Theologe Barth verteidigt "Christliche Patientenvorsorge"

Berlin (epd). Der frühere Leiter der Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hermann Barth, hält Kritik an der neuen "Christlichen Patientenvorsorge" für unberechtigt. Den Vorwurf an die Kirchen, sie unterliefen damit die gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung, weist der Theologe in der Tageszeitung "Die Welt" (Mittwochsausgabe) zurück. Mit dem kirchlichen Formular könnten auch Behandlungswünsche formuliert werden, die sich nicht nur auf den unmittelbaren Sterbeprozess beziehen.

Die christlichen Kirchen in Deutschland hatten in der vergangenen Woche eine neue Broschüre zur Christlichen Patientenvorsorge veröffentlicht. Diese ersetzt die Christliche Patientenverfügung, die erstmals 1999 veröffentlicht und in zweiter Auflage 2003 vorgelegt wurde. Das überarbeitete Dokument trägt den Bestimmungen des Patientenverfügungsgesetzes von 2009 Rechnung und enthält neben der eigentliche Patientenverfügung auch eine Vorsorgevollmacht, die Betreuungsverfügung und die Äußerung von Behandlungswünschen.

Im Falle des Wachkomas werde bis in Einzelheiten dargelegt, wie alternative Wünsche nach Beendigung einer Behandlung außerhalb von Sterbephasen formuliert werden könnten, argumentiert Barth. Angesichts der komplexen Krankheitszustände am Lebensende reiche allerdings eine "Liste von Behandlungswünschen zum Ankreuzen" nicht aus.

Barth widerspricht auch der Ansicht, dass eine Begrenzung der Reichweite der Patientenverfügung in jedem Fall christlich geboten sei. Der Kirchen konzentrierten sich vielmehr auf die ethische Frage, ob man die bestehenden Möglichkeiten beanspruche oder aus guten Gründen darauf verzichte. Bioethische Streitfragen ließen sich nicht immer generell beantworten. "Dies mahnt auch zur Vorsicht, im Einzelfall nur eine einzige Handlungsweise als christlich geboten anzusehen", schreibt Barth.

Im Blick auf die Behandlung von Wachkomapatienten gibt es unterschiedliche Positionen in den Kirchen. Dies schlägt sich in abweichenden Empfehlungen in der Broschüre nieder.

02. Februar 2011


Beitrag von Hermann Barth für „Die Welt“ vom 02. Februar

Sterbebegleitung

Warum die Kritik an der neuen Christlichen Patientenvorsorge unberechtigt ist

Von Hermann Barth

Am 26. Januar 2011 stellten die Kirchen – unter dem Titel "Christliche Patientenvorsorge" - die Neubearbeitung ihrer weit verbreiteten Broschüre zur Patientenverfügung vor. Vor den Augen Matthias Kamanns fand sie keine Gnade. In seinem Welt-Online-Beitrag vom 27. Januar warf er den Kirchen vor, dass sie "die Gesetzgebung des Deutschen Bundestages zur Wirksamkeit von Patientenverfügungen" unterlaufen. Die von ihnen "entworfenen Formulare, in denen Patienten für den Fall einer Äußerungsunfähigkeit bestimmte Therapien wünschen oder aber ablehnen können", bezögen sich nur auf Situationen, in denen - so das Formular – "ich mich entweder aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess oder im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde".

Am 28. Januar habe ich Kamann darauf aufmerksam gemacht, dass er den im Formular enthaltenen "Raum für ergänzende Verfügungen" völlig übersehe und übergehe. Dieser Raum sei gerade geschaffen worden, damit "die Möglichkeit besteht, weitere Wünsche zu formulieren". Daraufhin geschah etwas, das in den Medien nur selten passiert: Kamann korrigiert sich ausdrücklich. Seine Selbstkorrektur ist in einer Anmerkung zu seinem ursprünglichen Beitrages wiedergegeben: "Im obigen Text fehlt der Hinweis, dass es in der Christlichen Patientenvorsorge … einen Raum für ergänzende Verfügungen gibt, den man mit eigenen Bestimmungen füllen kann.

