997 den kirchlichen Einigungsprozess mitgestaltete, sagte weiter, die Kirchen in der DDR seien stärker als die im Westen bereit gewesen, Kirche als Lerngemeinschaft zu verstehen und Neuem offen gegenüber zu treten. "Dieser Impuls ist heute noch wichtig", so der Altlandesbischof.

Er bedauere, dass die große Leistung der Menschen in den neuen Bundesländern beim Zurechtfinden in einem neuen Wertesystem nicht ausreichend gewürdigt worden sei. "Wir haben uns im Westen nie richtig deutlich gemacht, dass die politische Wende auch einen tiefen Einschnitt in der Mentalität bei den Menschen, einen Paradigmenwechsel mit sich brachte", sagte Engelhardt.

01. Oktober 2010


Das Interview im Wortlaut:

"Erst in die Kirche und dann auf die Straße..."

Interview mit dem ehemaligen EKD Ratsvorsitzenden Klaus Engelhardt zur Rolle der Kirchen bei der Wiedervereinigung

Er war der erste Ratsvorsitzende einer gesamtdeutschen evangelischen Kirche: Der badische Altbischof Klaus Engelhardt wurde von 1991 bis 1997 im Spitzenamt der EKD der "Motor der kirchlichen Einheit". Im Gespräch mit ekiba.de erinnert er sich an die Umbruchszeit vor 20 Jahren, lobt die DDR-Kirchen, die "auf der Höhe der Zeit" gewesen seien, und kritisiert, dass die Leistung der Ostdeutschen im Westen nie ausreichend gewürdigt worden sei.

Welche Rolle spielte die evangelische Kirche vor der Wiedervereinigung?

Sie war die einzige Klammer, die es in unserem Volk zwischen Ost und West gab. Jede Landeskirche hatte eine Partnerkirche in der damaligen DDR, auf allen Ebenen unseres kirchlichen Lebens gab es Begegnungen, von der Gemeinde bis zur landeskirchlichen Leitung. Das ist über 40 Jahre gewachsen. Es gab auch finanzielle Unterstützung. Die Kirchen in der DDR waren darauf angewiesen.

Welche Bedeutung hatten sie in der Friedlichen Revolution?

Die Kirchen in der DDR waren im entscheidenden Augenblick politisch auf der Höhe. Sie nahmen 1989 die Bewegung auf, die unkontrolliert und ungestaltet vorhanden war, und öffneten ihr die Kirchen. Sie waren der Resonanzboden für die Sorgen, für die Unzufriedenheit, für die Depression der Menschen. Wenn es diese Struktur, dieses Zurverfügungstellen von Orten und Träumen nicht gegeben hätte, wäre der Umbruch nicht in dieser Weise abgelaufen.

Ob Leipzig, Ostberlin, Dresden oder Rostock - im Herbst 1989 ging man erst in die Kirche und dann auf die Straße. Dadurch kam in die aufgeregte Situation ein Stück Besonnenheit hinein. Die Menschen kamen aus der Kirche nicht mit Steinen auf die großen Demonstrationen, sondern mit Kerzen. Zugleich waren sich die Kirchen immer bewusst, dass ihr politisches Handeln kirchlich und theologisch verantwortet werden muss.

Denn dass im Herbst 1989 die Gebetsgottesdienste mit einem Mal eine solche Bedeutung gewannen, dass man in die Nicolaikirche oder die Gethsemanekirche strömte, das kam nicht von ungefähr. Dem war in vielen Gemeinden ein jahrelanges, mühsames, karges Friedensgebet einmal in der Woche vorausgegangen. Die Leute haben sich gefragt: Lohnt sich das noch, dass wir zu viert oder fünft zusammenkommen? Sie haben durchgehalten und dieser Funke, der nie erloschen war, wurde auf einmal zu einem Feuer.

So stelle ich mir Volkskirche vor: dass unsere Kirche wach ist für die Momente, wo sie wirklich gefragt ist und niemand sonst helfen kann. Ich frage mich, ob wir im Westen Vergleichbares hätten leisten können.

Wie haben Sie die Umbruchszeit erlebt?

