Gestrandet in Bremen

Deutschlands älteste Seemannsmission ist für einige Matrosen zum letzten Ankerplatz geworden

Von Dieter Sell (epd)

Bremen (epd). Ein Tisch, ein Schrank, ein Bett. In der Ecke ein kleines Becken, das gerade für eine Katzenwäsche reicht. Es sind nur wenige Quadratmeter, auf denen Ram Sagar im Bremer Seemannsheim lebt. Das Zimmer in der ersten Etage mit dem wasserblauen Linoleum im Flur ist nicht größer als die Koje auf dem Schiff, auf dem der Inder zuletzt gefahren ist. Jetzt kann er nicht mehr. Sein Herz spielt nicht mehr mit. Das Bremer Seemannsheim ist für ihn zum letzten Ankerplatz geworden.

Sagar war dem Tod nahe: Herzinfarkt, Schlaganfall. "Wir haben hier alle einen tüchtigen Schrecken bekommen", erinnert sich Seemannspastorin Jutta Bartling, die sich um den 58-jährigen Elektriker und Schiffskoch kümmert. Der Mann aus dem indischen Bundesstaat Uttar Pradesh ist einer von zehn "Salzbuckeln" im Haus. Seeleute, die auf den Weltmeeren unterwegs waren und hier im Heim der ältesten Seemannsmission Deutschlands gestrandet sind.

Vor mehr als 150 Jahren wurde die Mission von einem frommen Reeder als sittenstrenger Unterschlupf für Matrosen und Schiffsjungen gegründet. Noch heute ist das Haus Drehscheibe für Matrosen, die auf einen neuen Job warten, auf ein anderes Schiff umsteigen oder von hier aus in die Heimat fliegen. Doch mittlerweile übernachten auch Städtereisende und Fahrradtouristen in dem Klinkerbau nahe den Häfen. Denn die Seemannsmission ist auf eigene Einnahmen angewiesen, seitdem die kirchlichen Zuschüsse zurückgehen.

Als Ram Sagar vor vielen Jahren an Bord ging, war er erst mal seekrank. "Ich habe überall gekotzt", erinnert er sich. Doch irgendwie musste er Geld verdienen für die große Familie daheim in Asawar, einem kleinen Dorf im Distrikt Ghazipur. So machte er weiter. Die Übelkeit ließ nach. Sagar fuhr über den Atlantik, im Mittelmeer, in der Nordsee. Doch als er krank wurde, musste er in Deutschland bleiben. In Indien ist er nicht krankenversichert. "Ich bin krank vor Heimweh", sagt er. "Aber was soll ich machen?"

Das Haus ist für ihn kein Altenheim, aber auch kein Hotel. Poller vor der Eingangstür, ein Anker im Garten und Schiffsmodelle im Club erinnern ein wenig an die Seefahrerromantik vergangener Zeiten. "Willkommen" steht mehrsprachig im frisch getünchten Foyer. Außer in Bremen gibt es in Deutschland nur noch das Seemannsheim Hamburg-Krayenkamp, in dem eine größere Zahl Seeleute auf Dauer lebt. Einzelne wohnen in Bremerhaven, in Emden und im Binnenschifferhaus in Duisburg. Meist aus den gleichen Gründen: Weil sie krank sind, weil sie keine Familie haben, weil sie in Deutschland Rente bekommen.

Ähnlich ist es auch bei Franco Parpaiola. Der 72-Jährige aus dem Nordosten Italiens wohnt seit sechs Jahren gegenüber von Ram Sagar. Man redet nicht viel miteinander. Dafür schreibt Parpaiola umso mehr. Als Maschinist war er auf Handelsschiffen unterwegs. Wie andere hier auf der Etage spürt er Sehnsucht nach dem Meer. Der Mann aus dem Friaul wäre gerne noch an Bord.

Nun sitzt er auf dem Trockenen, surft nächtelang durch das Internet und hackt streckenweise nicht jugendfreie Geschichten in seinen Computer: Von roststarrenden Seelenverkäufern, Waffenschiebereien auf dem Meer, Hungerlöhnen und besoffenen Seeleuten, die in jedem Hafen ein Mädchen haben. Harter Tobak. Einige seiner Texte werden in der Stadt als "Seemannsgarn" in Zündholzschachteln zugunsten der Bremer Seemannsmission verkauft.

Tausende Seeleute kommen jedes Jahr in den Club im Erdgeschoss des Seemannsheimes - für einen Landgang, für eine Ruhepause von den ewig vibrierenden Wänden an Bord. Um übers Internet mit der Familie daheim zu chatten. Aber sie bleiben immer nur kurz. Wenn sie einkehren, ist das für Franco Parpaiola eine Chance, im Kontakt mit seiner Vergangenheit zu bleiben. "Ich brauche die Atmosphäre, nahe an der Seefahrt zu sein."

Eigentlich wolle er irgendwann ausziehen. "Aber wo soll man mit 72 noch hin?", fragt Parpaiola. Die Heimmitarbeiter, die Ehrenamtlichen der Seemannsmission und die Kurzzeitgäste von den Schiffen: Für Seeleute wie ihn bilden sie ein Stück Heimat in der Fremde. Auch wenn er im Internet wehmütig bloggt: "Meine Wahlheimat ist das Meer, mein Zuhause sind die Schiffe, auf denen ich fahre."

28. Juli 2011


Das Stichwort: Deutsche Seemannsmission

Bremen (epd). Die evangelische Deutsche Seemannsmission mit ihrer internationalen Zentrale in Bremen gehört zu den ältesten Zweigen berufsbezogener Arbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Auf Schiffen, in Seemannsklubs und in Seemannsheimen leistet die Organisation auf mehreren Kontinenten Seelsorge und Sozialarbeit an Seeleuten aus aller Welt - unabhängig von Herkunft und Religion.

Ihre Wurzeln hat sie im "Centralausschuss für die Innere Mission", der 1849 gegründet wurde. Mit Freizeitangeboten außerhalb der Bordroutine wollen ihre Mitarbeiter bis heute der Vereinsamung und Entfremdung einzelner Seeleute in den zunehmend multinationalen Besatzungen auf den Schiffen entgegenwirken. Sie arbeiten eng mit anderen Institutionen und Organisationen wie der Internationalen Transportarbeiter-Gewerkschaft ITF zusammen.

Gemeinsam setzen sie sich dafür ein, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse an Bord zu verbessern. Dafür unterhält die Deutsche Seemannsmission im Ausland ein Netz von 17 Stationen, beispielsweise in Antwerpen, Valparaiso (Chile) oder Lomé (Togo). In Deutschland gibt es 16 Standorte, die von eigenständigen Inlandsvereinen getragen werden. Unter ihnen sind Bremen, Hamburg, Bremerhaven, Cuxhaven und Emden. Insgesamt begleiten mehr als 700 Haupt- und Ehrenamtliche die Menschen an Bord und in den Häfen.

Besonderes Gewicht legt das Hilfswerk seit einiger Zeit auf die psychosoziale Unterstützung von Piratenopfern. Die Arbeit wird aus Kirchensteuermitteln, Spenden, freiwilligen Schiffsabgaben der Reeder und Gewerkschaftsgeldern finanziert. In diesem Jahr feiert die Deutsche Seemannsmission ihr 125-jähriges Bestehen. Dazu ist am 16. Oktober ein Fernsehgottesdienst in der Großen Kirche Bremerhaven geplant, den das ZDF überträgt.

28. Juli 2011