Korrigierend ist also festzuhalten: Man ist bei der Benutzung des Formulars nicht gezwungen, die Behandlungswünsche nur auf den Sterbeprozess oder die Endphase einer tödlichen Krankheit zu begrenzen." Leider will Kamann doch irgendwie Recht behalten, so dass er hinzusetzt: Das Gesagte ändere "nichts an der Feststellung, dass die Christliche Patientenvorsorge nur eine eingeschränkte Wahrnehmung der tatsächlich gegebenen Patientenrechte zulässt. Denn weder in den Erläuterungen zu dem Formular noch in diesem selbst werden Hinweise gegeben, wie und unter Berücksichtigung welcher Probleme man Wünsche nach Behandlungsbeendigungen außerhalb von Sterbephasen formulieren könnte".

Zu solchen Beanstandungen und kritischen Anfragen ist abschließend folgendes festzuhalten:

1. Im Falle des Wachkomas ist bis in die Einzelformulierung hinein ausgeführt, wie alternative "Wünsche nach Behandlungsbeendigungen außerhalb von Sterbephasen" formuliert werden könnten (vgl. Christliche Patientenvorsorge, Handreichung S. 21f). Im Übrigen ist zu bedenken: "Die Krankheitszustände und -diagnosen sind gerade zum Lebensende hin von sehr komplexer Natur. Entsprechend geht es im Blick auf sie um besonders schwierige und höchst individuelle Entscheidungen. Um unter diesen schwierigen Bedingungen zu einer moralisch überzeugenden Urteilsbildung gelangen zu können, müssen allgemeine Regelungen und Ratschläge daher immer auch auf den konkreten Einzelfall angewendet werden" (vgl. Handreichung S. 13). Eine Liste von Behandlungswünschen zum Ankreuzen reicht hier nicht mehr aus. Das erklärt auch, warum das Formular mit Behandlungswünschen und Patientenverfügung anhand der Situation im unmittelbaren Sterbeprozess oder im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit exemplifiziert wird.

2. Die Christliche Patientenvorsorge stellt sich nicht auf den Standpunkt, eine Reichweitenbegrenzung sei in jedem Fall christlich geboten. Vielmehr trifft sie die lapidare Feststellung: "Das Gesetz sieht keine Reichweitenbegrenzung vor. Der Diskussionsbeitrag der Kirchen sollte sich deshalb auf die ethische Frage konzentrieren, ob man die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten in Anspruch nimmt oder aus guten Gründen darauf verzichtet" (vgl. Handreichung S. 13).
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3. Diese ethische Frage stellt sich zweifellos im Blick auf die Demenz. Um so mehr ist es nachzuvollziehen, dass das Fehlen von Erörterungen zur Demenz in der Christlichen Patientenvorsorge als eine Lücke empfunden wird. Die Ausarbeitung der Kammer für Öffentliche Verantwortung "Sterben hat seine Zeit. Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht" (EKD-Text 80, 2005) hat jedoch Vorbildliches hierzu geleistet. Sie unterscheidet zwischen leichteren und schwereren Fällen von Demenz: "Je näher sich der Patient zwischen den beiden Polen des Beginnes und des Endstadiums der Demenz beim ersten Pol befindet, umso weniger ist es zu vertreten, entgegen seinem aktuellen Befinden und seiner aktiven sozialen Teilhabe die früher formulierte Patientenverfügung an ihm umzusetzen und ihn sterben zu lassen", S. 24).

4. Die Christliche Patientenvorsorge nimmt nüchtern zur Kenntnis, dass es ethische Fragen gibt, bei denen die evangelische und die katholische Stimme dissonant sind - so im Blick auf die Behandlung von Wachkomapatienten (vgl. Handreichung S. 21f). Die Spannungen und Risse verlaufen aber weit häufiger quer zu den konfessionellen Grenzen (vgl. S. 13).

5. Bioethische Streitfragen "lassen sich nicht immer generell beantworten. Dies mahnt auch zur Vorsicht, im Einzelfall nur eine einzige Handlungsweise als christlich geboten anzusehen" (S. 11).

Hermann Barth, geb. 1946, war bis Oktober 2010 Präsident des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)