Nach den Kommunalwahlen in der DDR 1989 besuchte eine Delegation der badischen Kirchenleitung die berlin-brandenburgische Kirche. In einer Sitzung unter Leitung des damaligen Bischofs Forck wurde über Proteste berichtet, es gab Vorwürfe der Wahlmanipulation. Mich hat überrascht, mit welcher Eindringlichkeit das von der Kirchenleitung besprochen wurde, und dass Konsistorialpräsident Manfred Stolpe vom Bischof beauftragt wurde, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Man wusste, Stolpe hat Kontakte zu SED-Stellen, die immer wieder in Anspruch genommen wurde. Auch dass wir ohne weiteres einreisen konnten und uns in der DDR bewegen konnten - da stand im Hintergrund der Einfluss von Manfred Stolpe. Er war für mich ganz klar ein Mann der Kirche, bei allen Kontakten, die er hatte.

Wie fast alle war ich überrascht von der Rasanz des Umbruchs. Anfang November 1989 fand die EKD-Synode in Bad Krozingen statt. Am Donnerstagabend war Schlussgottesdienst. Ich ging in die Kirche und beim Eintritt wurde mir gesagt: In Berlin ist was los, die Mauer ist gefallen. Der Abschluss der Synode stand ganz unter dem Eindruck der Geschehnisse. Unsere Gäste aus der DDR waren sprachlos.

Wie vollzog sich die Einheit der Kirchen?

Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hatte sich 1968 konstituiert. Er gehörte nicht mehr zur EKD. In seiner Präambel bekannte er sich aber zu der "besonderen Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland". In einer Anfang 1990 verabschiedeten Loccumer Erklärung von EKD und Kirchenbund hieß es: Wir wollen dieser Gemeinschaft jetzt eine eigene kirchliche Gestalt geben - nicht wissend, wie die politische Entwicklung weitergehen wird.

Im rechtlichen Sinn traten dann nicht die Ost-Kirchen der EKD bei, sondern reaktivierten ihre seit 1968 ruhende Mitgliedschaft. Der Tübinger Kirchenrechtler Heckel betonte damals in einem Gutachten aber, dass diese Reaktivierung eine zukunftsgerichtete, gestaltende Kraft haben müsse.

Was waren die großen Streitpunkte beim Zusammenwachsen?

Die Militärseelsorge, der Religionsunterricht sowie die Stasi-Belastung kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Das heißeste Eisen war die Militärseelsorge. Und dieser Punkt zeigt, dass der damals eingeschlagene Weg der richtige war. Die Kirchen der DDR wollten nicht, dass die Pfarrer für die Zeit ihrer Militärseelsorge wie im Westen Beamte des Staates werden. Dahinter stand das in 40 Jahren gewachsene tiefsitzende Misstrauen gegen alle enge Verbundenheit mit dem Staat. Wir bekamen manchmal den Vorwurf zu hören, zu staats- und regierungshörig zu sein.

In dem Punkt war kein Zusammenkommen zu finden. In Verhandlungen mit Bundeskanzler Kohl und Verteidigungsminister Rühe fanden wir dann einen Kompromiss. In Ostdeutschland blieb es für eine Übergangszeit bis 2003 möglich, dass Militärseelsorger Pfarrer ihrer Landeskirche bleiben. Seitdem gilt im Osten das bewährte westdeutsche Modell. Die Befürchtung einer Weisungsgebundenheit des Staates, die auch inhaltliche Dinge betrifft, war unbegründet.

Belasteten diese Fragen die Arbeit im EKD-Rat, dessen Vorsitz sie 1991 übernahmen?

Die Fronten im Rat verliefen nicht zwischen Ost und West, sondern quer dazu in den unterschiedlichen theologischen Lagern. Die Mitglieder aus den Ostkirchen wie die Bischöfe Hempel und Noack, aber auch Konsistorialrätin Cynkiewicz und Richard Schröder, spielten eine große Rolle beim Übergang, den wir zu bewältigen hatten; im Ringen darum, wie das uns als Geschenk wiederfahrene, aber auch zugemutete neue Miteinander gestaltet werden solle. Wir hatten nie das Gefühl, dass wir einfach so weitermachen könnten, dass die EKD die alte geblieben sei, nur etwas größer.

