Der Held von Solferino - Henry Dunant

Der Gründer des Roten Kreuzes, starb vor 100 Jahren

Von Jan Dirk Herbermann (epd)

Genf (epd). Ein Mann hockt vor den Trümmern seiner Hütte. Er hält die linke Hand vor sein Gesicht, weint. Der Mann, Sorovo Sarvatoriopai, Vater von sieben Kindern, beklagt den Tod seiner Frau und seiner Schwester. "Jäger fanden die Leichen der beiden tief im Dschungel", sagt er. Vermutlich vergewaltigten und töteten Krieger der "Widerstandsarmee Gottes" die Frauen. Die Rebellengruppe zerstörte 2009 das Dorf Gubere Bassima in der Zentralafrikanischen Republik, in dem Sorovo Sarvatoriopai mit seiner Familie lebte. Helfer des Roten Kreuzes versorgten die Überlebenden mit dem Nötigsten.

Menschen wie Sorovo Sarvatoriopai beizustehen, das gehört seit seiner Gründung 1863 zu den Aufgaben des Roten Kreuzes. Der Gründer der Hilfsorganisation war Henry Dunant (1828-1910), gestorben vor 100 Jahren am 30. Oktober 1910. Dunant gilt heute als der Urvater der humanitären Hilfe. Für sein Engagement erhielt er 1901 den erstmalig verliehenen Friedensnobelpreis, zusammen mit dem Pazifisten Frédéric Passy.

Ein Jahrhundert nach Dunants Tod ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine weltweite humanitäre Organisation mit 12.000 Mitarbeitern, die in 80 Ländern Hilfe leistet. Nationale Gesellschaften des Roten Kreuzes und der Schwesterorganisationen Roter Halbmond und Roter Kristall wirken in fast jedem Staat der Erde. "Das Rotkreuz-Symbol ist das vielleicht populärste Zeichen der Welt überhaupt geworden", urteilte der frühere IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga. "Es ist das Sinnbild für Hilfe bei menschlichen Leiden in allen seinen Formen."

Die Helfer versorgen Menschen mit Nahrung, Trinkwasser und Unterkünften. Rot-Kreuz-Delegierte inspizieren auch Gefängnisse, denn die Kriegsgefangenen sollen immer menschlich behandelt werden. Und Rot-Kreuz-Ärzte operieren und pflegen Hunderttausende von Verletzten.

"Ich wurde ein Doktor, weil ich die Menschen mag", erzählt etwa Rot-Kreuz-Arzt Chris Giannou. "Ich dachte immer, ich kann meinen Mitmenschen am besten helfen, indem ich das Leiden lindere." Der 60-Jährige erlebte Leid und Elend in vielen Konflikten, vom Libanon über Sudan, Sierra Leone, Sri Lanka bis zum Irak.

Er steht mit seiner Arbeit in der besten Tradition des Roten Kreuzes, dessen Geburtsstunde auf einem Schlachtfeld in Italien schlug. In Solferino lieferten sich am 24. Juni 1859 Österreicher auf der einen Seite und Italiener sowie Franzosen auf der anderen Seite einen erbitterten Kampf. Am Abend bedeckten 40.000 wimmernde Verwundete die zerpflügte Erde.

Der junge Schweizer Dunant, damals 31 Jahre alt, sah das Grauen. Und er half den Opfern so gut er konnte, ganz gleich, welcher Seite sie angehörten. Die Neutralität gehört bis heute zu den Grundprinzipien des Roten Kreuzes.

Das Elend von Solferino traf den stark christlich geprägten Calvinisten Dunant so tief, dass er "Gesellschaften zum Schutze der Verwundeten" gründen wollte. In seiner Heimatstadt Genf fand er Mitstreiter - und so entstand das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.

Während die Schlacht von Solferino nach einem Tag des Grauens ihr Ende fand, ziehen sich die modernen Konflikte über Jahrzehnte hin. Das IKRK muss sich immer öfter auf eine langfristige Präsenz einrichten.

In Afghanistan etwa wirken die Helfer seit 1981, in Somalia kümmern sich die IKRK-Delegierten seit 1982 um die Opfer. "Wie würden Afghanistan und Somalia wohl aussehen, wenn dort Frieden und Fortschritt anstatt von Blutvergießen und Zerstörung in all diesen Jahren geherrscht hätten?", fragt Jakob Kellenberger, der Präsident des IKRK.

Henry Dunant wäre wohl stolz auf die Organisation gewesen, die sich aus seiner Idee entwickelte. Er selbst musste die Leitung des Roten Kreuzes schon früh aufgeben, nachdem seine geschäftlichen Unternehmungen ihn in den Bankrott getrieben hatten.

Dunant verarmte und vereinsamte, er zog 1887 in das Appenzeller Städtchen Heiden und schrieb seine Memoiren. Zufällig entdeckte ein Journalist den Helden von Solferino. Der Korrespondent zeichnete Dunants Leben auf, Zeitungen rund um die Welt berichteten über den Vater des Roten Kreuzes. Da hatte seine Organisation schon Zehntausenden Menschen geholfen. Henry Dunant starb in dem Spital in Heiden, in dem er seine letzten 23 Jahre verbracht hatte.

29. Oktober 2010