Die Zeit war eine der spannendsten, die ich erlebt habe. Ich war beglückt darüber, wie der Rat in den sechs Jahren bis 1997 zusammengefunden hat. Wir standen uns zu Anfang etwas skeptisch gegenüber - übrigens war das kein Ost-West-Konflikt. Doch sind wir so zusammengewachsen, dass nach zehn Jahren das Bedürfnis entstand, sich wieder zu treffen. Wir sind 2007 in Eisenach noch einmal zusammengekommen. So etwas hat es meines Wissens noch nicht gegeben.

Wir hatten eine Art des Umgangs gefunden, ein Miteinander-Entscheiden auf gut evangelische Weise. Dazu haben die Schwestern und Brüder aus den Ostlandeskirchen beigetragen.

Was brachten die Ostkirchen sonst mit ein?

Ich empfand es als Bereicherung, dass sie aufs Ganze gesehen ökumenischer ausgerichtet waren, im Sinne der Welt-Ökumene, nicht nur im Sinne katholisch-evangelisch. Das war nicht zufällig: Sie waren in ihrem DDR-Getto und Eingesperrtsein auf Ökumene angewiesen. Und die Ökumene schaute stärker auf das, was in den DDR-Gemeinden vor sich ging. Dahinter stand die Frage: Ist das nicht die echtere Kirchensituation, in der Bedrängnis?

Die ostdeutschen Kirchen mussten mit der neuen gesellschaftlichen Pluralität zurechtkommen. Hempel schrieb uns Westlern damals ins Stammbuch: Wir können nicht dankbar genug sein für die Freiheit, die wir bekommen haben. Das ist das große Gottesgeschenk. Aber wie gehen wir mit der Freiheit um? Wenn wir uns anschauen, wie das bei euch im Westen ist: Mündet da die Freiheit nicht in eine Beliebigkeit?

Kann Kirche West von Kirche Ost lernen?

In den 70er Jahren kam die theologische Formel von der Kirche als Lerngemeinschaft auf. Und es gibt oft zu wenig Bereitschaft zu fragen, was müssen wir Neues lernen. Das ist die starke Aufforderung, die uns von den Kirchen in der DDR gegeben wird. In diesem Punkt, die Bereitschaft, Kirche als Lerngemeinschaft zu verstehen, waren sie uns voraus. Dieser Impuls ist heute noch wichtig.

Aber man muss sich wehren gegen die oft gehörte Redefigur: Je kleiner, desto mehr kann Kirche im eigentlichen Sinne Kirche sein. Denn wie mühsam ist kirchliches Leben in der DDR vielerorts gewesen. Ich wehre mich auch gegen die Argumentation, in den ostdeutschen Kirchen sei vorweggelebt worden, was uns in gleicher Weise bevorsteht. Die strukturellen Unterschiede sind zu groß. Wir sind noch Volkskirche.

Gab es Enttäuschungen?

Im Herbst 1989 waren die Kirchen voll, wenig später waren sie leer. Der Irrtum mancher war, dass die Bewegung vom Herbst 89 eine Art "Erweckungsbewegung" sein könnte. Den Verantwortlichen in der Kirche war klar, dass das falsch ist. Natürlich hofften sie, dass Kirche dadurch interessant wird, aber erwarteten nicht, dass das so bleiben würde. Aber es gab die Enttäuschung, dass die Kirche, die so interessant war, plötzlich so uninteressant wurde. Das gehört zu den besonderen Belastungen, die verkraftet werden müssen.

Was ist persönliches Resümee nach 20 Jahren Einheit?

Wir haben uns im Westen nie richtig deutlich gemacht, dass die politische Wende auch einen tiefen Einschnitt in der Mentalität bei den Menschen, einen Paradigmenwechsel mit sich brachte. Dass die Ostdeutschen da eine Leistung erbracht haben, die nicht ausreichend gewürdigt wurde. Das ist uns im Westen bis heute nicht so richtig klar geworden.

Quelle: Evangelische Landeskirche in Baden